Tagebuch (eBook)
78 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-8571-6 (ISBN)
geb. 22.11.1918, gestorben 6.02.2006, Vater: Heinrich Keller, Jurist, gestorben 1918, vor der Geburt seiner Tochter Mutter: Maria Rodenhauser (geb. Sippel, verw. Keller), verstorben 1962, Trägerin des Verdienstkreuzes am Band des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1961) Maria Keller, geb. Sippel heiratete 1916 den Juristen Heinrich Keller. 1917 kam Günter Keller und am 22.11.1918 Hildegard Keller zur Welt. Nachdem ihr Mann an einer schweren Grippe gestorben war, zog Maria Keller von Berlin mit ihren 2 Kindern zurück in ihr Elternhaus. Dort gründete sie mit ihrem Vater ein Kindererholungsheim. Sie lernte den verwitweten Superintendenten der evang.-reformierten Kirche, Hans Rodenhauser kennen und heiratete ihn 1927. Mit ihren Kindern aus erster Ehe zog sie zu ihrem Mann und dessen 3 Töchter aus erster Ehe nach Aurich, Ostfriesland. Nach Abschluss der Schule in Aurich bildete sich Hildegard Keller in Minden zur Heilgymnastin (heute Physiotherapeutin) aus. Als ausgebildete Heilgymnastin nahm sie eine Anstellung im Spital von Hohenlychen an. Dort lernte sie ihren späteren Mann, Hans Meyer, einen Arzt aus der Schweiz kennen. Er war dort, um sich beim bekannten Chirurgen, Graf Ferdinand Sauerbruch, zum Facharzt in Chirurgie ausbilden zu lassen. Als Hans Meyer zum Militärdienst in die Schweiz zurückmusste, wollte er seine Verlobte Hildegard Keller heiraten und mit in die Schweiz nehmen. Sie wollte nicht so überstürzt heiraten, woraufhin er seine Verlobte in der schweizer Botschaft in Berlin bekannt machte und bat, dass man ihr im Notfall dort Beistand leisten würde. Hans reiste in die Schweiz und Hildegard blieb in Hohenlychen. Als gegen Ende des Krieges alles zusammenbrach, machte Hildegard Gebrauch von der Hilfe der Schweizer Botschaft und ihre abenteuerliche Reise, die sie in diesem Tagebuch schildert, beginnt. Nach dem 2. Weltkrieg, ging sie in die Schweiz, wo sie ihren Verlobten Hans Meyer heiratete. Kurz nach der Heirat ging das Ehepaar zuerst nach Äthiopien und nach einer kurzen Rückkehr nach Zürich, CH ging es weiter nach Tansania, wo sie zusammen mit ihrem Mann an der Leitung von Spitälern mitarbeitete. 1950 kam ihr erstes Kind, Beatrice, in Tansania zur Welt. Sie wollte ihre Kinder in der Schweiz aufwachsen lassen, deswegen kehrte sie 1951 nach Zürich zurück, wo 1952 ihr zweites Kind, Dieter, zur Welt kam. In Zürich, Höngg, unterstützte sie ihren Mann in seiner Praxis für Allgemeinmedizin und Tropenmedizin bis zu ihrem Tod in 2006.
1
TAGEBUCH
Hohenlychen
März 1945
Die Russen kommen näher und näher, fast stündlich treffen neue Flüchtlinge ein, jetzt schon aus dem Umkreis von nur 100 Kilometern. Verhetzte, müde, erschöpfte Menschen. Ein nicht enden wollender Zug von Wagen, auf denen die letzte Habe hoch aufgestapelt ist, gezogen von überanstrengten Pferden. Kann eines nicht weiter, verpasst es den Anschluss der unaufhaltsamen, nach Westen fahrenden, eigentlich ziellosen Kolonne, beleibt es auf dem Wege liegen und ist seinem eigenen Schicksal auf Gedeih und Verderb überlassen.
Ich fahre mit Herrn Tuor, Attache der schweiz. Schutzmachtabtl., der mich noch einmal von Berlin aus besucht, nach Templin. Rechts und links der Landstraße hat man große Teile des herrlichen Waldes geholzt und die riesigen Stämme als Panzersperre kreuz und quer über die Wege gelegt. In Templin klingt das dumpfe Rollen der Kanonen tatsächlich näher. Herr T. ist stolz, weil er der Front 20 km. entgegengefahren ist. Es ist dies sein letzter Besuch in H, in wenigen Tagen geht seine Abteilung in die Schweiz zurück.
Auch unser Lazarett wird möglichst geräumt. Nachts fahren in Eile zusammengestellte Krankentransporte gen Westen. Trotzdem Gebhardt immer noch nicht an ein Verlieren glaubt, es außerdem meisterhaft versteht, seine Umgebung in Ruhe und Sicherheit zu wiegen, rechnet er doch mit der Möglichkeit, dass sein Lebenswerk H. in russ. Hand fallen kann. (Die Kanonen und Flieger neben und über uns müssen selbst dem größten Optimisten die Hoffnung nehmen.)
Da die Nachbehandlung jetzt illusorisch ist, bei der geringen Patientenzahl übergenug Personal vorhanden ist, wird einer nach dem anderen entlassen. Viele meiner Kolleginnen sind schon heimgefahren. Immer war es ein Abschied, bei dem man nicht wusste, ob man sich je wieder sähe.
Wir sind noch fünf Gymnastinnen, eine von uns kann noch gehen. Das Los fällt auf mich. Ich treffe mich heimlich mit Halina. Sie hat große Angst. Ihre Zukunft wird immer ungewisser. Wird man sie ins KZ zurückschicken, sie einfach verschwinden lassen oder aber evtl. auf einer Flucht mitnehmen? Es ist noch zu riskant, sie an Tage mit nach Bln. mitreisen zu lassen, ahnt doch bisher kaum einer in H., dass wir befreundet sind. Wir beschließen, dass ich allein fahre, in Bln. Dr. Graf benachrichtige und wir gemeinsam zurückkommen und sie nächtlicherweise entführen. Trotzdem fällt uns der Abschied schwer. Jeder Tag kann die Situation völlig ändern und die schönsten und kühnsten Pläne zunichtemachen.
Mit mir will Dieter Wendt (Vetter 2. Gr. aus Bln.) fahren. Er liegt seit einiger Zeit in H. mit schwerem Hüftschussdefekt und kann nur an zwei Krücken gehen. Er hilft mir, den großen, selbst genähten Rucksack fachgemäß packen. Nur das Allernötigste darf mit. Fotoalben, Bücher, Silber, Radio – alles ist viel zu schwer und es heißt, sich trennen. Einen Teil der letzten Nacht verblöde ich mit den Kolleginnen. Gegen 3 Uhr kommt Halina noch einmal hineingeschlichen; uns ist beider schwer ums Herz. Was werden die nächsten Tage bringen?
Gebhardt, von dem ich mich am nächsten Morgen verabschiede, erscheint ruhig und gefasst. Er ahnt sein grausames Schicksal nicht. Der Zug nach Bln., mit dem wir reisen wollen, fällt aus. Nach längerem Warten und Überlegen steigen wir kurz entschlossen auf einen Lastwagen, der in der Nähe des Bahnhofs hält, allerdings in Richtung Templin fährt. Wir hoffen, von dort aus eher weiterzukommen.
Die mitfahrenden Soldaten reden mich mit „Schwester“ an, weil ich einen Rk-Mantel trage. Er ist mir viel zu groß, aber für das Scheuern des Rucksackes, der mir ungefähr bis in die Kniekehle hängt, gerade recht. Trotz der ersten Apriltage scheint die Sonne brütend warm. Jedenfalls kommt es uns mit Gepäck und Mantel so vor.
In Templin gelingt es uns nach stundenlangem Bemühen, einen Lastwagen zu kapern, der uns wenigstens einige km Richtung Bln. mitnehmen will. Wir sitzen wieder, mit Landser, eng aneinander gepfercht. Gegen 1 Uhr werden wir von Tieffliegern entdeckt. Der Wagen hält an, wir werfen uns alle in den Straßengraben, scheinen aber den Schützen ein zu geringes Opfer zu sein und können nach zehn Min. unbehelligt weiterfahren.
In G. müssen wir aussteigen. Der Chauffeur hat von hier aus ein anderes Ziel. Wir erholen uns zunächst einmal in einem Gasthaus u. hören dort, dass es sehr schwierig ist, ein Auto bis Bln. zu finden. Viele Leute behaupten, Bln. sei Festung u. man käme gar nicht mehr hinein. Trotzdem wollen wir es versuchen. Von Neuem stellen wir uns an die Landstraße und finden nach langer Mühe einen Lastwagen, der uns mitnehmen will. Er ist riesig, hat zwei Anhänger, bis oben hin beladen mit Flaschen, und schleicht nur so vorwärts. Trotzdem sind wir glücklich, mitgenommen zu werden.
Es wird nun langsam dunkel. Die Flaschen drücken entsetzlich. Besonders D. Wendt mit seiner kaputten Hüfte hat unter ihnen zu leiden.
