Die erste Fahrt des Orient-Express (eBook)
383 Seiten
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7517-5582-5 (ISBN)
Steigen Sie ein zur ersten Reise im sagenhaften Orient-Express!
Paris 1883. Für Georges Nagelmackers steht alles auf dem Spiel: Seine neueste Unternehmung, der Orient-Express, startet zur ersten Fahrt quer durch die verfeindeten Staaten Europas. Der luxuriös ausgestattete Zug will ein Symbol des Friedens sein. Mit dabei: ein Dutzend Diplomaten, die ihre politischen Differenzen beilegen sollen. Nur ein Erfolg kann den verschuldeten Georges vor dem Ruin retten. Und er würde damit das Herz der jungen Frauenrechtlerin Hubertine Berthier zurückgewinnen. Sie hat ihn verlassen, weil er ständig in großem Stile scheitert. Diesmal soll alles anders werden. Doch dann erfährt Georges, dass sich ein Attentäter an Bord befindet ...
David Janz erweckt den Mythos Orient-Express in all seiner Pracht zu neuem Leben.
<p><strong>David Janz</strong>ist das Pseudonym eines erfolgreichen Autors historischer Romane und Wissenschaftsthriller. Als Fachjournalist schreibt er für mehrere deutsche Zeitschriften - über Museen auf dem Meeresboden, Sound-Archäologinnen auf der Suche nach den Geräuschen der Vergangenheit und Postboten auf den Eisplatten der zugefrorenen Ostsee. Janz studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie in Münster. 2022 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Lünen.</p>
kapitel 1
Donnerstag, 4. Oktober 1883, 18.30 Uhr
Paris, Gare de Strasbourg
»Alle einsteigen!« Der Ruf des Schaffners hallte über Bahnsteig 1 im Gare de Strasbourg. Georges blieb vor einem der dunkelgrünen Waggons stehen, zog die Uhr aus der Westentasche und klappte sie auf. Zwölf Minuten blieben bis zur Abfahrt. Das Ziffernblatt mit dem Rankenmuster verwischte vor seinen Augen, er schloss eine Faust darum, in der Hoffnung, dass die Zeit darin eingesperrt bleibe. Nach zehn Jahren Vorbereitung, nach unzähligen Rückschlägen und Krisen würde endlich der Zug, der die Welt verändern sollte, aus Paris heraus- und seinem Ziel entgegenfahren: Konstantinopel, dem äußersten Ende Europas.
Nur von Blowitz fehlte jede Spur.
Reisende und Schaulustige drängten sich auf dem Bahnsteig. Georges blickte in Gesichter, auf denen sich Staunen, Skepsis und Erwartung mischten. Durch das gläserne Dach des Bahnhofs fielen die letzten Sonnenstrahlen des Oktobertags, Lichtsprenkel überzogen die mit Früchten, Schleifen und Federn geschmückten Hüte der Damen, die gebürsteten Zylinder der Herren und die Schirmmützen der einfachen Leute. Sie alle waren hier, um den Zug zu sehen, seinen Zug, das Wunderwerk der Technik, die Zukunft auf Rädern, die Mona Lisa der Ingenieurskunst: den Orient-Express. Wo blieb Blowitz?
Seit Wochen schon ratterte der Zug durch die Spalten der Zeitungen. Die Journalisten von Le Figaro bejubelten die Tapferkeit des Unternehmers Georges Nagelmackers, der sich vorgenommen hatte, eine Zugverbindung zwischen Westeuropa und dem Schwarzen Meer zu schaffen. Die Kolumnisten von Le Petit Parisien hielten es hingegen für unmöglich, dass die Waggons ihr Ziel erreichen konnten, mussten sie doch sechs miteinander verfeindete Staaten durchqueren. Die Chronisten der Klatschblätter wiederum beschrieben mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Hohn jedes Detail der luxuriösen Innenausstattung, die vierarmigen Gas-Kronleuchter im Speisewagen ebenso wie die Seidenlaken auf den Betten der neuartigen Schlafwagen.
»Monsieur Nagelmackers?« Ein junger Zugbegleiter in brauner Uniform näherte sich. Unter seinem runden Hut schauten die Spitzen karottenfarbenen Haars hervor.
