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Der Sonnenstich -  Iwan Bunin

Der Sonnenstich (eBook)

Erzählungen 1924-1926

(Autor)

Thomas Grob (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
300 Seiten
Dörlemann eBook (Verlag)
978-3-03820-894-5 (ISBN)
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Iwan Bunin ist in den 1920er-Jahren der wohl beru?hmteste russische Emigrationsschriftsteller in Paris. Die meisten der Erzählungen im Band Der Sonnenstich aber spielen in Russland. Bei einem leicht nostalgischen Unterton weisen sie eine meisterhafte epische Tiefe auf. An der ambivalenten Liebe zumeist junger Männer zu souveränen, eigenwilligen Frauen zeigen sich die Grenzen der Beherrschbarkeit des Lebens. Die Erzählung »Mitjas Liebe«, die Rilke und Thomas Mann faszinierte, zeichnet die Psychologie der unglu?cklichen Verliebtheit eines jungen Mannes nach. Fast noch paradoxer, elementarer zeigt sich die Liebe in der brillanten Geschichte von »Kornett Jelagin«, der vor Gericht steht, weil er eine Frau umgebracht haben soll. »Der Sonnenstich« schließlich erzählt von einer flu?chtigen, rätselhaften Liebesaffäre auf einer Wolgareise.

IWAN BUNIN, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis fu?r Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier

IWAN BUNIN, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier

Mitjas Liebe


I


Mitjas letzter glücklicher Tag in Moskau war der neunte März. So zumindest kam es ihm vor.

Katja und er waren um die Mittagsstunde den Twerskoi-Boulevard hinaufspaziert. Der Winter war plötzlich dem Frühling gewichen, und in der Sonne war es beinahe heiß. Als seien wirklich schon die Lerchen gekommen und hätten Wärme und Fröhlichkeit mitgebracht. Alles war naß, alles taute, von den Häusern tropfte es, die Hausmeister hackten das Eis von den Bürgersteigen und schaufelten den pappigen Schnee von den Dächern herunter, überall war viel Volk und herrschte reges Treiben. Die hohen Wolken zerrannen zu feinem, weißem Dunst und verschwammen mit dem feuchten, blau schimmernden Himmel. In der Ferne, weit hinten auf dem Boulevard, war es schwarz vor Menschen, Puschkin ragte in milder Versonnenheit darüber auf, und das Strastnoi-Kloster1 leuchtete. Das Schönste aber war, daß Katja, die an diesem Tag besonders hübsch und voller Herzlichkeit und Vertrautheit war, Mitja mit kindlicher Anhänglichkeit immer wieder unterhakte und von unten herauf ins Gesicht blickte, während er, fast ein wenig überheblich vor Glück, derart ländlich-ausgreifende Schritte machte, daß sie kaum mitkam.

Bei Puschkin sagte sie unverhofft:

»Wie drollig, mit welch rührender, übermütiger Unbeholfenheit du deinen großen Mund aufreißt, wenn du lachst! Sei mir nicht böse, gerade für dieses Lächeln liebe ich dich. Und für deine byzantinischen Augen …«

Mitja unterdrückte ein Lächeln, bezwang sowohl die heimliche Genugtuung als auch die leichte Gekränktheit und antwortete mit Blick auf das nun vor ihnen hoch in den Frühlingshimmel ragende Denkmal freundlich:

»Was den Übermut angeht, scheint mir, daß wir in der Hinsicht nicht allzu weit auseinander liegen, trotz deiner achtzehn Jahre. Und einem Byzantiner gleiche ich so wenig wie du einer chinesischen Kaiserin. Ihr habt doch alle einfach den Verstand verloren mit eurem Byzanz, überhaupt mit eurem Stil, eurer Ästhetik. Ich verstehe deine Mutter nicht!«

»Was denn, würdest du mich an ihrer Stelle etwa im Terem2 einsperren?«, fragte Katja.

