Die entgleiste Welt (eBook)
264 Seiten
MusketierVerlag
978-3-946635-66-6 (ISBN)
Die deutsche Jüdin Paula Bermann, die in den Niederlanden beheimatet war, führte von 1940 bis 1944 ein Tagebuch. Das Tagebuch ist ein beklemmender Bericht über die Welt im Krieg, ihre niederländische Familie, ihre Familie in Deutschland und das heraufziehende Elend einer systematischen Vernichtung alles Jüdischen.
1. November
Seit einigen Tagen ist es schon Winter, so daß wir den Ofen anmachen mußten, obwohl ich es nicht gerne tat, denn mit Kohlen muß man sehr sparsam sein und da der Volksaberglaube sagt, daß wir einen sehr strengen Winter erwarten (viele wilde Schwäne flogen über Friesland) und wir weniger Kohlen wie vergangenes Jahr haben, will ich so sparsam wie möglich sein. Nur keinen strengen Winter, das fehlte noch. Not ist jetzt schon genug. Seit fast 3 Wochen ist Amsterdam von Bomben verschont geblieben und die Nächte sind ruhig, nur hoch in der Luft hört man viele Fliegmaschinen summen, die ihr blutiges, mörderisches Handwerk vollbringen oder heimwärts kehren. Welch ein trauriger Beruf und alles wird für das liebe Vaterland getan, denn die Liebe dafür sitzt jedem im Blut und ist angeboren.
Nachts um 12 Uhr bis morgens 4 Uhr darf niemand mehr auf die Straße, die Elektrische hört um 7 Uhr auf zu fahren. Cafés, Tanzgelegenheiten etc. müssen um 11 Uhr geschlossen sein und ein düsteres, geheimnisvolles Schweigen hüllt die finstere, dunkele Stadt ein, deren Finsternis einen drückt. Mir wenigstens geht es so, wie ein Alpdruck legt sich die Nacht auf meine Brust und beklemmt mich. Ich möchte um nichts in der Welt allein auf die Straße gehen. Täglich fallen durch die Düsternis Menschen ins Wasser und kann man am besten daheimbleiben. Ich stricke viel, still kann ich nicht sitzen.
Morgen müssen Caen und ich einen schweren Gang machen. Bei einem früheren Kollegen von Caen, Wijnstroom in Bloemendaal, ist ein großes Unglück geschehen, der 20jährige Sohn hat in jugendlicher Unbesonnenheit mit anderen Jungens einen antideutschen Club aufgerichtet und nun versuchten die Jungens, Sabotage auszuüben und das kam natürlich ans Licht und so wurden 6 Jungen am Montag schwer verurteilt. Der Sohn von der bekannten Familie bekam, da er der älteste war, drei Jahre Zuchthaus. Furchtbar.
Die ganze Existenz vernichtet durch jugendliche Unbesonnenheit und welch ein Unglück und Leid ist über die armen Eltern gekommen, die von nichts wussten und so korrekte, nette Menschen sind. Wie ist es möglich, daß so ein Junge so etwas tun kann? Das ist nun ein Christ, wäre es nun ein jüdischer Junge gewesen, die Todesstrafe wäre über ihn verhängt worden, aber ein jüdischer Knabe tut solche unüberlegte Dinge nicht. Welch ein Leid für die Menschen, für den Jungen und obwohl ich den Sohn fast nicht kenne, denke ich immer voll Mitleid und Erbarmen an ihn. Armes Kind. Keine Ruhe hätte ich als Mutter mehr Tag und Nacht. Und da muß man morgen hinfahren und sogenannte Worte des Trostes sprechen, wo man doch weiß, welches verhängnisvolle Schicksal diese armen Leute getroffen hat. Dafür bringt man seine Kinder groß, damit sie solche dummen Streiche ausholen und sich selbst ihr Leben verderben. Wie wird dieser verwöhnte Junge dieses Leben ertragen? Wird er tapfer genug sein? Die Gewissensbisse werden ihn quälen und er wird mit tiefem Schmerz an das Leid, das er sich und seinen Eltern zugefügt hat, denken.
