Die Heldin von Auschwitz (eBook)
333 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77796-0 (ISBN)
Die Lagerkommandantin verkündet das Todesurteil. Da schneidet sich die Gefangene Mala Zimetbaum mit einer Rasierklinge in die Pulsadern. Ein SS-Mann packt sie am Arm. Mala reißt sich frei, schlägt ihm ins Gesicht und ruft: »Mörder, bald werdet ihr bezahlen müssen.« Und zu den Tausenden jüdischen Frauen, die im Lager Auschwitz-Birkenau gezwungen sind, Malas Ermordung mitanzusehen: »Habt keine Angst, das Ende ist nah ... gebt nicht auf, vergesst niemals.« - Es ist der 15. September 1944.
Mala Zimetbaum wird 1918 in Brzesko, östlich von Krakau, in eine jüdisch-polnische Familie geboren. Nach einem Aufenthalt in Mainz vor 1918 leben die Eltern mit ihren vier Kindern ab 1928 in Antwerpen. Eine wirtschaftlich florierende Stadt, wo Mala in einem Modegeschäft arbeitet. Im Juli 1942 wird Mala bei einer Razzia festgenommen und im September ins Frauenlager Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort hat sie als Läuferin und Dolmetscherin Einblick in alle Vernichtungsaktionen. Klug und risikobereit nützt sie ihre Informationen und leistet erfolgreich Widerstand: Sie rettet weibliche Häftlinge vor der Selektion ins Gas, verschafft Kranken leichtere Arbeit, knüpft Kontakte zwischen Widerstandsgruppen. Dann verliebt sie sich in den polnischen Häftling Edward Galinski. Ihnen gelingt die Flucht aus dem Lager, doch nach dreizehn Tagen werden sie wieder gefasst.
Barbara Beuys, geboren 1943, arbeitete nach ihrer Promotion in Geschichte als Redakteurin u. a. bei <em>Stern</em>, <em>Merian </em>und <em>Die Zeit</em>. In ihren über 20 Büchern hat sie mehrfach Biografien und Perspektiven aus der Zeit des Nationalsozialismus neu und spannend erzählt. 2017 erhielt sie den Luise-Büchner-Preis für Publizistik. Barbara Beuys lebte als freie Autorin in Köln, sie starb am 19. Juni 2025 im Alter von 81 Jahren.
1918
Die Familie war festlich gekleidet, die Stimmung feierlich-fröhlich, gemischt mit Neugier. Kerzen brannten. In der hebräischen Bibel lädt der 121. Psalm für einen solchen Freudentag zum Gebet ein: »Der Ewige ist dein Hüter / … Der Ewige hütet dich vor allem Bösen / behütet deine Seele. / Der Ewige bewacht dein Gehen und Kommen / von nun an bis in Ewigkeit.« Vor einer Woche, am 20. Januar 1918, einem Sonntag, hatte Chaja Feigel Schmalzer in dem Städtchen Brzesko, rund 55 Kilometer östlich von Krakau, zu Hause ihr sechstes Kind geboren, nach jüdischem Kalender am 7. Schwat 5678. Es ist durchaus möglich, dass ihr Mann, Pinkas Zimetbaum, während der Geburt seiner Frau mit dem Beten von Psalmen Beistand leistete.
Weil es ein Mädchen war, fand am 26. Januar 1918 die feierliche Namensgebung statt. Gewöhnlich wird der Name eines Mädchens vom Vater in der Synagoge beim Schabbat-Gottesdienst eine Woche nach der Geburt verkündet. Doch auch für fromme gesetzestreue Juden konnte es Ausnahmen geben. In diesem Fall wurde die häusliche Namensfeier durch die Autorität des Namensgebers bekräftigt. Diese Information und alle folgenden der Feier sind präzise in der Geburtsurkunde, die sich in Brzesko erhalten hat, aufgezeichnet.
Josef Schmalzer, der Großvater mütterlicherseits, der am 26. Januar 1918 im Kreis der Eltern und Geschwister seiner Enkelin den Namen Malke gab, hebräisch »Königin«, war mit dem Amt des Schammes – jiddisch »Diener« – in einer der vier steinernen Synagogen von Brzesko betraut.