»Das nicht, aber ich würde einfach diese ganze angeblich künstlerische Boheme nicht über die Schwelle lassen, all diese künftigen Berühmtheiten aus den Studios, Konservatorien und Schauspielschulen«, erwiderte Mitja, und er bemühte sich, gelassen und freundlich-unbefangen zu bleiben. »Du hast mir doch selbst erzählt, daß Bukowezki dich zum Abendessen ins Strelna3 eingeladen hat, daß Jegorow dich nackt modellieren wollte, als ersterbende Meereswelle, und daß du natürlich furchtbar geschmeichelt bist ob dieser Ehre.«

»Und trotzdem werde ich die Kunst nicht einmal für dich aufgeben«, sagte Katja. »Vielleicht bin ich auch garstig, wie du immer sagst«, fuhr sie fort, obwohl Mitja so etwas nie gesagt hatte, »vielleicht bin ich verdorben, aber du musst mich nehmen, wie ich bin. Laß uns nicht streiten, hör auf mit deiner Eifersucht, wenigstens heute, an so einem wunderbaren Tag! – Wieso verstehst du denn nicht, daß du für mich trotz allem der Beste, der Einzige bist?«, fragte sie leise und eindringlich, blickte ihm gespielt verführerisch in die Augen und begann nachdenklich und getragen zu rezitieren:

Es schlummert4 zwischen uns Geheimes,

Die Seelen gaben sich den Ring …

Diese Zeilen, diese Verse berührten Mitja überaus schmerzlich. Allgemein war selbst an diesem Tag vieles unangenehm und schmerzlich. Unangenehm war der Scherz über seine jungenhafte Unbeholfenheit: Derlei Scherze hatte er von Katja nicht zum ersten Mal vernommen, und sie waren nicht zufällig – Katja gab sich nicht selten in diesem oder jenem erwachsener als er, stellte nicht selten (und unabsichtlich, also vollkommen natürlich) ihre Überlegenheit heraus, und er nahm es schmerzlich hin als Zeichen einer geheimen, sündigen Erfahrung. Unangenehm waren das »trotz allem« (»du bist für mich trotz allem der Beste«) und die Tatsache, daß dies mit plötzlich unerklärlich gesenkter Stimme gesagt wurde, und besonders unangenehm waren die Verse, die manierierte Art, wie sie vorgetragen wurden. Aber selbst die Verse und wie sie vorgetragen wurden, das also, was Mitja am meisten an jenes Milieu erinnerte, das ihm Katja nahm, das seine heftige Abneigung und Eifersucht entfacht hatte, ertrug er vergleichsweise leicht an diesem glücklichen neunten März, dem letzten glücklichen Tag in Moskau, wie es ihm später oft erscheinen sollte.

An diesem Tag, auf dem Rückweg vom Kusnezki Most, wo Katja bei Zimmermann5 einige Noten von Skrjabin gekauft hatte, sprach sie unter anderem von seiner, Mitjas, Mama und sagte lachend:

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich schon im Voraus vor ihr fürchte!«

Sie hatten, warum auch immer, in der ganzen Zeit ihrer Liebe kein einziges Mal über die Zukunft gesprochen, darüber, wo es hinführen würde mit ihrer Liebe. Und jetzt auf einmal sprach Katja von seiner Mama, und zwar nicht einfach so, sondern als stünde es außer Frage, daß seine Mama ihre zukünftige Schwiegermutter sei …

II


Danach ging scheinbar alles weiter wie zuvor. Mitja begleitete Katja ins Studio des Künstlertheaters, zu Konzerten und literarischen Veranstaltungen, oder er blieb bis zwei Uhr nachts bei ihr auf der Kislowka und nutzte die sonderbare Freiheit, die ihre Mutter ihr ließ, eine immerzu rauchende, immerzu rot geschminkte Dame mit himbeerroten Haaren, eine liebenwürdige, gutmütige Frau (die seit langem getrennt von ihrem Mann lebte, der eine zweite Familie hatte). Manchmal besuchte Katja auch Mitja in seinen Räumen auf der Moltschanowka, und ihre Rendezvous verliefen wie zuvor fast durchwegs in einem schwülen Taumel von Küssen. Doch Mitja wurde das Gefühl nicht los, daß wie aus dem Nichts etwas Unheimliches begonnen, sich etwas verändert hatte, daß etwas anders wurde, in Katja, in ihrer Beziehung zu ihm.

