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Ich könnte hier stundenlang sitzen und auf den Rasen schauen -  Moritz Rinke

Ich könnte hier stundenlang sitzen und auf den Rasen schauen (eBook)

Lauter Liebeserklärungen an den Fußball

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31205-8 (ISBN)
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Dieses Buch ist ein so vergnüglicher wie erhellender literarischer Streifzug durch die Welt des Fußballs. An der Seite eines Fans, der diese Welt innig liebt, sich aber nicht scheut, auch in die finsteren Winkel zu blicken. Moritz Rinke lässt die verschossenen Elfmeterbälle von Uli Hoeneß und Bastian Schweinsteiger miteinander reden und starrt eine Fahrstuhlfahrt lang auf den legendären Hinterkopf von Uwe Seeler. Im Weserstadion stiehlt er mit seinem Sohn heiligen Rasen und verstaut ihn in einer Tupperdose, die er neben die Originalpfeife Bertolt Brechts stellt. Er schlägt sich die Nacht mit Thomas Tuchel in der Berliner Tausendbar um die Ohren und schreibt eine Rede an die Nation im Geiste Hölderlins und Toni Kroos'. In Katar besichtigt er ungläubig die neu errichteten Stadien und erzählt am Beispiel seiner Nichte und deren Freundin, die ein Verhältnis mit Neymar hatte, vom Niedergang des Fußballs.  Moritz Rinke, einer der bekanntesten Dramatiker Deutschlands, Romancier und Stürmer in der DFB-Autoren-Nationalmannschaft, hat seiner Leidenschaft ein Buch gewidmet und uns ein großes Geschenk gemacht.

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke, u. a. »Republik Vineta«, »Wir lieben und wissen nichts« oder »Westend«, werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (2010) wurde zum Bestseller. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« (2021). Moritz Rinke lebt in Spanien und in Berlin.

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke, u. a. »Republik Vineta«, »Wir lieben und wissen nichts« oder »Westend«, werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (2010) wurde zum Bestseller. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« (2021). Moritz Rinke lebt in Spanien und in Berlin.

Statt eines Vorworts


Walle, Walle … Nun erfülle meinen Willen!
Über neue und alte Leidenschaften

Wenn ich als Kind erkältet war, im Bett lag und nicht zur Schule gehen konnte, erlaubten mir meine Eltern, sofern ich fieberfrei war, die erste Halbzeit abendlicher Fußballspiele im Fernsehen anzuschauen. So kam ich zum Halbfinale der EM 1976. Jugoslawien gegen Deutschland. Zur Halbzeit stand es 2:0 für Jugoslawien und ich lag mit Tränen in den Augen und dem Kicker im Bett. Als der gerade eingewechselte Dieter Müller den Ausgleich zum 2:2 erzielte, weckte mich mein Vater und ich durfte in der Verlängerung noch zwei weitere Müller-Tore zum 4:2 Endstand sehen.

Natürlich bemühte ich mich, in den folgenden Tagen bis zum Finale gegen die Tschechoslowakei weiterhin krank zu sein, hustete künstlich, lag apathisch in meinem Zimmer herum und fühlte mich pünktlich zum Spiel plötzlich besser, sodass mir das Anschauen des Finales bestimmt nicht schaden würde. Ja, ich habe dann wirklich den vergebenen Elfmeter von Uli Hoeneß sehen dürfen, der Ball flog hoch in den Belgrader Abendhimmel. Deutschland hatte verloren, ich musste am nächsten Tag müde in die Schule und übte den Rest der Woche auf unserer norddeutschen Moorwiese zwischen den Kühen Elfmeterschießen.

Oft denke ich an meine Fußballkindertage, wenn mein Sohn an den Wochenenden frühmorgens durch das Wohnzimmer schleicht, um sich heimlich mein Handy zu nehmen und FIFA Mobile Fußballsimulation von EA Sports zu spielen. An Schultagen muss ich ihn aus dem Bett ziehen, am Wochenende wacht er umso früher auf, natürlich wegen FIFA Mobile. Ich muss mich dann entscheiden: Entweder schlafe ich endlich einmal aus und mein Sohn hockt die ganze Zeit neben der Steckdose mit dem Ladegerät und zockt die Soccer-Simulation mit dem für 150 Millionen Dollar gekauften Namen von der FIFA-Verbrecherorganisation. Oder ich sperre mein Handy, dann aber zieht er so lange im Bett an mir herum, bis ich als FIFA-Simulations-Ersatz im Pyjama den Softball durchs Wohnzimmer schieße. Seine Paraden auf Holzdielen, mein schlechtes Gewissen wegen Engelbert, dem Nachbarn unter uns.