Der Schammes trägt Verantwortung für die reibungslosen religiösen Abläufe in einer jüdischen Gemeinde, deren Verwaltung und kümmert sich um ein ausgewogenes soziales Leben. Dass dieses Amt nur ein vorbildlicher religiöser Jude ausüben darf, bestätigt der Grabstein für Josef Schmalzer auf dem jüdischen Friedhof von Brzesko. Der 1925 Verstorbene erfüllte nicht nur alle Gebote Gottes, er »liebte die Tora-Schüler und kauerte sich in ihren Schatten … und seine Seele stieg zum Himmel«. (Die Tora – »Lehre« – enthält die fünf Bücher Mose, den ersten Teil der hebräischen Bibel.)
Erinnerung ist ein Grundpfeiler jüdischer Identität, ob es die Geschichte der Juden durch die Jahrtausende betrifft oder die Generationen der Familie, aus denen das Individuum stammt. Der Tod beendet kein Leben.
Das neugeborene Mädchen war nach dem Willen des Großvaters ein Familienpfand der Erinnerung, denn drei ihrer Urgroßmütter trugen den Namen Malka bzw. Mala. Da keine Quelle aussagt, mit welcher Namensvariante das kleine Mädchen im Familienkreis aufwuchs, aber da es im Rückblick für alle »Mala« war, darf dieser Name ihr Leben kennzeichnen.
Es sind zwei Töchter und ein Sohn, die mit den Eltern am 26. Januar 1918 Malas Geburt feiern: Gittla (*1908), Salamon Rubin (*1909) und Marjem Jochwet (*1914 in Mainz). Doch die Freude über die kleine Mala war unzertrennlich mit der Erinnerung an Chiel (1906-1907) und Juda (1911-1914) verbunden; für immer würden die früh Verstorbenen als Söhne und als Brüder der drei lebenden Geschwister im Gedächtnis bleiben.
Die Eltern, Pinkas Zimetbaum und Chaja Schmalzer, wurden 1881 in Brzesko geboren; 1905 haben sie dort geheiratet – zweifach. Denn sie vollzogen ihre Heirat nicht nur als Trauung unter der »Chuppa«, dem jüdischen Hochzeitsbaldachin. Sie schlossen auch eine Ehe nach zivilrechtlichen Vorgaben. Weshalb Mala in ihrer Geburtsurkunde die Kennzeichnung »legitim« erhält.
Ihr Vater dagegen galt nach dem weltlichen Gesetz als »illegitim«, weil seine Eltern, Malas Großeltern – Berl Hartman und Marjem Jochwet Zimetbaum – allein nach dem jüdischen Gesetz heirateten. Die Folge war ein ziemliches Durcheinander in staatlichen Papieren, die Malas Vater betrafen: Mal wurden sie auf Pinkas Zimetbaum, mal auf Pinkas Zimetbaum-Hartman ausgestellt. Mala und ihre Geschwister nutzten die Chance und wählten als Erwachsene je nach Vorliebe Zimetbaum oder Hartman zu ihrem Nachnamen.
Malas offizielle Geburtsurkunde nimmt die weltliche Dimension ebenso ernst wie die religiöse: »Das Kind wurde durch Chane Reiser, Hebamme in Brzesko, auf die Welt gebracht.« Welche Wertschätzung dieser weibliche Beruf im Judentum hat, lässt sich an Grabsteinen des Mittelalters ablesen. Nur bei Hebammen wird nach dem Tod auf dem Grabstein ihr Beruf eingemeißelt, und wieder zeigt sich die Kraft jüdischer Erinnerung.
Das 2. Buch Mose berichtet, dass der Pharao den hebräischen Geburtshelferinnen Schifra und Pua, die damals wie das ganze jüdische Volk in Ägypten lebten, einen mörderischen Befehl gibt: »Wenn es ein Sohn ist, sollt ihr es töten; ist es aber eine Tochter, mag es leben.« Doch die beiden Frauen widersetzten sich der Vernichtung ihres Volkes und »ließen die Knaben am Leben«.
