Eugen - Der 7. Splitter (eBook)
328 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-01949-3 (ISBN)
Prolog
Der Baron betrat die Küche. Der Tisch war reichlich gedeckt. Es gab Schweinebraten – er hatte sogar eine knackige Kruste –, Walnüsse, frisches Sauerteigbrot und cremige Lauchsuppe. Das Feuer war fast erloschen, an den Rändern schwelte es noch orange, und die Küche war angenehm warm. In der restlichen Glut stand ein Topf, aus dem Dampf aufstieg.
»Herr Baron, setzt Euch«, sagte die Magd und machte einen Knicks. Er hatte sie erst vor kurzem angestellt, sie war noch neu.
»Herr reicht«, erwiderte der Baron.
»Verzeiht, Herr.« Sie sah ihn kurz an, dann wieder weg. Ihre Augen waren nichts Besonderes, braun und langweilig.
Der Baron nahm Platz. Er war aus Marseille geflohen, weil sich die Pest dort immer weiter ausgebreitet hatte. Die Totengräber hatten nicht mehr gewusst wohin mit den Leichen und sie an den Straßenrändern gestapelt. Es war kein schöner Anblick gewesen, da war ihm sein Landsitz in Speyer lieber.
Die Magd holte den Topf aus der Glut und kippte heißes Wasser in den halbvollen Eimer, den sie vom Brunnen geholt hatte. Sie prüfte die Temperatur mit dem kleinen Finger, schenkte noch heißes Wasser nach, prüfte es erneut und kam dann mit dem Eimer und einem Handtuch zu ihm herüber.
Er tauchte die Hände in das wohlig warme Wasser und betrachtete erneut die Magd. Ihr Gesicht wirkte reif, aber dennoch weich und unerfahren.
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Fünfzehn.«
»Komm nachher in mein Gemach.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Ja, Herr.«
Er rieb sich die Hände am Handtuch trocken. Die Magd schöpfte Lauchsuppe in eine Schüssel und stellte sie auf den Tisch. Er hob den Löffel und plötzlich rannte ein Huhn über den Boden.
Die Küche verschwand und vor ihm tauchte ein Marktplatz auf. Es war laut, Menschen riefen durcheinander, Leute liefen umher, Tiere brüllten. Töpfer priesen ihre Ware an, ein Viehhändler versteigerte einen Ochsen und Kirchenglocken läuteten zur vollen Stunde.
Eine Vision!
Und er kannte die Sprache. Es war Deutsch, genau wie hier in Speyer. Es war also nicht nur ein Ort, den er kannte, sondern er war sogar in der Nähe.
Ein Metzger packte das Huhn und hackte ihm mit großer Geste den Kopf ab. Daneben kniete eine Frau auf dem Marktplatz, die Hand um etwas auf dem Boden geschlossen. Ihr Haar war dunkelbraun und zu einem Zopf geflochten. Sie trug das schmutzige Kleid einer Bäuerin und ein fadenscheiniges Wolltuch über den Schultern.
Wo war der Splitter?
Da! Zwischen den Fingern der Frau glühte es perlweiß. Sie hat einen Splitter gefunden, irgendwo in den deutschsprachigen Landen.
Doch wo war sie genau? Neben ihr stand ein Esel, an dessen Seite ein Sack gebunden war. Hinter der Frau befand sich ein Haus aus Stein mit einem Hammer über der Tür und einem Wappen, aus dem gerade ein älterer Mann trat.
»Hedda, wie weit bist du!«, rief er und kam auf sie zu.
Hedda hob ihre Hand und betrachtete den Fund. Das Glühen wurde stärker.
Der Mann kippte um, wie ein Sack, den man nicht vernünftig hingestellt hatte. Mit ihm fielen alle anderen Menschen und auch die Tiere, der Esel, die Hühner und alles, was lebte.
Es war still. Hedda stand auf dem Marktplatz und starrte ihren Fund an.
»Herr?«, fragte jemand.
Der Markplatz verschwand, mit ihm Hedda und die Toten.
Der Baron befand sich wieder in der Küche.
»Ist etwas mit dem Essen?«, fragte die Magd besorgt. Der Baron schlug mit der Faust auf den Tisch und die Magd wich zurück, die Augen weit aufgerissen.
»Verschwinde!«, knurrte er.
Sie machte eine hastige Verbeugung und suchte das Weite.
Er hatte eine Vision gehabt. Ein weiterer Splitter war gefunden worden. Endlich! Die letzte Vision war Jahrhunderte her, den Finder des Splitters hatte er damals nicht aufspüren können. Er hatte in einem anderen Land gelebt und eine Sprache gesprochen, die er nicht gekannt hatte.
Doch diesmal war es anders. Diesmal war der Splitter ganz in seiner Nähe gefunden worden. Der Baron lehnte sich zurück und ging das eben Erlebte noch mal durch. Das Haus hinter Hedda könnte ein Zunfthaus gewesen sein. Das Wappen über der Tür, er hatte es erkannt, es war schon eine Weile her, dass er dort gewesen war, aber das konnte nur eine bestimmte Stadt in Baden sein.
»Diesmal werde ich dich finden!«, sagte er.
Der Baron kniete vor dem Kamin und stocherte mit dem Schürhaken in der Glut. Das Holz knackte. Ein Scheit fiel um und Funken stoben wie tausend Glühwürmchen auf. Er bereitete ein heißes Bett aus der Glut und legte zwei trockene Holzscheite hinein. Flammen loderten auf, hüllten sie ein.
