Wachsflügel der Vergeltung (eBook)
106 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-4212-1 (ISBN)
Die Autorin ist Forensische Psychiaterin, Tochter bulgarischer Eltern, arbeitet und lebt in der Schweiz.
Die Autorin ist Forensische Psychiaterin, Tochter bulgarischer Eltern, arbeitet und lebt in der Schweiz.
5.
Das Haus lag südlich und Robert fuhr abseits der Küste. Vor einigen der Häuser tummelten sich Menschen, festlich gekleidet. Er fuhr an einer Schule und einer grossen Gartenanlage mit Oliven- und Palmbäumen vorbei, dann kam die Kirche, mit Fenstern und Mauern voller Taubenkot. Dahinter war der Obsthof mit den Kirschbäumen, jetzt blätterlos und kahl. Einige Katzen streuten herum und eine überquerte den Weg ganz gemächlich, sodass er anhalten musste.
Die «Via Dolorosa» war wie erwartet genau dort, wo er sie vor vielen Jahren zurückgelassen hatte. Robert ging an der Ruine des alten Fischerhauses vorbei, die seit Ewigkeiten dort leer herumstand. Wie auch damals war sie umflogen von Möwen, als nähmen sie immer noch den alten Fischgeruch wahr. Ein matschiger Streifen Erde hinter dem Haus führte zur Villa mit den Rundbogenfenstern, in der er aufgewachsen war. Sie sah ungepflegt aus, der Putz blätterte ab, auf der Terrasse stand eine Hollywoodschaukel mit kaputtem Gestell, zur Seite geneigt. Robert ging hinauf und stolperte über einen der Blumentöpfe, die im Vorgarten durcheinander auf dem Weg herumlagen.
An den wandhohen Fenstern waren schwere Gardinen angebracht, als schliefen die Bewohner des Hauses noch. Robert stieg auf die Terrasse und fasste an das feuchte Gestell der Hollywoodschaukel. Er sah sofort, dass einer der Hauptbolzen im oberen Winkel fehlte. Hätte er seinen Werkzeugkasten dabei, hätte er das Ding schnell reparieren können. Er ging ums Haus und fand den alten Schuppen, wo früher die Gartengerätschaften standen. Die Tür hing in den Angeln, die Klinke war kaputt. Der Lehmboden roch nach Schimmel und war uneben. Der Holztisch in der Mitte lachte ihn an, mit heraushängender Schublade, vollgepackt mit rostigen Nägeln und altem Werkzeug. Kein Schraubenzieher, keine Bolzen.
«Was tust du hier?» Felina stand im Türrahmen hinter ihm. Er hatte sie gar nicht kommen hören, sie musste ihn gesehen haben und war ihm sofort gefolgt. Sie hatte sich nur einen Mantel über die Schultern geworfen und war barfuss in kniehohe Gummistiefel gestiegen.
«Ah, guten Morgen, Felina!», rief Robert. Ich könnte deine Hollywoodschaukel reparieren, ich finde nur nicht das Richtige hier, hast du einen Werkzeugkasten irgendwo?»
«Du könntest was?» Felina hob die Augenbrauen. Sie wurde augenblicklich wütend und hielt sich mit Mühe zurück. «Wir wollen doch jetzt nicht übertreiben, wir brauchen keinen übermütigen Papi hier.» Sie biss die Zähne zusammen. Dann machte sie eine ungeduldige Bewegung zur Seite und ihre Stimme beruhigte sich. «Die Hollywoodschaukel kommt weg, wie der ganze andere Müll. Ich habe nur keine Zeit, um mich darum zu kümmern. Jetzt komm ins Haus, Robert. Ich habe Wasser für Tee aufgesetzt.»
Das Wohnzimmer sah bescheiden aus. In der Mitte standen eine Sitzgruppe aus rissigem Leder und ein Tisch aus Mahagoniholz. Eine Wand war mit Regalen voller Bücher ausgestattet, die bis zur Decke reichten, rechts davon befand sich eine alte offene Küche.
