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Schlafen -  Theresia Enzensberger

Schlafen (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
112 Seiten
Hanser Berlin (Verlag)
978-3-446-28037-3 (ISBN)
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Das Leben lesen: Theresia Enzensbergers Buch ist ein philosophischer Streifzug durch die Nacht - und eine persönliche Erkundung der Schlaflosigkeit.
Theresia Enzensberger kann nicht schlafen. Also schreibt sie ein Buch über den Schlaf und folgt dabei den verschiedenen Stadien, die wir in der Nacht durchleben. So beginnt sie in der zähneknirschenden Leichtschlafphase mit einem Essay über die Moralisierung von Schlaf, Traum als politische Metapher und die Folgen allgemeinen Schlafmangels. Fast unmerklich wird ihr Text in der Tiefschlafphase privater, innerlicher, und eröffnet uns eine intensivere, persönlichere Sicht auf die Welt, die Kunst, die Literatur. Der Traum kommt erst in der REM-Phase, hier verlässt sie den Raum des Realen und wagt etwas Neues. Ein aufregender, kluger, anregender Versuch, die Essenz eines menschlichen Grundbedürfnisses zu begreifen, das sich so sehr unserer Macht entzieht.

Theresia Enzensberger wurde 1986 geboren und lebt in Berlin. Sie studierte Film und Filmwissenschaft am Bard College in New York studiert und schreibt als freie Autorin Prosa, Essays, Reportagen und Kritiken. 2014 gründete sie das preisgekrönte BLOCK Magazin. Bei Hanser erschien 2017 ihr erster Roman Blaupause, der in mehrere Sprachen übersetzt und mit der Alfred Döblin-Medaille ausgezeichnet wurde, sowie zuletzt ihr Roman Auf See (2022), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

Tiefschlaf


EEG-Aufzeichnung: Deltawellen — niedrigste Frequenz, höchste Amplitude.

N3 wird auch als »Slow Wave Schlaf« bezeichnet (SWS). Sie ist die tiefste Schlafphase und gekennzeichnet durch Signale mit sehr niedrigen Frequenzen und hohen Amplituden, Deltawellen genannt. In dieser Phase ist es am schwierigsten, aufgeweckt zu werden, und manche Menschen wachen nicht einmal von lauten Geräuschen (> 100 Dezibel) auf. Mit dem Alter wird diese langsame, von Deltawellen geprägte Schlafphase tendenziell kürzer, und die N2-Phase länger. Obwohl es die Phase mit der höchsten Aufwachschwelle ist, wird jemand, der in dieser Phase aufgeweckt wird, vorübergehend desorientiert und schlaftrunken sein. Kognitive Tests zeigen, dass Personen, die während dieser Phase geweckt werden, etwa eine halbe bis eine Stunde lang mental beeinträchtigt sind. In dieser Phase wird im Körper Gewebe repariert und regeneriert, Muskeln und Knochen wachsen, das Immunsystem wird gestärkt. Außerdem ist es die Phase, in der es zu Schlafwandeln, Nachtschreck und Bettnässen kommt.76

Meine Schlaflosigkeit ist ein Tunnel. Entgegen jeder Empfehlung von Experten der Schlafhygiene bleibe ich liegen, im Warmen, die Augen geschlossen. Ich komme nicht mehr an die Oberfläche. Eigentlich, so heißt es, soll man aufstehen, das Licht anmachen und etwas lesen, bis man müde wird. Diese Leute verstehen nicht, dass es draußen, vom Bett aus besehen, schrecklich kalt und hell ist, und dass Lesen außerdem nicht langweilig genug ist, um müde zu machen. Also bleibe ich liegen und starre mit geschlossenen Augen in den Tunnel.

Ich könnte behaupten, dass ich nicht weiß, wie viel Zeit im Dunkeln verstreicht. Aber meine innere Uhr ist mittlerweile so präzise, dass ich es immer ziemlich genau weiß. Ich fürchte, ich habe sie trainiert, in Nächten, in denen ich alle paar Minuten nachgesehen habe.