Es war zwanzig Jahre her, dass er Heddas Heimatstadt aufgesucht hatte. Sie war natürlich längst verschwunden gewesen. Er konnte es ihr nicht verdenken. Sie war die einzige Überlebende der Stadt gewesen, nicht auszudenken, was die Kirche mit ihr angestellt hätte, wenn die sie in einem Ort voller Toter gefunden hätte.
Er hatte sein Anwesen in Speyer verkauft und ein Hofgut in der Nähe der Totenstadt erstanden, auf dem er nun lebte und wartete, dass Hedda einen Fehler machte und so ihren Aufenthaltsort verriet.
Er erhob sich. Es war noch Tag, das schwache Licht des Herbstes fiel durch das Fenster. Dahinter lag der Hof, der von vier Seiten ummauert war, was seine Stube noch dunkler machte. Es roch nach Regen, aber noch war der Himmel nur bewölkt.
Schatten umspielten die ausgestopften Vögel auf dem Kaminsims. Er sah einem der Raben in die leeren Augen.
»Nicht meine beste Arbeit.« Er streichelte ihm über die schwarzen Federn und ging dann zum Fenster. Die Scheibe war trüb und grünlich, aber das Beste, was das Handwerk zu bieten hatte. Er öffnete es, um in den Hof zu sehen. Bis auf den überdachten Brunnen war nichts los, nur zwei Raben stritten sich um ein Stück Brot.
»Komm!«, sagte der Baron.
Der kleinere Rabe sah zu ihm rauf, erhob sich in die Luft und landete auf dem Fenstersims.
Der Baron ließ sich am Tisch nieder und schloss die Augen. Er dachte an den Raben, zuerst war es dunkel, doch dann klärte sich sein Blick und er sah sich selbst, wie er vor dem Tisch auf seinem rustikalen Holzstuhl saß.
»Flieg!«, murmelte er.
Der Rabe hob ab. Einen Augenblick betrachtete der Baron die Felder jenseits des Hauses, auf denen die Knechte arbeiteten; an der Waschküche schrubbten einige Mägde, daneben standen Nussbäume, die demnächst abgeerntet werden würden. Durch die Augen des Raben war das Laub der herbstlichen Bäume intensiver und farbenfroher, als er es je durch menschliche Augen hätte wahrnehmen können.
Der Rabe sank nach unten, der Hof kam wieder in Sicht und mit ihm der größere Rabe, der noch immer nach dem Brot pickte.
»Lande!«, sagte der Baron und der Boden kam rasch näher. Kurz darauf berührten die Krallen den Lehmboden. Der Rabe stand vor seinem Artgenossen, der ihn neugierig betrachtete und dann schnell das Brot mit dem Schnabel aufnahm.
»Kämpfe und nimm, was dir gebührt!«
Der kleine Rabe sprang vor und hackte mit dem Schnabel in Richtung Kopf seines Artgenossen. Der wich zurück und krächzte, dabei fiel ihm das Brot aus dem Mund. Er breitete die Flügel aus, der kleinere sprang hinterher.
»Bleib an ihm dran«, sagte der Baron. Er freute sich schon zu sehen, wer den Kampf überleben würde.
»Herr!«, erschallte eine Stimme. Der Ruf kam aus dem Gang vor seinem Zimmer.
Der angegriffene Rabe flatterte hektisch, aber bevor er abheben konnte, hatte der kleinere ihn erreicht. Er hackte wieder nach ihm und diesmal traf er das Auge. Ein schmerzerfülltes Krächzen hallte durch den Hof.
Jemand hämmerte gegen die Tür. »Herr! Herr!«
»Was?«, rief der Baron und löste sich von dem Raben. Sein Zimmer erschien wieder, von der anderen Seite der Tür kamen undeutliche Geräusche. Er strecke den Rücken durch, dass die Wirbel knackten. Bei diesem Wetter waren die Schmerzen in den Gelenken besonders schlimm, aber das war der Preis der Macht.
Die Stimme aus dem Flur redete undeutlich.
»Sprich lauter!«, rief er.
»Darf ich eintreten?«, drang die Stimme matt durch das Holz. Es war einer seiner Leibeigenen.
»Wenn es denn sein muss!«
Durch das Fenster hörte er Krächzen und schlagende Flügel. Er musste lächeln. Nur ein einziges Wort von ihm hatte genügt, um einen Kampf auf Leben und Tod zu anzustoßen, den nun andere für ihn austrugen. Das war der Inbegriff wahrer Macht.
Die schwere Tür ging langsam auf, der Leibeigene hatte offenbar Probleme sie aufzustemmen. Der Baron nutzte die Zeit, um einen Faden in eine Präpariernadel zu fädeln. Vor ihm auf dem Tisch lag der Torso eines Adlers, die Flügel ordentlich zusammengefaltet...
| Erscheint lt. Verlag | 15.8.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Literatur ► Krimi / Thriller / Horror | |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Bücher Horror • horror buch • Horror Bücher • Horror Bücher ab 18 • horror thriller • Horrorthriller • mystery thriller bücher |
| ISBN-10 | 3-384-01949-0 / 3384019490 |
| ISBN-13 | 978-3-384-01949-3 / 9783384019493 |
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