«Schläft Nicki noch?», fragte Robert leise, als wäre er vorsichtig, ihn nicht zu wecken.
«Bilde dir nichts ein, nur weil ich dich eingeladen habe», sagte Felina kalt. «Muss ich Nicki erklären, dass er einen Opa hat, der kurz da ist und dann wieder verschwindet? Ich habe ihn heute Morgen zu einer Freundin gebracht.»
Der Kühlschrank gab ein leises Brummen von sich, während Robert unentschlossen im Raum stand.
«Na gut, willst du dich setzen?», sagte sie dann nervös. «Den Tee mit Zucker oder ohne?»
«Ohne bitte.» Er folgte Felina zum Küchentisch und setzte sich schweigend.
«Es ist ein Kräutertee, ich weiss nicht, was du gerne magst. Dachte mir, der geht immer.»
«Kräutertee ist gut. Ich mag Kräutertee», erwiderte Robert. Was anderes würde sein Magen soundso nicht vertragen. Aber es hätte schlimmer kommen können, dachte er, Felina hätte das Treffen von vornherein absagen können. Das hatte sie nicht getan und nun war er bei ihr.
Der Raum war plötzlich voll mit dem Schweigen und der Anspannung zwischen ihnen. Aber alles, was er jetzt hatte, war abseits von dem Abgrund, der auf ihn wartete. Roberts Herz war still und lauschte. Die Anspannung tat ihm weh und er wünschte sich warme Worte, aber doch, er würde all das verkraften. Sein Magen fühlte sich wund an, es wurde ihm wohler, als etwas von dem Kräutertee hineinfloss. Die Flüssigkeit war warm und angenehmen, genau richtig.
Robert hob den Kopf und sah Felina an. Die grossen Augen ihrer Mutter, so gross und glänzend, als hätten sie das ganze Licht des Raumes in sich gesammelt. Und sie blickten streng zurück, aber nicht kalt. Auch die Augen von Liane sahen einen nie kalt an.
«Weisst du, Felina», begann Robert, «ich bin dieses Jahr sechzig geworden, wobei ich schon sagen muss, ich fühle mich mindestens wie achtzig. Oder so, wie ich meine, dass man sich fühlen müsse, wenn man sehr, sehr alt ist.» Robert trank noch einen Schluck und machte eine Pause. Merkwürdig, was da plötzlich angeflogen kam. Er war ruhig und fest geworden, die Worte kamen ohne Mühe. Im Blick von Felina war keine Abneigung, es war eine blosse Abwehr, ein Schutz! So sollte es sein, es war richtig, dass sie das tat, und er wollte nichts anderes erwarten. Die Erwartung ist Gift, sie verzehrt alles, sie lässt einen an Dingen festhalten, die vielleicht nie in Erfüllung gehen können. Es war noch kein Vertrauen da, es käme wahrscheinlich auch nicht zustande, aber es war gut, wie es war.
Robert griff in seine Sakkotasche und holte einen Briefumschlag daraus hervor. «Hier», sagte er. «Ich möchte dir eine Schenkung machen, dazu findest du hier auch eine Kopie von meinem Testament. Ich habe alles in der Post abgeben wollen, falls du das Treffen abgesagt hättest. Das Original liegt beim Notar, meine Adresse ist dort ebenfalls hinterlegt.» Er öffnete den Brief und legte das Stück Papier auf den Tisch. «Was du von mir erben wirst, wird dir gut über das eine oder andere hinaushelfen und du kannst auch Nicki eine gute Ausbildung oder gar ein Studium ermöglichen, wenn er das will. Aber ich habe gedacht, warum warten, du könntest heute schon etwas davon brauchen.»