Ich lebe ohnehin permanent mit diesem schlechten Gewissen wegen Engelbert, weil mein Sohn täglich als Mini-Manuel-Neuer oder Mini-Kevin-Trapp durch die Wohnung hechtet oder so tut, als wäre er Jamal Musiala und würde von Mats Hummels oder Anton Rüdiger gefoult und gegrätscht werden, es ist ein fürchterliches Gerumpel. Jede Woche bringe ich Engelbert eine Flasche Rotwein runter, wir reden nie über das Gerumpel und seine verpolterten frühen Morgenstunden plus Nachmittage nach der Schule und die ganzen Abende, es ist, als würde ich ihn mit ausgesuchten Spitzenweinen stillschweigend besänftigen.

Wenn ich also Engelbert und mich am Wochenende länger schlafen lassen will, dann spielt und tippt und zockt mein Sohn auf meinem Telefon herum. Ich stelle mir dann vor, wie er auf diese digitalen und simulierten Spielerfiguren starrt, mit ihren abgehackten, unnatürlichen Bewegungen. Ich denke dabei an die Müller-Tore aus meiner Kindheit, Tore aus der fließenden Bewegung, natürliche Tore! Von Dieter Müller oder von Gerd Müller, später sogar von Thomas Müller – alles echte Tore auf einem echten grünen Rasen!

Früher begannen die Spiele an den Wochenenden um 15:30 Uhr vor dem Radio oder um 18 Uhr in der Sportschau, aber nicht um 06:30 in meinem Mobiltelefon! Wenn ich an den Wochenenden irgendwann aufwache, dann reiße ich meinem Sohn sofort das Handy aus der Hand, anders geht es nicht. Ihm zu erklären, dass nun das Spiel abgepfiffen werde, er sich schon seit Stunden in der Nachspielzeit befinde oder wenigstens jetzt Halbzeit sei, Pausentee, Frühstück, Entspannung, Regeneration! – das nützt alles nichts, beim FIFA-Zocken gibt es keinen Abpfiff, beim FIFA-Zocken sind wir in einer endlosen Nachspielzeit, einem ewigen Gameplay.

Er frühstückt dann in fünf Minuten, stürzt sich danach auf seine zwei vollgestopften Fußballkisten, in denen sich – ich schwöre – 56 Trikots befinden, und dann ist endgültig die Zeit des Softballs gekommen. Während ich schon mal die Rotweine für Engelbert sortiere, verwandelt mein Sohn die Wohnung in ein Stadion. Er baut seine TÜV-geprüften Aluminium-Miniprofi-Tore auf, verwandelt Sofaecken in Tribünen mit Fahnen, klickt den Teufelskicker-Podcast bei Spotify auf dem Handy seiner Mutter an, befiehlt seiner kleinen Schwester, viel zu große Erling-Haaland- oder Kylian-Mbappé-Trikots zu tragen und ihm stundenlang Bälle draufzuschießen. Dazu trägt er die bei einem Coca-Cola-Event ersteigerten Originaltorwarthandschuhe von Manuel Neuer und lässt im Hintergrund, oft ohne zu fragen, nervtötende YouTube-Videos wie die von »Fabiano« laufen, der auf seinem FIFA-Kanal mit überdrehter Stimme, begleitet von Sirenentönen, Gongs und dem Teufelskicker-Podcast, alles, was man über Fußball absolut nicht wissen muss, durchquatscht!

Und dann, genau dann, sitze ich da und frage mich, verdammt noch mal, von wem hat er das alles?! Und ich denke an Goethes Ballade vom Zauberlehrling, der den Besen zum Leben erweckt und an den Fluss schickt, um Wasser zu holen, doch dann kann er den Besen nicht mehr stoppen und der Besen schafft unablässig Wassermengen heran, die zu Sturzbächen werden. So war es ja auch bei mir und meinem Sohn. Als er gerade fünf Jahre alt war, brachte ich ihn zweimal zum Training bei Hertha Zehlendorf, er wusste noch nicht einmal, wohin der Ball muss und was überhaupt der Sinn des Ganzen ist, aber ich stand daneben: Walle, Walle … Nun erfülle meinen Willen! / Auf zwei Beinen stehe / Oben sei ein Kopf / Eile nun und gehe / Mit dem Wassertopf … / Dass zum Zwecke / Wasser fließe …

Und nun?