Wie im Flug war die unvergeßliche, beschwingte Zeit vergangen, als sie einander gerade erst kennengelernt hatten, als sie, kaum daß sie sich kannten, plötzlich spürten, daß sie am liebsten nur miteinander (und zwar von morgens bis abends) plaudern wollten – als Mitja sich unvermittelt in jener märchenhaften Welt der Liebe fand, die er insgeheim seit seiner Kindheit, seit seiner frühen Jugend ersehnt hatte. Dies war im Dezember gewesen – ein frostkalter, heiterer Monat, der Moskau Tag für Tag mit dichtem Rauhreif und dem mattroten Ball der tiefstehenden Sonne schmückte. Der Januar und der Februar zogen Mitjas Liebe in einen Strudel unaufhaltsamen Glücks, das bereits in Erfüllung gegangen schien oder zumindest jeden Moment in Erfüllung gehen würde. Aber damals schon wurde dieses Glück nach und nach (und immer öfter) getrübt und vergiftet. Damals schon schien es ihm bisweilen so, als gebe es zwei Katjas: Die eine, nach der sich Mitja vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an unentwegt sehnte, die er begehrte, und die andere – die echte, die gewöhnliche Katja, die sich so unerträglich unterschied von der ersten. Aber dennoch war dies nicht zu vergleichen gewesen mit dem, was Mitja jetzt erlebte.

Alles ließ sich erklären. Die Frauen hatten ihre Frühlingsobliegenheiten zu erledigen, Einkäufe, Bestellungen, stetige Änderungen bald von diesem, bald von jenem, und tatsächlich mußte Katja mit ihrer Mutter häufig Schneiderinnen und Hutmacherinnen aufsuchen; außerdem stand sie kurz vor ihrem Examen an der privaten Schauspielschule, die sie besuchte. Ihre Unruhe, ihre Zerstreutheit mochten daher vollkommen natürlich sein. Damit tröstete Mitja sich immer wieder. Doch dieser Trost half nicht – was sein argwöhnisches Herz dagegenhielt, war stärker und bestätigte sich immer deutlicher: Katjas innere Gleichgültigkeit ihm gegenüber wuchs, und mit ihr wuchsen sein Argwohn, seine Eifersucht. Der Direktor der Schauspielschule verdrehte Katja den Kopf mit Lob, und sie konnte nicht an sich halten und erzählte Mitja immer wieder davon. Der Direktor hatte zu ihr gesagt: »Du bist der Stolz meiner Schule« – er sprach alle seine Schülerinnen mit »du« an – und gab ihr zusätzlich zum allgemeinen Unterricht in der Fastenzeit noch Einzelstunden, um in den Examen mit ihr besonders zu glänzen. Es war bekannt, daß er Schülerinnen verführte, daß er Sommer für Sommer eine von ihnen mitnahm in den Kaukasus, nach Finnland, ins Ausland. Und Mitja schwante, daß der Direktor es jetzt auf Katja abgesehen hatte, die zwar keine Schuld daran trug, dies aber vermutlich spürte und begriff und allein deshalb schon in einer schändlichen, sündhaften Beziehung zu ihm stand. Dieser Gedanke war umso quälender, als Katjas nachlassende Aufmerksamkeit allzu offensichtlich war.

Es schien, als lenke sie irgendetwas allmählich von ihm ab. Der Gedanke an den Direktor ließ ihm keine Ruhe. Doch es war nicht nur der Direktor! Es schien, als würde Katjas Liebe allmählich verdrängt durch andere Interessen. Für wen, für was? Mitja wußte es nicht, er war eifersüchtig auf alle, auf alles, und insbesondere auf jenes heimliche Leben, das sie in seiner Vorstellung bereits begonnen hatte zu führen. Ihm schien, sie werde unaufhaltsam weggezogen von ihm, vielleicht hin zu etwas, an das allein zu denken schrecklich war.

Einmal sagte Katja in Anwesenheit ihrer Mutter halb scherzhaft zu ihm:

»Sie, Mitja, urteilen über Frauen noch immer nach dem Domostroi6. Aus Ihnen wird einmal ein richtiger Othello. Ich würde mich nie in...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Übersetzer Dorothea Trottenberg
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Internationale Literatur • Klassiker • Liebe • Russische Literatur
ISBN-10 3-03820-894-9 / 3038208949
ISBN-13 978-3-03820-894-5 / 9783038208945
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