Ich klage oft über unsere Kinder, daß sie so brutal sind, aber da habe ich doch lieber ihre Frechheit als Dummheit, die solche Dinge tut. Welch ein Verdruss! Das Heim der Eltern, echt holländisch, voll blauem Delft und Antiquitäten, ein wunderbares Zimmer hatte der Junge, verwöhnt und nun sitzt er im Zuchthaus, muß wahrscheinlich nach Deutschland. Und die anderen Kinder, wo von der eine erst 16 Jahre alt war. Wenn nur der Krieg aus wäre!
Seit 3 Tagen hat Italien den Krieg an Griechenland erklärt und nun sitzt auch dieses Land im Krieg und wird wohl, wenn nicht bald Hilfe kommt, besiegt werden. Warum ist ein Land so hart gegen das andere? Bloß weil es Macht haben will, ermordet man Menschen, bringt Frauen und Kinder, Männer in Trauer, vernichtet Länder. Kultur kommt ab, an Stelle aufzubauen. Man darf nicht zu sehr grübeln, denn sonst könnte man irre an sich selbst und an der Menschheit werden.
England hält bis jetzt die deutschen Bombenanfälle aus, aber welch ein Schade angerichtet wird, wie viel Tote und Verwundete es gibt, davon hört man nichts, bloß ahnen kann man, welch ein Leid sich dort abspielt. Auch Deutschland wird von englischen Fliegern besucht und was es dort gibt, davon hört man auch wenig, alles ist verschwiegen, die Zeitungen sagen nichts und man tastet im Dunkeln. Früher las man noch, daß englische Flieger hie und da in Holland waren, aber in letzter Zeit werden keine Orte genannt und man munkelt bloß, wagt nichts weiter zu sagen, da man keine Lügen verbreiten will und ängstlich ist.
Überall lauert Gefahr und selbst guten Bekannten kann man nicht vertrauen, bewusst oder unbewusst können sie einem Schaden tun. Viele holländische Professoren und andere bekannte Persönlichkeiten wurden wieder wegen Indien arretiert. Wie traurig ist das alles, unschuldig und doch verurteilt. Jüdische Geschäfte müssen sich anmelden, sollen sie verarisiert werden? Angst und immer wieder Angst ist es, die einen beklemmt und ich schlafe schlecht und ein geheimnisvolles Sirenengeläut, durch das wir eine dieser Nächte geweckt wurde, machte mich beben, so daß mich Schüttelfrost packte. Keine Abwehrkanonen mehr, alles ist geheimnisvoll und dadurch beängstigender. Wer wird nun noch in den Krieg kommen? Bulgarien wird wohl auch an der Seite Italiens mitkämpfen und die Türkei wartet ab. Es wird ein großer Balkankampf werden und der Streit ist nun mehr im Osten. Rußland schweigt, was tut Stalin? Er ist natürlich im Herzen ein Freund Hitlers, denn Diktatoren fühlen füreinander, ihre Art ist dieselbe. Hitler war nun selbst bei Franco, auch bei Mussolini und selbst bei Petain und Laval. Frankreichs Regierung, die ihren Sitz in Vichy hat, hat einen Frieden mit Deutschland getroffen und Deutschland bekommt Elsass-Lothringen, Italien Tunis, Nizza, Spanien Marokko und Japan Indo-China. Frankreich stellt Unterseeboote, Fliegmaschinen und Kriegsgefangene Deutschland zur Verfügung.