Vom alten Ägypten zurück nach Brzesko, das in einer osteuropäischen Kulturlandschaft lag, die seit Jahrhunderten von der jüdischen Bevölkerung geprägt wurde – Galizien. Als Pinkas Zimetbaum und Chaja Schmalzer in Brzesko ein Paar wurden, wo die meisten ihrer Vorfahren zu Hause waren, hatte sich gerade Schreckliches, aber auch Erstaunliches ereignet. Schrecklich war das Feuer, das 1904 ausgebrochen war, allein über 300 jüdische Häuser vernichtet und das städtische Leben zerstört hatte. Doch dank der Tatkraft des Bürgermeisters Henoch Klapholz stieg Breszko in den folgenden Jahren als modernisierte und rundum erneuerte Stadt wie Phönix aus der Asche. Das war doppelt erstaunlich: Denn mit Henoch Klapholz stellte die jüdische Mehrheit von Brzesko zum ersten – und einzigen – Mal den ersten Bürgermeister. Bis dahin war der oberste Bürger der Stadt selbstverständlich ein Katholik und sein Stellvertreter ein Jude.
Die Juden in Brzesko hatten kein Problem damit, bei Verteilung der höchsten städtischen Ämter zurückzustehen. Wussten sie doch, dass ihre religiöse Welt- und Lebenssicht von der christlichen Minderheit akzeptiert wurde. Seit Generationen war jeden Dienstag im Zentrum von Brzesko Markttag. Aus der Umgebung kamen vor allem jüdische Bauern und Händler mit Kutschen und Pferdewagen, um ihre Waren anzubieten. An den Ständen drängten sich Juden und Christen bis zum Sonnenuntergang, kauften und verkauften, tauschten mit großem Hallo Neuigkeiten aus – ein lebendiger Ort friedlich-fröhlicher Kommunikation. Fiel jedoch ein jüdischer Feiertag auf einen Dienstag, verzichteten die Christen ohne Murren auf den Markt. Ähnliches geschah freitags: Die Sitzungen des Gemeinderats wurden selbstverständlich vor Sonnenuntergang beendet. Denn zu diesem Zeitpunkt begann für die jüdischen Vertreter der Schabbat, an dem Ruhe höchste religiöse Pflicht war.
Entscheidend für das grundsätzlich konfliktfreie Miteinander war, dass radikale soziale Unterschiede sich in beiden gesellschaftlichen Gruppen in Grenzen hielten. Auf den Fotos im Regionalmuseum von Brzesko ist auch die ärmere jüdische Bevölkerung vertreten, die in Holzbaracken lebte, kaum Arbeit hatte und von regelmäßiger Hilfe der jüdischen Gemeinschaft abhängig war. Ein solider Teil der jüdischen Bevölkerung jedoch lebte in gutbürgerlichen Verhältnissen. Sie waren Unternehmer, Kaufleute und Handwerker; es gab jüdische Rechtsanwälte, Richter und Ärzte.
Wer heute auf einer Bank im gepflegten Zentrum von Brzesko, dem ehemaligen Marktplatz, sitzt, sieht dieselben Häuser wie einst Chaja Schmalzer oder Pinkas Zimetbaum, wenn sie dienstags auf den Markt oder wenn er in eine Synagoge ging: eine bunte Mischung, gelb und blau gestrichen, roter Sandstein, steinerne Dekorationsgirlanden, große runde Fenster, spitze Türme.
Die Häuser am Marktplatz sind Zeugen einer Vergangenheit, als viele Juden zu einem schönen Gesamtbild der städtischen Gemeinschaft beitrugen. Und keine Hemmungen hatten, ihren Glauben sichtbar an den Haustüren durch eine Mesusa – hebräisch »Türpfosten« – zu bezeugen. In...
| Erscheint lt. Verlag | 19.11.2023 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Schlagworte | Adolf Hitler • aktuelles Buch • Antwerpen • Auschwitz-Birkenau • Besatzung Belgien • Bestseller • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Deportation • Drittes Reich • Flucht • Frauenbiographie • Geschichte 20. Jahrhundert • Holocaust • Holocaust-Überlebende • Josef Mengele • Judenverfolgung • Jüdin • Jüdisch • Konzentrationslager • Liebesgeschichte • Luise Büchner-Preis für Publizistik 2017 • Maria Mandl • Nahostkonflikt • Nationalsozialismus • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Polen • Schindlers Liste • Shoah • Zeitgeschichte • Zweiter Weltkrieg |
| ISBN-10 | 3-458-77796-2 / 3458777962 |
| ISBN-13 | 978-3-458-77796-0 / 9783458777960 |
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