Krähen über Königsberg (eBook)
426 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-28451-0 (ISBN)
Lese- und Medienproben
Ein hoch spannender historischer Kriminalroman im Königsberg der Goldenen Zwanziger.
Königsberg 1924: In einer Kaserne wird ein junger Soldat erschlagen aufgefunden. Das Brisante: Das Waffenlager, das der Gefreite bewachte, wurde komplett ausgeräumt. Der jüdische Kommissar Aaron Singer und sein Kollege Heinrich Puschkat, preußisches Urgestein, stehen unter großem Druck. Soziale und politische Spannungen drohen Ostpreußen zu zerreißen. Planen die Nationalisten mit dem Diebesgut einen Putsch? Um eine Katastrophe zu verhindern, verfolgen Singer und Puschkat die Spur inkognito bis in ein Seebad an der ostpreußischen Nehrung. Dort stoßen sie auf eine heimtückische Intrige ...
Hoch spannend, fesselnd, atmosphärisch - der zweite Fall für Kommissar Aaron Singer!
Ralf Thiesen, Jahrgang 1964, lebt mit seiner Familie im Bergischen Land und arbeitet bei einem großen Standortdienstleister. Seit über dreißig Jahren gilt seine Leidenschaft der Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Weimarer Republik, und der Kriminalliteratur. Der historische Kriminalroman 'Die Toten von Königsberg' ist sein Debüt und steht auf der Shortlist für den 'Harzer Hammer' 2024.
3
Memel, 14. Januar 1923
Jean Gabriel Petisné konnte bereits auf eine beachtliche Karriere im französischen Staatsdienst zurückblicken. Mit seinen vierzig Jahren war er der jüngste Präfekt der dritten Republik. Seit fast drei Jahren war er auf Geheiß des Völkerbundes Hochkommissar des Territoire de Memel. Er hatte sich geehrt gefühlt, als Staatspräsident Raymond Poincaré ihm dieses wichtige Amt anvertraut hatte. Mit achthundert Soldaten war er Mitte Februar 1920 in Memel eingetroffen, um einen schmalen, rund hundertvierzig Kilometer langen und maximal zwanzig Kilometer breiten Landstreifen nördlich des gleichnamigen Flusses vom Deutschen Reich zu übernehmen, und hatte sich mit Verve an die Arbeit gemacht. Mit diplomatischem Geschick und der ihm eigenen Hartnäckigkeit war es ihm gelungen, das Vertrauen der dortigen Honoratioren zu gewinnen. In Paris hatte er seitdem schon das ein oder andere Mal für Irritationen und Verärgerung gesorgt, indem er memelländische Interessen über die französischen gestellt hatte. Manch einer der Beamten in der Hauptstadt bezeichnete Petisné spöttisch als den »König von Memel«. Sein beherzter Einsatz und sein ehrliches Interesse an allen Plänen, die eine Verbesserung des Gemeinwohls zum Ziel hatten, hatte schließlich auch die überwiegend deutschstämmige Kaufmannschaft überzeugt. Immerhin erlebte die Stadt Memel als Freihafen einen deutlichen Aufschwung.
Doch der Schein trog. Auch wenn es zwischen deutschen und litauischen Memelländern weitgehend friedlich blieb, nahmen seit einigen Monaten die Spannungen merklich zu. Zuletzt hatte der französische Botschafter in Kaunas Jean Petisné bei einem informellen Besuch in Memel gewarnt: Die Litauer würden eine Annexion des Memelgebiets vorbereiten. Er konnte und wollte das nicht glauben. Als junger Staat sah sich Litauen seit der Unabhängigkeitserklärung von Polen und der Sowjetunion massiv unter Druck gesetzt. Im ebenfalls wiederentstandenen Polen gab es eine größer werdende Bewegung, die sich für ein wiedervereinigtes Polen-Litauen, wie es von 1569 bis 1795 bestanden hatte, einsetzte. Frankreich umwarb Polen als potenziellen Bündnispartner im Rücken des alten Erbfeindes Deutschland. Polen wiederum zeigte unverhohlenes Interesse am Memelgebiet. Während also hinter den Kulissen beim Völkerbund kräftig antichambriert wurde, saß Petisné in Memel und war de facto zur Untätigkeit verdammt.
Erschwerend kam hinzu, dass man das militärische Kontingent mittlerweile auf zweihundert Mann reduziert hatte. Auch die Zivilverwaltung bestand zu Jahresbeginn nur noch aus acht Beamten. Die neue Garnison war erst im November aus den Seealpen hierher verlegt worden.