Gegen 21 Uhr kommen wir durchgeschüttelt u. müde glueckl. in Bln. an. Sirenengeheul empfängt uns. Wir sind gezwungen, in den nächstliegenden U-Bahntunnel zu gehen. Hier bietet sich uns ein schreckliches Bild. Auf alle Gesichter ist Schrecken und Furcht gemalt, jeder stößt und drückt den Nächsten rücksichtslos zur Seite. Kinder weinen, Frauen kreischen hysterisch und Männer fluchen. Jeder scheint mit seinen Nerven am Ende zu sein. Wir sitzen auf unserem Rucksack und werden schließlich bei Entwarnung in die zunächst kommende Bahn von der Menge einfach hineingeschoben. Jeder, der nicht zerquetscht oder erdrückt wird, muss froh sein. Es ist 1 Uhr geworden und beim Wittenbergplatz ist Endstation. In dieser Nacht kommen wir nicht mehr weiter. Trotzdem wollen wir noch einmal unser Glück versuchen. Dieter ist völlig erschöpft und es sieht so aus, als könne er sich an seinen Krücken kaum noch aufrechthalten. Ich schnalle mir seinen Rucksack vorne an. Schon nach fünf Min. werden die Trümmer von zwei riesigen Scheinwerfern erleuchtet. Ich renne, so gut ich kann, und es gelingt mir, den Wagen anzuhalten. Es ist ein Mercedes. Am Steuer sitz ein Major; er will uns helfen. Einige 100 m vor einem einzigen, noch aus Trümmern herausragenden Haus halten wir an. Wir warten draußen. Eine uns endlos erscheinende Stunde vergeht, ehe der Major zurückkommt. Er bietet uns für die Nacht sein Haus an. Angeblich muss er selbst noch in dieser Nacht mit seinen Leuten nach Dresden. Uns erscheint diese nächtliche Begegnung etwas mysteriös, zumal wir ein völlig nach Flucht und Abbruch aussehendes Quartier vorfinden. Verbrannte Papiere, in der Eile umgeworfene Möbelstücke, Schmutz. Jedenfalls können wir die Nacht auf Feldbetten schlafen und sind dafür dankbar.
Morgens werden wir von einer völlig erschrockenen und überraschten Putzfrau geweckt. Sie weiß nichts von dem Weggehen des Majors.
Auf überfüllten S-Bahnen gelangen wir dann schließlich nach Zehlendorf. Das Wendtsche Haus ist unversehrt, die Tanten und Ursula sind überglücklich. Dieter wieder bei sich zu haben und heißen auch mich herz. willkommen.
Die folgenden Tage laufe ich von Pontius zu Pilatus, um Lebensmittelkarten zu bekommen. Ich kann unmöglich den Verwandten die schmale Ration wegessen. Der Erfolg ist, dass man mir schließlich sagt, ich gehöre nicht nach Bln. und müsse in ein Flüchtlingslager nach Oranienburg.
Berlin ist ein Chaos. Die Nerven aller Menschen sind zerrüttet. Es gibt weder Licht noch Wasser. Die Flieger kommen zu jeder Tagesu. Nachtzeit und man kann auf die Bomben, die unaufhörlich herunterprasseln, keine Rücksicht nehmen, will man noch essen und
schlafen. Trotzdem findet sich Zeit zu manch einer hübschen, gemeinsamen Std. im Hause Wendt.
Ich versuche, Dr. Graf anzurufen. Durch einen Zufall nur erreiche ich ihn und bitte ihn zu kommen, wenn möglich, damit wir Halina abholen können. Er verspricht es für den übernächsten Tag. Ich warte vergebens. Dr. Graf wollte noch nach Hamburg, hatte unterwegs Unglück mit dem Auto und währenddessen wird Bln. eine Festung, sodass es unmöglich ist, aus der Stadt herauszukommen. Viele Teile Berlins sind von den Russen schon besetzt. Soweit es möglich ist, telefonieren Freunde und Verwandte aus den eingenommenen Vierteln und erzählen andeutungsweise von ihren ersten Erlebnissen mit dem Feind und erteilen Verwaltungsmaßnahmen. Wir haben Angst. Wendts überreden mich doch noch, zu Dr. Graf auf die andere Seite des Wannsees zu fahren. Dieter will sich trotz Verwundung zum Kampf stellen. Somit verlassen wir gemeinsam wieder das gastliche Haus. In aller Frühe am nächsten Tag nehmen wir Abschied. Auf der Zehlendorfer Landstraße finden wir wieder einmal einen mit Landsern angefüllten Lastwagen, der uns bis an dem Wannsee bringt. Dort werden wir angehalten. Jedes Fahrzeug wird beschlagnahmt, um gegen den Feind eingesetzt werden zu können. Dieter beschreibt mir den Weg zur Anlegestelle der Fähre. Er selbst...
| Erscheint lt. Verlag | 3.4.2024 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 2. Weltkrieg • Flucht • Reise • Russen • Verfolgung |
| ISBN-10 | 3-7562-8571-5 / 3756285715 |
| ISBN-13 | 978-3-7562-8571-6 / 9783756285716 |
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