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Zu Gast im Westen -  Ingo Schulze

Zu Gast im Westen (eBook)

Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
344 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8655-6 (ISBN)
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Seit über dreißig Jahren betrachtet der Westen den Osten. Als Gast im Westen beschreibt Ingo Schulze, dass die Wirklichkeit immer jener Ort ist, der jenseits der Erwartung liegt. Ein halbes Jahr verbrachte Ingo Schulze von Oktober 2022 bis März 2023 im Ruhrgebiet als 'Gast im Westen'. Was ihn interessierte? »Einen Plan hatte ich nicht. Und erst allmählich begann ich meine 'Methode? zu erkennen: Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen. Es gibt wohl kaum ein unsystematischeres Vorgehen. Aber jeder Plan wäre mir nicht weniger willkürlich erschienen.' So entstanden ganz unterschiedliche Betrachtungen, Porträts, Reportagen - eine Grundschule, in der die Musik die Rolle der Sprache übernimmt, weil zu wenige Kinder Deutsch sprechen; ein Stadionbesuch mit einem Polizeipräsidenten a. D., der nicht mehr das Wort 'Clankriminalität' aussprechen wollte, es aber musste; ein Konzert im Alfried Krupp Saal der Essener Philharmonie führt zur Geschichte der Firma Krupp, zu den längsten Arbeitskämpfen der BRD und zu Europas größtem Binnenhafen; die Ruhe eines Kriegsgräberfriedhofs erscheint nicht mehr selbstverständlich; der Slapstick einer Theateraufführung setzt sich in der Wirklichkeit fort - über allem wabert ein Duft von Döner und Gyros und im Ohr hallen die Gesänge der Fußballfans nach.

Ingo Schulze, geb. 1962 in Dresden, lebt als Schriftsteller in Berlin. Nach einem Studium der Klassischen Philologie und Germanistik arbeitete er als Schauspieldramaturg, bevor er als Journalist und Zeitungsverleger tätig war. Seit 1995 veröffentlicht er sehr erfolgreich Romane und Kurzprosa (u.a. »33 Augenblicke des Glücks«, »Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier«). Für seine Werke wurde er u.a. mit dem aspekte Literaturpreis (1995), dem Alfred-Döblin-Preis (1995), dem Josepeh-Breitbach-Preis (2001) und dem Preis der Leipziger Buchmesse (2007) ausgezeichnet.

Prolog: Neu in Mülheim-Broich


Sonnenschein, Herbstlaub, Ende Oktober ist es hier noch einmal so warm geworden wie sonst nur in südlichen Gefilden. Lange werden die Farben nicht mehr da sein. Ich mache mich auf die Suche nach einem Supermarkt in der Nähe. »Haben Sie denn kein Auto? Auch kein Fahrrad?« Meine Nachbarn, mit denen ich von Garten zu Garten spreche, sind überrascht und bieten mir Hilfe an.

Was ich Garten nenne, ist in meinem Fall von der Anmutung her ein Park im Bonsai-Format mit Brückchen und Schalen und einer Bank, es fehlen eigentlich nur Goldfische. Stattdessen steht ein riesiger Buddha auf dem Weg und lächelt durch mich hindurch. Eine stattliche Doppelhaushälfte steht mir vom Keller bis unters Dach zur Verfügung.

Die Einfamilienhäuser des Broicher Waldwegs, an denen entlang ich der abfallenden Straße folge, ließen sich als »schmuck« bezeichnen, alles tipptopp. Neben alten Straßennamen (Brandenberg, Liehberg) lauten die neuen Uranusbogen oder Jupiterweg, es gibt eine Ferienwohnung namens »Saturn«. Ein Mehrfamilienhaus ist im Bau, davor steht ein alter roter Rolls-Royce, der erst beim näheren Hinsehen auffällt, weil seine Karosse nicht wie die der anderen Wagen glänzt. Es folgen ein paar dörflich anmutende Häuser, bevor sich der Weg zu einer Grünfläche öffnet, die vielleicht einmal der Dorfanger gewesen ist. Am Ende quert eine große Straße, deren Namen, Saarner Straße, ich mir einprägen will. Jenseits davon ein breiter Häuserriegel von acht oder neun Stockwerken, darunter eine Tankstelle, Busstationen auf beiden Straßenseiten, eine Apotheke an der Ecke. Der »Lindenhof« nimmt sich zwischen den anderen Häusern aus wie eine Ansichtskarte, deren Farben schon leicht verblichen sind.