Die ich rief, die Geister / Werd’ ich nun nicht los …

Über den Fußball würde ich jetzt wirklich gerne sagen und es stimmt natürlich nicht: Früher war alles besser … Natürlich nicht technisch, taktisch, athletisch usw., aber ich denke mit Sehnsucht an die fußballreduzierten Zeiten, an die Stille zwischen den Spielen, in der die Vorfreude immer größer wurde: auf die Sportschau am Samstag, auf Die Sportreportage am Sonntag, auf die Erlaubnis der Eltern, ein abendliches Länderspiel schauen zu dürfen, auf die Hanuta-Duplo-Sammelbilder zu den Weltmeisterschaften – viel mehr gab es nicht: keine FIFA-Soccer-Simulation, kein Fußball-Gossip durch nervtötende You-Tuber, keine Trikots mit Preisen von 75 Euro (ohne Hosen und Stutzen!), die mein Sohn natürlich auch immer haben muss. (54 Trikots je 75 Euro plus Hosen und Stutzen, das sind 54 mal 145 Euro, dazu die Original-Manuel-Neuer-Handschuhe, die ständigen FIFA- und UEFA- und Bundesliga- und EM- und WM-Stickerheftkollektionen, das ganze Datenvolumen, das ich für die 99 Folgen der Teufelskicker und diese verdammte FIFA-Simulation dazukaufen muss, die Spitzenweine für Engelbert … Oh Gott!)

Er ist gerade mal neun Jahre alt und spielt schon beim dritten Verein, weil er die bisherigen Vereine für nicht professionell genug befand, dabei ist ein Vereinswechsel eine Mammutaufgabe: Aufnahmeanträge, Anträge auf Erteilung einer Spielberechtigung, Kündigung der Spielberechtigung beim alten Verein, Online-Abmeldung des alten Vereins, Protest gegen die vierwöchige Sperrung meines Sohnes wegen Versäumnis der Online-Abmeldung durch den alten Verein, Nachweis des Einschreibens der Kündigung beim alten Verein, Einreichung einer Ermächtigung der Online-Abmeldung durch den neuen Verein – ja, man ahnt schon, warum man in deutschen Fußballverbänden nicht mehr so richtig zum Fußballspielen kommt …

Aber wäre ich glücklicher, wenn mein Sohn das alles gar nicht mehr wollen würde? Würde ich ihm all diese wasserholenden Besen wieder wegnehmen oder wegzaubern und statt der täglichen Fußball-Überschwemmung durch meinen Sohn wieder im Trockenen sitzen wollen?

Nein!

Ich habe ein Buch über meine Leidenschaft geschrieben, auch wenn es diese Leidenschaft ist, die mich bei meinem Sohn fast in den Wahnsinn treibt. Neulich fragte er mich, ob ich wisse, was Luka Modrić für ein Auto fahre (»einen Bentley Continental GT!«), und ob ich wisse, wie viel der amerikanische Leibwächter von Lionel Messi verdiene (»sieben Dollar in einer einzigen Minute!«). Ich war kurz vor einem Wutanfall, dann atmete ich durch und sagte ihm, er solle sich lieber mit Messis oder Modrićs Schusstechnik beschäftigen anstatt damit, wie viel der blöde Leibwächter verdient oder welches Auto Luka Modrić fährt, den ich bisher immer für den bescheidenen Sohn eines kroatischen Ziegenhirten gehalten hatte.

 

Und ich habe ein Buch über meine Leidenschaft geschrieben, weil sie auch immer für den Wunsch gestanden hat, das Erwachsenwerden und damit das Altern durch ein ewiges Spielen aufzuhalten. Vielleicht ist der Fußball für mich so etwas wie die unendliche Verlängerung der Kindheit. Und bestimmt wollte ich auch einen fußballbegeisterten Sohn, damit wir uns dann in dieser gemeinsamen Leidenschaft für das Spiel wie zwei Kinder begegnen können. Wenn ich zum Beispiel mit ihm zu einer Partie von Werder Bremen gehe und wir gemeinsam im Weser-Stadion sitzen. Wenn der Verein in die Bundesliga...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Also sprach Metzelder zu Mertesacker • Ball-Spiel • Betrachtungen • Corona • der durch das Jahrhundert fiel • Der Mann • Die Mannschaft • EM 2024 • EM in Deutschland • Emotionen • Erinnerungen an die Gegenwart • Feuilleton • kolumnenband • Nationalmannschaft • Sport • Unser kompliziertes Leben • WM in Katar
ISBN-10 3-462-31205-7 / 3462312057
ISBN-13 978-3-462-31205-8 / 9783462312058
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