Manche Menschen berichten von rotierenden Gedanken, die sie nicht schlafen lassen, vom Kopfkino. In meinem Kopf herrscht Leere.

Ich liege still, und in mir ist etwas ganz fürchterlich angeknipst. Jemand weigert sich, das Licht auszumachen. Mein Kiefer wird hart und brennt. Manchmal schaue ich doch auf die Uhr, obwohl ich sowieso schon weiß, was sie zeigt. Noch etwas, was man nicht machen soll, weil es angeblich Stress produziert. Als wäre das Herumliegen nicht Stress genug. Dabei kommt die Verzweiflung nur noch selten, in der zweiten oder dritten Nacht ohne Schlaf.

Ich bin eine Schlaflosigkeitsveteranin, mir macht niemand was vor. In dem Moment, in dem in mir dieses Ding angeknipst wird, weiß ich, ich habe verloren. Stress spüre ich trotzdem. Nur weil es aussichtslos ist, heißt das nicht, dass ich es mir leisten kann, aufzugeben.

Marie Darrieussecq schreibt in ihrem Buch Sleepless: »Ich habe während meiner unendlichen Schlaflosigkeit einiges zu lesen. In jedem Buch, das ich öffne, geht es um Insomnie. Gide! Pavese! Plath! Sontag! Kafka! Dostoevsky! Darwish! Murakami! Césaire! Borges! U Tam’si! Und so viele andere Meister der Erschöpfung. Auf jedem Kontinent ist das alles, worüber die Literatur spricht. Als ob Schreiben nicht-schlafen sei.«77

Sie hat recht, auch ich finde in jedem Buch, das ich aufschlage, etwas über die Schlaflosigkeit. Eine vielzitierte Stelle aus Kafkas Tagebüchern lautet:

»Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl, gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen.«78

Wenn schon Kafka über die Schlaflosigkeit geschrieben hat, was soll man dann noch dazu sagen? Ich weiß nicht, ob mich Darrieussecqs These von der Literatur als »nicht-schlafen« überzeugt. Was ich aber beobachte: Die meisten zeitgenössischen Berichte über die Insomnie haben eine literarische Dramaturgie. Es sind Ich-Erzählungen oder Ratgeber, sie sind literarisch anspruchsvoll, wie zum Beispiel Das Jahr ohne Schlaf von Samantha Harvey, oder stehen in der Selbsthilfeabteilung, wie Arianna Huffingtons Schlaf-Revolution. Sie haben eine Heldin, die auf Widrigkeiten stößt, deren Geschichte einen Bogen spannt. Eine innere Entwicklung findet statt, nach deren Vollzug die Heldin ihre Schlaflosigkeit überwunden, nein, besiegt hat. Damit kann ich nicht dienen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Insomnie ein Biest ist, das aggressiver wird, je genauer man es betrachtet. Wenn man die Augen schließt, ist es da, und wenn man es beobachtet, schlägt es zu. Es ist also wahrscheinlich keine gute Idee, zu viel darüber zu lesen oder zu schreiben. Am besten, man verbannt die schiere Möglichkeit einer schlaflosen Nacht in den Raum des Undenkbaren und beschäftigt sich nie wieder damit. Aber natürlich ist das ein völlig unrealistisches Vorhaben — das Biest ruft sich ja andauernd in Erinnerung.

Der Schlaf lässt sich nur von außen beschreiben, ansonsten bleibt er unfassbar. Deswegen geht es in der Kunst, der Literatur und der Popkultur oft um die Abwesenheit des Schlafs oder um seinen Inhalt, den Traum. Mich interessieren besonders die Zwischenwelten des Schlafs, das Schlafwandeln, die Betäubung, der Torpor, die Schlafparalyse, die Hypnagogie.