Der Supermarkt, so bin ich überzeugt, kann nicht mehr weit sein. Als ich einen Mann meines Alters danach frage, antwortet er grimmig und ohne aufzusehen: »Fahr ich jetzt nach Herne wegen dem Scharnier?!« Er telefoniert. Ich entschuldige mich gestenreich und will mich abwenden, da sieht er auf und weist, seinen freien Arm heftig schwenkend, als sollte ich mich beeilen, weiter in Richtung meines bisherigen Weges. Obwohl keine Autos zu sehen sind, warte ich an der Ampel das Grün ab, denn als Neuling will ich hier nicht unangenehm auffallen.

Woher kommt meine Vorsicht, ja Beklommenheit? Als wäre ich eben erst an meinem Studienort angekommen, der nun für fünf Jahre mein neues Zuhause und eine Lebensprüfung schlechthin werden soll. Oder wie die Ankunft an meiner ersten Arbeitsstelle, dem Theater in Altenburg. Fiel mir dort die Orientierung leichter?

Von Mülheim-Broich scheint die Entfernung nach Duisburg kaum weiter als die bis ins Mülheimer Zentrum. Und die beste Busverbindung geht nach Oberhausen. Supermärkte überall, nur nicht da, wo ich ab jetzt wohne.

Auf der Kirchstraße, die jenseits der Saarner Straße beginnt, werden die Häuser zu Wohnblocks, drei oder vier Etagen, die Nebenstraßen heißen Teutonenweg, Gotenstraße, Sachsenstraße, ich komme an einer Trinkhalle vorbei (eine etwas irreführende Bezeichnung für einen Kiosk, findet der Neuling), an einem Dönerladen, einem Imbiss und einem Bäcker. Ob ich wenigstens bei einem von ihnen öfter kaufen oder es gar zum Stammkunden bringen werde? Überhaupt, womit werde ich schnell vertraut sein? Womit nicht? Und plötzlich die lächerlich banale Frage, als hätte ich nicht ein Dreivierteljahr dafür Zeit gehabt: Was will ich hier eigentlich? Am Ende soll ich ein Buch abliefern und werde dafür gut bezahlt. Bin ich Greenhorn überhaupt der Richtige dafür? Und wenn mir nichts Gescheites einfällt?

Nach einer knappen halben Stunde komme ich endlich an eine Kreuzung mit Straßenbahnschienen, einer Sparkassenfiliale, einer zweiten Apotheke, sogar eine Post findet sich hinter der Ecke. Ich bin nicht nur am Ziel meiner Wünsche, also bei »Edeka Paschmann«, angekommen, sondern überhaupt am Mittelpunkt meiner neuen Welt, nämlich der »Broicher Mitte«.

Wann habe ich das letzte Mal allein für mich eingekauft? Erst beim Bestücken des Einkaufswagens begreife ich, dass ich derart bepackt keinesfalls zurücklaufen kann. Deshalb endet mein erster Einkaufsausflug leicht beschämt mit einer Taxifahrt.

Da es bei meiner Rückkehr schon fast dunkel ist und ich offenbar das Licht in der ersten Etage meiner Doppelhaushälfte angeschaltet hatte (es gibt so viele Lichtschalter, dass ich erst herausfinden muss, welcher tatsächlich funktioniert und welche Lampe dann angeht), sehe ich meinen Schreibtisch samt Bücherwall gut illuminiert. Von der Straße aus könnte also jeder beobachten, in was für einer Hose, in welchem Hemd oder Schlafanzug ich dasäße. Jede und jeder hier kann kontrollieren, ob ich schreibe, lese, telefoniere oder im Bürostuhl eingenickt bin – eine unangenehme Vorstellung. »Aber warum eigentlich?«, denke ich, als ich die Tür aufschließe. Wenn mir die Mülheimer schon nicht beim Schreiben über die Schulter schauen können, sollten sie wenigstens das Recht haben, ihren auf Zeit angestellten Stadtschreiber zu sehen.

Über die eigentliche Entdeckung der Umgebung zu berichten, ist für andere langweilig. Die kleinen und größeren Erkundungen, die sich unter der Rubrik »Ortskenntnis« zusammenfassen und abtun lassen, bedeuten allerdings für den Neuling Genugtuung, ja Erfolg, und stärken seine Versuche, in die Welt zu finden. Selbst eine gelungene Busfahrt bestätigt einen.