In der Stadt ging indes alles seinen gewohnten, winterlichen Gang. Nach den Weihnachtsferien kehrte der Alltag langsam zurück. Gaststätten, Gewerbe und Geschäfte hatten wieder geöffnet. Und morgen, am Montag, würde an den Schulen auch wieder der Unterricht beginnen. Am Freitag hatte er noch einmal nach Paris kabeln lassen und um eine aktuelle Einschätzung der Lage gebeten. Doch Paris hüllte sich in Schweigen.
Petisné stand am Fenster seines im französischen Empire-Stil gehaltenen Arbeitszimmers und sah hinunter auf die verschneite Luisenstraße vor dem Rathaus, in dem sich seine Dienstwohnung befand. Auf der Dange trieben Eisschollen träge dahin. Es hatte auch wieder zu schneien begonnen. Die Standuhr schlug zehn. Er seufzte. Wahrscheinlich machte er sich zu viele Gedanken. Immerhin repräsentierte er nicht nur die Französische Republik, sondern den Völkerbund. Mit einem Angriff auf das Territoire de Memel würde das kleine Litauen die internationale Staatengemeinschaft brüskieren.
»Ach, hier bist du. Ich habe dich schon vermisst.«
Petisné fuhr herum. Odette, seine Frau, stand in der Tür. Er machte eine verlegene Geste, die so viel bedeutete wie: erwischt.
»Du arbeitest zu viel, mein Lieber.«
»Ich weiß, mein Herz. Ich hatte gehofft, es gibt endlich Nachricht aus Paris.«
»Keine Nachricht ist bestimmt eine gute Nachricht«, erwiderte sie.
Petisné betrachtete seine Frau. Sie war eine klassische Schönheit. Fünf Jahre jünger als er. Wie er stammte sie aus Bordeaux. Sie hatten sich kurz vor dem Krieg in Biarritz kennengelernt. Seit sieben Jahren waren sie verheiratet. Das verflixte siebte Jahr, schoss es ihm durch den Kopf. Petisné wusste, dass es seiner Frau zunehmend schwerer fiel, hier in dieser Kleinstadt am Ende der Welt nicht zu verzweifeln. Das Land war ihr fremd geblieben. Allein die Ortsnamen auszusprechen, war für einen Franzosen fast unmöglich – Schwentwokarren, Coadjuthen, Szameitkehmen … Odette konnte kein Deutsch, geschweige denn Litauisch und war darauf angewiesen, dass sie auf jemanden traf, der noch des Französischen mächtig war. So blieben ihre sozialen Kontakte auf die Damen der Offiziere und einige wenige gebildete Damen der Memeler Bürgerschaft beschränkt. Sie machte keinen Hehl aus der Tatsache, dass sie auf eine baldige Demission und die damit verbundene Rückkehr nach Frankreich hoffte.
»Bestimmt hast du recht. Lass uns in den Salon gehen. Ich könnte noch einen Digestif vertragen. Es ist so furchtbar kalt hier.«
In diesem Moment war draußen ein lauter Knall zu hören. Dann folgten weitere. Petisné erstarrte. Seine Frau sah ihn erschrocken an.
Es hatte begonnen.
Nicht weit vom Dienstsitz des Hochkommissars entfernt in der Libauer Straße lag die Gaststätte »Zum Franzl«. Am späten Sonntagabend saßen nur ein paar Stammgäste und eine Gruppe junger Männer vor ihren Bierkrügen. Gorny, der Wirt, warf den Jungs einen ernsten Blick zu, während er leere Gläser und Krüge polierte. In der Ecke der Gaststube bullerte der prachtvolle Kachelofen. Albin Taundler, Student der Agrarwissenschaft an der Albertus-Universität zu Königsberg, sah auf die Uhr und dann in die Runde.
»Leute, ich mach mich auf den Heimweg. Muss morgen früh raus.«
»Dass ich nicht lache«, schnaubte Bruweleit. »Da wärst du ja der erste Student, der früh aufsteht.«
Schindler und Grenda lachten und hoben die Krüge, während Taundler sich den Mantel überzog und den Schal umwickelte. Die Kameraden hatten gut reden. Alle gingen hier am Ort in die Lehre, während er am nächsten Morgen wieder zurück an die Albertina musste. Die Weihnachtsferien waren leider vorbei. Nun hieß es wieder, beim ollen Mitscherlich Pflanzenlehre und Bodenkunde zu pauken. Im Hinausgehen legte er Gorny das Geld für seine Zeche auf den Tresen.