Auf Youtube schaue ich eine Sendung von 2004, frühes Reality-TV, eine Mischung aus Gameshow und sozialem Experiment. In Shattered79 treten zehn Kandidat*innen gegeneinander an, um zu sehen, wer am längsten wach bleiben kann. Die Proband*innen dieses moralisch fragwürdigen Formats leben während der gesamten Zeit in einer Art Big-Brother-Container mit weißen Wänden, einem großen Sofa, aber ohne Betten.

Eingeleitet wird die Sendung von atemlosen Collagen moderner Urbanität: beschleunigte Menschenströme, Lichtreklamen, Wolkenkratzer. Dazu ein pseudosozialkritisches Voiceover: »Es ist die Obsession des 21. Jahrhunderts: Schlafmangel. Und wir leiden alle darunter.« Verantwortlich gemacht werden unter anderem »Mobiltelefone und E-Mails«. Es ist eine unschuldigere Zeit, Social Media ist noch zwei Jahre entfernt, die Kanditat*innen, die um 100.000 Pfund spielen, verbringen die Zeit im Container tatsächlich damit, miteinander zu sprechen. Trotzdem ist es extrem langweilig, ihnen beim Wachbleiben zuzusehen. Bis auf die »Elimination Challenges« am Ende jeder Folge, bei denen die Kandidat*innen zum Beispiel Erbsen zählen müssen, ohne dabei einzuschlafen, passiert eigentlich überhaupt nichts. Nur einmal hat jemand Halluzinationen, aber die, die nicht ausscheiden, halten sich erstaunlich gut. Ansonsten wird herumgesessen und gegähnt. Wäre ich schlafbegabter, würde Shattered wahrscheinlich helfen.

Ich habe Phasen. Manchmal gleiche ich wochenlang einer Person, die von all diesen Problemen noch nie gehört hat — ich lege mich hin, mache die Augen zu und bin weg. Dann aber kommt verlässlich eine insomnische Phase. Es ist unmöglich, vorher zu wissen, wie lange sie dauern wird, aber immer ist sie gekennzeichnet durch nächtelanges Wachliegen und ein paar Stunden gnädigen Schlafs am Morgen. An Tag drei oder vier setzt die Verzweiflung ein, es wird immer schwieriger, zu funktionieren. Meine Gedankenwelt wird obsessiv und panisch, und mich verfolgt die irrationale Frage: Was, wenn ich nie wieder schlafen kann?

Die »tödliche familiäre Schlaflosigkeit« wird zum ersten Mal im 18. Jahrhundert verzeichnet, bei einer Adelsfamilie aus dem Veneto. Der Autor D. T. Max erzählt in seinem Buch The Family That Couldn’t Sleep80 die Geschichte dieser Familie. Elisabetta, auch Lisi genannt, wird 1949 geboren und ist die erste in ihrer Verwandtschaft, die den mysteriösen Krankheits- und Todesfällen nachgeht, die sich seit Jahrzehnten durch ihre Familie ziehen und von denen sie nur durch bruchstückhafte Erzählungen erfährt. Lisi ist Krankenschwester, ihr Mann Ignazio Arzt. Als Lisis Tante Pierina im März 1979 nach monatelanger Schlaflosigkeit stirbt, gibt Lisi sich nicht mit der offiziellen, vom Krankenhaus notierten Todesursache (»vererbte Enzephalitis«) zufrieden. Sie und ihr Mann recherchieren mithilfe eines...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2024
Reihe/Serie Hanser Berlin LEBEN
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Berlin • Buchreihe • Essay • Eule und Lerche • Frühaufsteher • Grundbedürfnisse • Individualität • Insomnie • Kulturgeschichte • Leichtschlafphase • Nacht • New York • Public Intellectual • REM-Schlaf • Schlafen • Schlaflabor • Schlaflosigkeit • Schlafprobleme • Sinnfrage • Wichtigste Themen des Lebens
ISBN-10 3-446-28037-5 / 3446280375
ISBN-13 978-3-446-28037-3 / 9783446280373
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