Georges fühlte in seiner Faust das Uhrwerk ticken. »Warum sind Sie noch nicht im Zug, Pascal?«
»Es gibt ein Problem mit einem Gepäckstück.« Der Junge deutete hinter sich. Zwischen den Fahrgästen und Schaulustigen auf dem Bahnsteig ragte ein Schrankkoffer auf, er war bezogen mit braunem Leder. Davor stand mit verschränkten Armen Missak Effendi, der Chefsekretär der Osmanischen Botschaft in Paris. Georges kannte ihn aus der Zeitung. Obwohl der Diplomat einen Zylinder trug, überragte ihn das Gepäckstück.
»Für den Koffer des Monsieurs ist in dem Gepäckwagen kein Platz mehr.« Pascal zog die Schultern hoch. »Es ist aber auch nicht möglich, etwas daraus zurückzulassen. Der Monsieur sagt, darin seien die Geschenke für den Kalifen in Konstantinopel.«
Georges wurde es heiß in seinem grauen Paletot. In diesem Moment ließ der Zugführer weiter vorn etwas Dampf ab, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. »Werfen Sie das Werkzeug und die Ersatzteile aus dem hinteren Gepäckwagen«, wies Georges den Zugbegleiter an und zog die Aufschläge seines taillierten Mantels straff. »Dann wird der Koffer hineinpassen.«
Pascal verzog das Gesicht, und seine Sommersprossen tanzten. »Aber Monsieur! Wenn wir unterwegs eine Panne erleiden, sind wir ohne Werkzeug und Ersatzteile verloren.«
Georges’ Blick ruhte auf dem Jungen. »Wenn Monsieur Missak dem Kalifen nicht genug Geschenke aus Paris mitbringt, wird es sogar das Beste sein, wir erreichen Konstantinopel erst gar nicht. Raus mit dem Werkzeug, raus mit den Ersatzteilen und rein mit dem Koffer! Beeilen Sie sich!«
Pascal schlug die Hacken zusammen. »In zehn Minuten ist der Koffer an Bord.« Er lief davon.
»In fünf!«, rief Georges ihm hinterher. Er ließ den Zeitmesser zurück in die Westentasche gleiten.
»Alle einsteigen!«, rief der Schaffner noch einmal.
Türen klappten. Aus den Fenstern des Zugs lehnten Männer und winkten mit Hüten. Eine junge Frau stand vor dem tannengrün lackierten Speisewagen, der sich in der Mitte der Waggons befand, und hielt ihre mit Spitzenhandschuhen geschmückten Hände vor den Mund. Sie weinte und blickte aus den feuchten Augen einen Herrn mit eisgrauem Vollbart an, der aus dem Zugfenster heraus versuchte, sie zu beruhigen. Georges erkannte Monsieur Verne und seine Tochter.
»Mademoiselle Valentine«, er verneigte sich, »seien Sie ohne Sorge. In zwei Wochen wird Ihr Vater unbeschadet wieder in Paris ankommen. Dafür werde ich persönlich Sorge tragen.«
Valentine Verne ließ zu, dass Georges ihre Hände mit den seinen umschloss und von ihrem Mund nahm. »Aber auf dem Balkan wimmelt es von Barbaren und wilden Tieren. Ich habe Geschichten gehört …«
Er reichte ihr sein Taschentuch, damit sie ihre Tränen trocknen konnte. »Mademoiselle, Sie sind die Tochter eines Schriftstellers. Sie wissen, wie Geschichten entstehen. Der Balkan ist nicht mehr wie früher. Die Osmanen sind vertrieben, Bulgaren, Rumänen und Serben sind frei und entwickeln ihre Länder zu modernen Staaten. Unser Zug wird die jungen Nationen mit dem alten Europa verbinden. Ihr Vater wird Teil dieses Ereignisses sein.«
Die Worte verfehlten nicht ihre Wirkung: Stolz blitzte in Valentine Vernes geröteten Augen auf – bis zu dem Moment, als ihr Vater eine Pistole aus dem Zugfenster schwenkte. »Zur Not habe ich immer noch die hier.«
Schüsse fielen, und die Menge schrie auf. Monsieur Verne starrte die Waffe in seiner Hand an.
»Stecken Sie das Ding weg!«, rief Georges und hastete zum hinteren Teil des Zugs, denn von dort waren die Schüsse gekommen. Schon folgten weitere. Im Laufen lupfte er seinen Zylinder und schwenkte ihn, während er den Leuten ringsumher zurief, es sei alles in Ordnung. Allerdings war er sich da selbst nicht ganz sicher.
Sechs Soldaten in der roten Paradeuniform des britischen Militärs hatten neben dem Zug Aufstellung genommen. Sie hielten Gewehre im Anschlag und feuerten gerade eine weitere Salve in die Luft. Tauben flogen auf. Glas klirrte, als eine der Scheiben im Dach des Bahnhofs zersplitterte, Scherben regneten auf den Orient-Express herab, die Menschen auf dem Bahnsteig wurden zum Glück nicht getroffen.