Draußen war es frostig. Ein eisiger Wind schlug ihm ins Gesicht. Der Schnee fiel wieder in dichten Flocken. Albin brauchte einige Anläufe, bis er sein Motorrad in Gang hatte. Er setzte die Brille auf und fuhr leicht schlingernd auf der glatten Schneedecke die Libauer Straße entlang Richtung Norden. Kurz vor dem Hauptbahnhof trat plötzlich ein französischer Soldat direkt vor ihm auf die Fahrbahn. Albin hatte Mühe, den Mann nicht zu überfahren. Er bremste reflexartig, das Hinterrad rutschte weg, und er konnte den Sturz nur mit großer Not vermeiden. Der Soldat trug eine Pelerine als Schutz gegen den Schnee und hatte das Gewehr mit dem Lauf nach unten über der Schulter hängen. Sein Kamerad stand einige Schritte entfernt und hatte die Szene mit seinem Gewehr griffbereit im Blick. Beide schienen kaum älter als Taundler.
»Halte! Vos papiers, s’il vous plaît!«
Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Jetzt filzten ihn die Froschfresser auch noch! Der Soldat machte eine fordernde Geste. Albin zog die Handschuhe von den klammen Fingern.
Ein Schupo kam fluchend um die Ecke gelaufen.
Der zweite Franzose lachte. »Allez, dépêche-toi, Erwin.«
»Immer mit der Ruhe, Jungche. Man wird ja wohl mal pissen dürfen.« Und an Albin gewandt: »Keine Sorge, der will nur Ihre Papiere sehen, junger Mann.«
Albin verdrehte die Augen. Was sollte das Theater? Er würde Ärger bekommen, wenn er bis elf nicht zu Hause war, und bis Tauerlaucken hatte er noch gut und gerne neun Kilometer vor sich. Er reichte dem Franzosen das Schriftstück. Der Schupo schaute seinem Kollegen über die Schulter, um den Vorgang zu beschleunigen.
»Äh, pappjeh bjeng, oui?«
In diesem Moment fiel ein Schuss. Albin fuhr zusammen. Die Soldaten rissen die Karabiner hoch. Am Bahnhofsgarten tauchte ein Trupp bewaffneter Männer auf. Der zweite Franzose feuerte. Die Männer erwiderten das Feuer und kamen näher.
»Los, verschwinde!«, schrie der Schupo.
Hektisch startete Albin die Brennabor und schlingerte im Kugelhagel über die Kreuzung. Als er sich umsah, lag ein Angreifer blutend im Schnee. Albin hörte noch Kommandos auf Litauisch, dann hatte er sich vom Ort des Geschehens entfernt und konzentrierte sich auf die Straße. Er holperte heftig über die Bahngleise und befand sich kurz darauf auf der Nimmersatter Chaussee. In seinem Rücken peitschten weitere Schüsse.
Im Kaminzimmer auf Gut Tauerlaucken erhob sich Hermann Warthun schwerfällig aus dem Ohrensessel. »Vielen Dank für den vorzüglichen Portwein, mein lieber Ernst. Es war wieder einmal ein denkwürdiger Abend in deinem Hause.«
Dr. Ernst Taundler schnaubte und winkte ab. »Lass gut sein, Hermann. Alles in allem war es einmal mehr eine Enttäuschung.«
Warthun breitete die Arme aus. »Du darfst ihnen ihren Standpunkt nicht verübeln, Ernst. Wir stehen rein ökonomisch gesehen besser da als vor dem Krieg. Das Freihafenstatut für das Memelgebiet hat immerhin dafür gesorgt, dass wir gegenüber den Gütern in Ostpreußen wirtschaftlich mithalten können. Dazu kommt...
| Erscheint lt. Verlag | 18.12.2024 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Ein Fall für Aaron Singer |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
| Schlagworte | 2024 • eBooks • Goldene Zwanziger • Historische Kriminalromane • historisch korrekt • Judentum • Kommissar • Königsberg • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinung • Serien • spannend • Verschwörung • Volker Kutscher • Weimarer Republik • zweiter Fall |
| ISBN-10 | 3-641-28451-1 / 3641284511 |
| ISBN-13 | 978-3-641-28451-0 / 9783641284510 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich