BILLIE »Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden« (eBook)
466 Seiten
C.Bertelsmann Verlag
978-3-641-31829-1 (ISBN)
'Alles war in mir, die Angst, die Wut, der glühende Wunsch zu kämpfen. Nicht mit Säbeln und Pistolen, aber mit meiner Stimme, die ich lernte wie ein Schwert zu führen, und wie ein Herz, das nicht erkaltete im Winter des Krieges ...' Es herrscht Krieg in Pommern. Im Haus des Bürgermeisters Schwarz in Greifswald nisten sich Wallensteins Männer ein, nichts ist vor ihnen sicher, schon gar nicht die drei heranwachsenden Töchter. Billie, die Jüngste, die aufbegehrt, die Bildung einfordert wie ihre Brüder, Billie, die Ungezügelte, die Rebellin: Sie kämpft mit der Feder, schreibt Gedichte gegen den Hass, der ihr als Frau entgegenschlägt, aber auch wundervolle Sonette über ihre Liebe zu einer Frau. Die Poesie ist ihr Weg, sich dem Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, der Perfidie der Hexenverfolgung und der Unterdrückung der Frauen entgegenzustellen.
Eine unangepasste Frau im 17. Jahrhundert: Das kurze Leben der Barockdichterin Sybilla Schwarz, genannt: Billie. Ein Roman mit Kultpotenzial, auch für die junge Zielgruppe!
Stefan Cordes wurde 1969 in Brüssel geboren, studierte Publizistik, Kunstgeschichte und Philosophie und hat viele Jahre als Formatentwickler, Creative Director und Produzent für das Fernsehen gearbeitet. Er hat drei Kinder und lebt in Köln. BILLIE ist sein erster Roman.
1
Wir hatten ein ruhiges Leben geführt. Die Jahreszeiten hatten einander abgelöst, wir waren gewachsen, waren älter geworden, ohne es zu bemerken. Ich war kein Kind mehr, sonst hatte sich nicht viel geändert. Ich hatte mir das Lesen beigebracht, liebte es, durch die Bibliothek zu streifen, die Buchrücken mit den Fingerspitzen zu berühren. Ich suchte mir ein Buch im Regal, stellte mir vor, wovon es handeln mochte, dachte mir Geschichten aus über Königinnen und Ritter, Liebe und Verrat, bis ich das Buch herauszog, es aufschlug, manchmal war es bloß ein ödes Werk über die Juristerei, manchmal aber auch das: Es wuchs im Burgundenland eine Prinzessin auf, so schön, dass es auf der ganzen Welt nichts Schöneres geben konnte, Kriemhild war ihr Name. Keinen Mann wollte sie zum Gemahl, weil die Liebe doch so viel Leid bringt, bis Siegfried um sie warb, dieser hochmütige Held, Siegfried, der Brünhild um ihre Macht gebracht hatte, die stolze Königin des Eislandes, die mit magischen Kräften über die weiße Kälte geherrscht hatte, bis er gekommen war, Siegfried, der so reich besungene Lump.
Ich lernte, Latein zu lesen, mein Bruder Christian riet mir dazu, half mir, so entdeckte ich die Heldenepen Homers, die Oden Horaz’, den klugen Vergil und natürlich Ovid, immer wieder Ovids Bücher der Verwandlungen. Sehnsüchtig wartete ich darauf, mich selbst zu verwandeln, ohne sagen zu können, in was. So gerne hätte ich geschrieben wie Ovid, doch was ich wusste, wusste ich aus Büchern, was ich erlebte, waren keine Heldentaten, keine Abenteuer, ein Gott ließ sich in unserer Küche nicht blicken, nicht mal ein Halbgott. Ich schnippelte Bohnen, verdrückte mich in die Bibliothek, wenn niemand nach mir schaute. Die Stunden zogen vorbei wie Wolken, Tage zogen vorbei wie Schiffe am Horizont. Ein Fohlen wurde geboren, Gänse wurden geschlachtet, Rüben gab es im Überfluss, Rüben wurden knapp, Möhren waren nicht zu bekommen, ein Pferd lahmte, eine Nachbarin starb. Regina würde eines Tages heiraten, Emerentia eines Tages nach ihr, zuletzt ich, eines Tages würde auch ich heiraten, erst dann, behauptete Emerentia, werde sich unser Leben ändern, weil wir in ein anderes Haus zögen, die Frau eines Mannes würden, Kinder bekämen, alles so unvorstellbar, wie dass mir ein Bart wachsen mochte. Die Dinge veränderten sich so langsam, dass ich es kaum bemerkte, nie dachte ich zurück, nach vorne nur, wenn jemand sagte: Wenn du selbst Mutter bist, wirst du es besser verstehen, Billie, wenn du deine Haare nicht mit hundert Strichen am Tag kämmst, wird kein Mann dir nachschauen, und ich stellte mir vor, wie ich mit verknotetem Haar durch die Straßen von Greifswald lief und erwachsene Männer die Nase rümpften, doch es brachte mich bloß zum Lachen, nicht zum Kämmen.
So waren die Jahre dahingegangen, gemächlich wie eine sehr alte Frau. Nie hätte ich vermutet, die Welt könnte schneller sein, so viele Dinge könnten zugleich geschehen, dass es mir den Atem nehmen würde. Doch so geschah es an jenem Tag, als ich vom Donnern der Kanonen erwachte.
Alles flog in Stücke.
2
Im November 1618, drei Jahre vor meiner Geburt, war ein gewaltiger Komet am Himmel erschienen. Mit seinem glühenden Schweif fraß er sich lautlos durch den sternenklaren Nachthimmel, und die Menschen in Pommern traten vor ihre Häuser und sahen entsetzt hinauf.
Manche bekreuzigten sich, andere wandten verängstigt den Blick ab, und ein Junge aus dem Dorf Dargelin, so stellte ich es mir viele Jahre später vor, trat mit nackten Füßen aus einem kleinen Haus, erstarrte beim Anblick des leuchtenden Drachen und vergaß die beißende Kälte der Nacht.
»Was bedeutet das?«, fragte er seine Mutter, die hinter ihn getreten war.
Er hörte die Angst in ihrer Stimme, eine Angst, die größer war als die Furcht vor dem Hunger, das Erschrecken vor dem Donner, eine Angst, die sich über sie legte wie ein großes Tier, und sie schien still zu werden wie der Schnee auf den kahlen Feldern vor den Hütten Dargelins: »Gott wird uns strafen.«
Ein Mädchen trat hinter ihnen aus dem Haus, schwankte verschlafen, fünf Jahre alt mochte sie gewesen sein, nicht älter, so stellte ich es mir vor, und dass sie Anna gerufen wurde. Weil sie schon so tief geschlafen hatte, bemerkte sie die Angst nicht, die wie ein schwerer Nebel über den Häusern von Dargelin hing, sie drückte sich gegen den Hüftknochen ihrer Mutter, fragte gähnend: »Wofür strafen?«, und erst als die Mutter ihre eiskalte Hand über Annas müde Augen legte, wurde das Mädchen von der Angst so schlimm erschreckt, dass die Luft in ihrem Hals gefror.
Der Komet loderte hell wie eine Fackel, so hell, dass man ihn selbst bei Tage sah: Etwas Großes und Böses lag in der Luft!
Dieser Komet, so sagte man, kündige Blut und Entsetzen an, einen schrecklichen Krieg. Und es kam ein Krieg. Ein Krieg, so groß und blutig, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Ein Krieg, so erbarmungslos, als habe die Hölle ihren gierigen Schlund aufgerissen, um uns zu verschlingen. Ich träumte von blutrünstigen Kürassieren, die in den Rauchschwaden der Kanonenschüsse stumm gegen seelenlose Pikeniere kämpften, ihre Bewegungen so langsam, dass ihre Münder sich wie die Blüten der Nachtkerzen zu lautlosen Schreien öffneten. Ich sah rauchende Pistolen, die Kugeln in die Schädel junger Soldaten spuckten, glühende Spieße, die in die Leiber wütender Kämpfer, dampfender Rösser gestoßen wurden. Ich träumte von Reitern, die in ihren scheppernden Rüstungen zu Boden stürzten, um für immer im Dreck einzuschlafen, weit weg von ihren Müttern, ihren Schwestern. Doch hören konnte ich das Scheppern nicht, ich spürte es, weil ich zitterte, zitternd erwachte, und es dauerte, bis ich endlich bemerkte, dass es ein Traum war, denn ich lag in meiner Dachkammer im Bett.
Dass es kein Traum war, erfuhr ich erst später: Von Süden drängte ein riesiges Heer heran, um uns zu unterwerfen.
Ich drückte das Fenster auf, und während die Morgenluft mich kalt umhüllte, entdeckte ich jenseits der Dächer der Bürgerhäuser von Greifswald schwarzen Rauch am Himmel. Der Wind trug Schreckensrufe an mein Fenster, dumpfes Donnern.
Am Horizont, so stellte ich mir später vor, erschien ein leuchtend rotbraunes Pferd, trat aus dem Nebel auf den frostharten Hügel vor dem Dorf Dargelin, und der Mann, der das Pferd ritt, in Rüstung, aber ohne Helm, trug den Namen Bernstein. Oberst Vratislav Bernstein. Die Kälte verwandelte seinen Atem in weißen Dampf, eine riesige Wolke war der Atem seines schnaubenden Pferdes. Und hinter ihm, den grauen Nebel wie ein riesiges Totenschiff durchschneidend, das schwarze Heer der Unterwelt, bebende Reiter, hungrige Fußsoldaten, aus deren Mäulern Feuer schlug und Schwefel, und sie alle gierten nach unserem Fleisch und unserem Blut.
3
Ich hatte den Rauch gesehen, das Donnern gehört und wieder vergessen, hatte keine Ahnung von dem, was in Dargelin geschah, nicht weit weg von unserem Haus in Greifswald. Ich lief die Treppen hinunter in die Küche, wo Els mit dem Hackbeil ein gerupftes Huhn in Stücke schlug und Ide Zwiebeln schnitt, Tränen rannen über ihre Wangen.
Ich mopste einen Apfel, aber Els, unsere alte Köchin, rief: »Das hab ich gesehen, Billie!«
»Nichts hast du gesehen, Els!«, rief ich. »Weinst du aus Liebeskummer, Ide?«
Doch Ide war fröhlich wie immer, nie habe ich sie anders erlebt. Wie ich sie bewunderte, ihre weizengelben Haare, meine waren braun wie alte Haselnüsse.
»Ein Mann bringt mich ganz bestimmt nicht zum Weinen«, rief Ide lachend und weinend, »das schaffen nur die Zwiebeln.«
Ich biss in den Apfel, er war saftig und süß, lief aus der Küche, wo Koks mir den Weg versperrte, unser Hund, der so schwarz war wie die mondlose Nacht, so schwarz und schön wie ein schönes Pferd. Aus der Halle drangen die erregten Stimmen meines Vaters und meiner großen Brüder Christian und Joachim zu mir.
»Wie konnte uns unser Herzog an die Katholiken verraten?«, rief Joachim.
»Wir haben weder genug Geld noch Soldaten, um uns Wallenstein entgegenzustellen«, sagte mein Vater. »Er führt ein riesiges Heer von vierzigtausend Mann nach Pommern!«
Plötzlich war der Rauch am Morgenhimmel wieder da, das Donnern grollte in meinen Ohren, ich stellte mir ein riesiges Heer vor, vierzigtausend Mann! Wie viele Menschen lebten in Greifswald, fünftausend, sechstausend?
»Unser Herzog hat den Katholiken erlaubt, unsere Stadt zu besetzen!«, rief Joachim. »Wie konnte er uns das antun? Wir sind Protestanten!«
»Du musst mich bestimmt nicht an meinen Glauben erinnern«, sagte mein Vater. »Unser Herzog hatte keine Wahl!«
Ich versuchte mir unseren Herzog vorzustellen, mir fiel sein Name nicht ein, wie er sich ganz allein diesem riesigen Heer entgegenstellte, klein, dick, mit erhobener Hand, um die Soldaten aufzuhalten.
»In Stralsund widersetzen sich die Menschen seiner Anordnung«, sagte Joachim.
Bogislaw, da fiel es mir wieder ein, er meinte unseren Herzog Bogislaw den Vierzehnten, das war sein Name, von den dreizehn anderen Bogislaws hatte ich nie was gehört.
Unser Vater lief die Stufen herab, rief: »In Stralsund stehen schwedische Truppen zu ihrer Unterstützung. Hier nicht!«
»Rufen wir die Schweden!«, rief Joachim. »Sie sind Protestanten wie wir! Sie werden uns vor den Katholiken schützen!«
»Vater«, sagte ich. »Im Süden habe ich Rauch gesehen!«
Er ging an mir vorbei. Christian folgte ihm.
»Reite nach Süden, Christian«, befahl mein Vater, »schau, ob sie Dargelin schon erreicht haben, denn dann werden sie morgen hier...
| Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | 2024 • billie • Biographischer Roman • Booktok • Coming of Age • Dreißigjähriger Krieg • eBooks • Emanzipation • female empowerment • Feministisch • Freiheitskampf • gesang wider den neid • Gleichberechtigung • Greifswald • Hexenverfolgung • Historische Romane • Historischer Roman • Homosexualität • Krieg • Kultbuch • leben einer dichterin • LGBTQAI+ • Neuerscheinung • Poesie • Pommern • queer Bücher • Rebellin • Sybilla Schwarz • TikTok • Unterdrückung der Frau • woke |
| ISBN-10 | 3-641-31829-7 / 3641318297 |
| ISBN-13 | 978-3-641-31829-1 / 9783641318291 |
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