Georges fiel einem Soldaten in den Arm und drückte den Lauf seines Gewehrs nach unten. »Wollen Sie einen Krieg anzetteln?«, schimpfte er. »Das ist ein Zug des Friedens. Wir versuchen Länder zu verbinden, nicht gegeneinander aufzubringen. Wer ist Ihr Kommandeur?«
»Das wäre in diesem Fall ich«, ertönte eine sonore Stimme, die zu einem Mann mit einem langen Schnurrbart gehörte. Er war hinter der Ehrengarde aufgetaucht, trug einen wadenlangen, karierten Wollmantel mit Schultercape und eine graue Melone. Mit der silbernen Spitze seines Gehstocks tippte er Georges auf die Hand, die das Gewehr festhielt. »Lassen Sie die Sergeanten ihre Arbeit tun, sonst wird Ihr Zug zwei seiner bedeutendsten Passagiere verlieren.«
»Sir Edmond Laycock, wie ich vermute.« Es war für Georges nicht schwer zu erraten, wer ihm gegenüberstand. Der britische Minister für öffentliche Arbeiten war bekannt wie ein bunter Hund. Georges schob die Spitze des Stocks von seinem Handgelenk. »Ich dachte, die Briten ständen den Franzosen in nichts nach, was gutes Benehmen angeht, und würden sie sogar noch übertreffen, wenn Zurückhaltung gefragt ist. Stattdessen führen Sie sich auf wie die Preußen.«
Laycock lächelte überlegen. Dabei geriet sein Bart in Bewegung. »Sie als Belgier, Monsieur Nagelmackers, sind mit den Gepflogenheiten der internationalen Diplomatie naturgemäß wenig vertraut. Ich entschuldige das. Die Salutschüsse fallen zu Ehren unseres Gastes Sayadschi Rao III. Er ist der Großkönig des Indischen Reichs von Baroda. Bei seinem Besuch in London wurde ihm vor drei Tagen der Stern von Indien verliehen, und als Träger dieses Ordens stehen ihm bei öffentlichen Anlässen zwölf Schuss Salut zu.«
Die Stockspitze schwenkte herum und zeigte Richtung Schlafwagen Nummer 1. In der Tür stand ein Mann dunkler Hautfarbe, dessen weiße, mit Orden gespickte Uniform seinen kräftigen Körperbau unterstrich. Er hatte ein rundes Gesicht mit einem breiten Kinn und einem buschigen Oberlippenbart. Das Haar trug er zurückgekämmt zum Zopf gebunden, sodass die goldenen Ohrgehänge zur Geltung kamen, in denen rote Edelsteine blitzten. Auch die Augen des Großkönigs funkelten. Er starrte Georges an.
»Hören Sie, Sir Laycock«, Georges senkte die Stimme, »ich habe dafür gesorgt, dass der Maharadscha ein Raubtier mitnehmen kann. Aber das hier, das geht zu weit.«
»Zu weit?«, echote Laycock. »Dann dürfte es Sie interessieren, dass die Salutschüsse eigentlich von Kanonen abgefeuert werden müssten, sich Seine Exzellenz in seiner Bescheidenheit aber damit einverstanden erklärt hat, dass wir Gewehre verwenden.«
»Alle einsteigen. Türen schließen.« Die dritte Aufforderung war die letzte. Die hydraulischen Bremsen zischten, und schon ruckten die Waggons an. Georges half Laycock in den Zug, blieb aber selbst auf dem Perron, dem Bahnsteig, mit einer Hand an der Haltestange. Noch einmal suchte er Blowitz in der Menge. Aussichtslos! Henri Opper von Blowitz hatte ihn versetzt. Nun würde Georges ohne den berühmten Reisejournalisten auskommen müssen. Dabei war er auf einen wohlwollenden Bericht aus dessen Feder angewiesen, der die erste Fahrt des Orient-Express in The...
| Erscheint lt. Verlag | 26.7.2024 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Schlagworte | Abenteuer • Agatha Christie • Attentäter • Europa • Frauenrechte • Frieden • Historische Romane • James Bond • Jules Verne • Konstantinopel • Luxusreisen • Nagelmackers • Paris |
| ISBN-10 | 3-7517-5582-9 / 3751755829 |
| ISBN-13 | 978-3-7517-5582-5 / 9783751755825 |
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