Ich kann an mir beobachten, wie sich Routinen ausbilden oder einfach nur Marotten, die schwer erklärbar sind. Es liegt nicht allein daran, dass ich lieber bergab als bergauf gehe. In die Stadt und zum Bahnhof fahre ich beispielsweise nach zehn Minuten Fußweg mit den Bussen 122 oder 124. Die Busfahrerinnen oder -fahrer haben es entweder immer eilig oder fahren mit Vorliebe schnell. Besonders mag ich die Schussfahrt, die nach der Haltestelle »Rosendahl« beginnt und hinab an die Ruhr führt. Es folgt noch eine letzte Ampel. Dann aber, so wie sich Skispringer vom Sitz am Gipfel der Schanze lösen, nimmt der Bus Fahrt auf. Ich stehe etwas breitbeinig da, die Arme angewinkelt, die Hände in die Schlaufen geschlungen, die von den unter der Decke verlaufenden Haltestangen herabhängen, als wäre ich bereit zu einem artistischen Kunststück. Ich sehe durch die Frontscheibe, links fliegt das Broicher Schloss vorbei, rechts ein Hotel, und stets bin ich mir sicher, dass wir diesmal die Brücke mit einem Satz nehmen werden. Und dann bin ich jedes Mal enttäuscht wie ein Zirkusartist, den man um seinen Auftritt gebracht hat, wenn der Bus fahrplanmäßig an der Haltestelle »Broicher Schloss«, kurz vor der Brücke, abbremst und sogar zum Stehen kommt.

Für die Rückfahrt jedoch führt mich der Weg vom Bahnhof hinab in die untere Etage zum Bahnsteig der Straßenbahn 102. »Uhlenhorst« lautet der Name der Endstation, »Dümpten« das andere Ende. Erst unweit der Broicher Mitte taucht die Bahn wieder ans Tages- oder Nachtlicht, sodass ich nicht nur nichts vom Mülheimer Zentrum, sondern auch nichts von der Ruhr, die unterquert wird, zu sehen bekomme. Immer wieder bin ich überrascht, an der Endhaltestelle der einzige Fahrgast zu sein. Nur ein Mal, an einem frühen Nachmittag, steigt auch eine Schülerin mit mir aus. Offenbar fährt hier niemand mehr Straßenbahn, obwohl eine Reihe von Häusern auf den Waldgrundstücken unmittelbar auf der anderen Straßenseite beginnt.

Das Erste, was mich in Mülheim und später auch andernorts überrascht, ist die Wohlhabenheit, ja der Reichtum, den es im Ruhrgebiet gibt. Je höher die Lage, desto größer und grüner, und ich möchte hinzufügen: desto unsichtbarer, werden die Häuser in den Grundstücken, ja die Grundstücke selbst. Richtig reich scheint es links vom Uhlenhorstweg zu sein, also südlich davon. Erst glaubt man, durch einen Wald zu gehen, bis man bemerkt, schon eine Weile entlang eines grün überwucherten Zauns zu spazieren. Als wären es Wildgehege, stößt man auf die Abgrenzung von Grundstücken. Aber auch nördlich des Uhlenhorstwegs reihen sich entlang der »Fuchsgrube« noch spektakuläre Häuser aneinander. Mit jedem weiteren Schritt, der dem allmählich in Richtung Ruhr abfallenden Hang folgt, wechselt es erst zu dem, was man gehobenen Mittelstand nennt, Ein- oder Zweifamilienhäuser, die schon entlang der Straße »Am Brandenberg« bescheidener werden, wo man auch ein Hochhaus eingepflanzt hat, aus dessen oberen Geschossen das halbe Ruhrgebiet zu sehen sein muss. Hält man sich südlich der Saarner Straße und geht einmal in östlicher Richtung nach Saarn, einmal in westlicher Richtung nach Speldorf, künden die Häuser ebenfalls von Wohlhabenheit. Die wenigsten davon, wenn vielleicht auch die schönsten und größten, stammen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.

Fällt mir das auf, weil ich Villenviertel im Osten fast nur als Bauten des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennengelernt habe? Wie würden sich die Wandlitzer Häuser der DDR-Staatsführung am Uhlenhorstweg oder der Fuchsgrube ausnehmen? Kärglich, nehme ich an. Aber die Häuser waren ja nicht das Problem.

Es gibt ein Gefälle zwischen dem Reichtum im Süden, der an der Ruhr regelrechte Idyllen wie Kettwig und Werden hervorbringt, und einigen im Norden gelegenen Stadtteilen des Ruhrpotts, wo sich zwischen sanierten und begrünten Zechensiedlungen auch verlassene oder verfallene Häuser finden.

Hinter diesem Kontrast liegt, wie ich bald...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-8353-8655-7 / 3835386557
ISBN-13 978-3-8353-8655-6 / 9783835386556
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