Felina nahm das Blatt in die Hand und las. Ihr Gesicht blieb ruhig, als sie es wieder niederlegte. «Du scheinst eine Menge verdient zu haben», sagte sie. «Ich habe nie begriffen, was dein Beruf eigentlich war. Weder du noch Mama haben es mir wirklich sagen wollen. Irgendwas für den Staat, mehr hat man mir nie erklärt. Und dass du dafür monatelang weg sein musstest, im Ausland oder wo auch immer. Als ich sehr klein war, dachte ich, du wärest auf einem anderen Planeten und müsstest mit Ausserirdischen Verträge abschliessen, dass sie uns nicht angreifen. Denn dann würden wir alle sterben, wobei dir aber sehr viel daran läge, dass insbesondere ich am Leben bliebe. Zuerst habe ich es mir sicherlich so eingeredet, aber irgendwann muss ich fest daran geglaubt haben. Ja, Kinder glauben an Märchen.»
«Es war kein Märchen, Felina, es lag mir viel daran, dass es euch gut geht und ja, dass ihr glücklich seid. Was meinen Beruf angeht … das tat damals und tut auch jetzt nichts mehr zur Sache.»
«Stimmt, jetzt schon gar nicht mehr.» Felina schob den Brief zu ihm zurück. «Die Schenkung will ich nicht annehmen. Das Erbe eines Tages, tja, weiss ich nicht. Jetzt bist du doch noch nicht tot, oder? Jedenfalls steht fest, so viel Geld brauche ich nicht. Und es verändert so oder so nichts.»
Robert blieb ruhig. «Es soll auch nichts zwischen uns verändern, ich will mir keine Zuwendung dafür erkaufen. Morgen setze ich mich in den Flieger und du siehst mich nie wieder. Aber es ist eine Hilfe für dich und den Kleinen. Und wenn du es nicht willst, dann überweise ich alles nur an Nicki. Hat er ein Sparkonto? Wenn nicht, eröffne eines. Bitte nimm es an. Ich brauche nichts mehr. Wohnung, Auto, monatliches Einkommen – ich habe mehr, als ich bis zum Tode aufbrauchen könnte.»
Felina stand auf und ging zur Küchentheke. Sie lehnte sich an den Rand des Spülbeckens und blieb eine Weile unbeweglich stehen, mit dem Rücken zu Robert. Dann wandte sie sich ihm wieder zu. «Na schön. Ich nehme etwas davon für das Haus, ich möchte es ein wenig auf Vordermann bringen. Das Dach ist baufällig … schon lange. Die Terrasse bricht bald zusammen, die Stützbalken sind verrottet. Ich schicke dir den Kostenvoranschlag und dann die Rechnungen, wenn es fertig ist. Etwas kannst du auf das Sparkonto von Nicki überweisen. Alles andere brauche ich nicht, ich arbeite, es reicht uns.»
Robert fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte es angenommen, zwar unter ihren Bedingungen, aber immerhin. Er würde den ganzen Rest auf Nickis Konto überweisen. Es würde für alles genug sein. Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte sie mit scharfer Stimme: «Nicki bekommt nur so viel, wie er für ein Studium benötigen würde … Ich meine, er ist noch sehr klein, aber läuft schon mit dem Stethoskop von Mama herum und will Arzt werden, wie sie.» Felina lächelte dezent. «Neulich brachte er mir ein totes Vögelchen ins Haus. Er meinte, er höre das Herzchen noch schlagen, er wollte es wiederbeleben!» Felina war wieder zum Tisch gekommen und hatte sich hingesetzt. Robert hörte ihren Atem und sah, wie ihre Augen feucht wurden. Im Raum war es heller geworden und er merkte, dass ihre Haut etwas gelblich und blass wirkte.
«Brauchst du wirklich nichts für dich? Bist du gesund, mein Kind?», flüsterte er und merkte sofort, dass er zu weit gegangen war.
«Mir fehlt nichts, lass das. Aber hier im Haus ist etwas, was noch dir gehört. Und wo wir dabei sind, das Erbe...
| Erscheint lt. Verlag | 16.7.2024 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Daphnesvergeltung • Drogendezernat • Ermittler • Ikarus • Liebesbegegnung • Polizeiroman • Polizistin |
| ISBN-10 | 3-7598-4212-7 / 3759842127 |
| ISBN-13 | 978-3-7598-4212-1 / 9783759842121 |
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