Die Beute ist verteilt. Nun geht es darum, die englische Flotte zu vernichten und der Kampf wird sich wohl in der mittelländischen See an den Dardanellen abspielen. Welch eine Kriegsstrategie! Wir gewöhnliche Menschenkinder begreifen nicht, wozu dieses grausame Spiel dient, wir ersehnen nur den Frieden herbei, der für uns arme Juden das Ende des Leides bedeutet. Ich bin so pessimistisch und will keinem optimistischen Glauben Gehör schenken, zu sehr bin ich davon überzeugt, daß wir noch schlimmere Zeiten mitmachen, daß wir fast noch am Anfang des Elends stehen.
Heute vor acht Tagen warfen die Engländer wieder Bomben auf Amsterdam und dieses Mal wurden die Baracken im Wilhelminakrankenhaus getroffen, Baracken, wo deutsche Soldaten verpflegt wurden. 22 Soldaten wurden getötet, viele schwerverletzt, ein Jammer für die Eltern, Verwandten, Frauen. Auch Bürger wurden getroffen, man hörte von 24, aber die Zeitungen schweigen, nichts darf mehr an die Glocke kommen, alles muß in grausames, erschreckendes, banges tödliches Schweigen gehüllt sein und wir Menschen quälen uns, werden gepeinigt, d.h. unsere Nerven werden aufgejagt wie ein Reh, das vom Jäger verfolgt wird.
Heute Nacht ertönten 3x Luftgefahrsirenen und dieser schreckliche Klang versetzt einen in tödliche Angst, denn dieser Sirenenklang ist wie die Hölle, Angst und Schrecken, Unruhe erweckt er. Wir stehen nie auf, wozu auch, wenn das Ende da ist, muß es halt sein. Unsere Kinder sind auch nicht ängstlich, wir sind ja alle oben beisammen. Coen und Hans schlafen schnell wieder ein, allein ich sitze mit Schüttelfrost und Herzklopfen aufrecht.
Das Wetter war gestern Abend wieder hell und schön und viele englische Flieger fliegen über Amsterdam nach Deutschland und werfen genau wie die Deutschen umgekehrt ihre Bomben auf Bürger und Häuser und zerstören.
In Griechenland geht der Kampf weiter. Die Italiener konnten bis jetzt noch nicht viel erreichen, aber Griechenland wird auch viel mit Bomben belegt. Und das tapfere Völklein wird seine Freiheit teuer bezahlen müssen. Wie man hört, wird ihm von England mit Fliegmaschinen und Truppen geholfen, aber wird es gegen die große, italienische Macht standhalten können? Sonst bleibt alles ruhig im Osten, aber Serbien (Jugoslawien) und Bulgarien werden wohl auch in den Krieg hineingezogen werden. Dann bleiben bloß noch Rumänien, Türkei und Rußland. Der letztere Staat bleibt schweigend.
Dunkel sind die Tage, abends um 6 Uhr hüllt die Dämmerung die Stadt in Nebeln ein und eine Stunde später ist alles tiefdunkel und wer nicht weg muß bleibt zuhause, täglich macht die Finsternis Opfer, die meisten ertrinken im Wasser, da sie den Weg verlieren. Morgens um 9 Uhr darf man erst die Vorhänge aufmachen und das wird in den kommenden Wochen noch länger dauern. Geschäfte öffnen dann erst um 9½ Uhr. Schulen beginnen später aber auch diese dunkeln Tage werden umgehen und Licht wird wieder kommen. Wird es auch symbolisch wieder Licht aus Finsternis für uns Juden werden?
Wir waren am Samstag bei der christlichen Familie in Bloemendaal, deren Sohn zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt ist. Die Frau ist um Jahre gealtert, voll kleinen unzähligen Falten ist ihr Gesicht und doch ist sie tapfer. Es gibt halt Sonnenmenschen, die eine aufgeweckte Natur haben und nie den Mut verlieren. Der Sohn ist auch tapfer, er ist mit seinen Kameraden noch im Gefängnis in Haarlem, wird sehr nett von den Deutschen behandelt und dürfen sie ihn 2x in der Woche besuchen, aber ob er in Holland bleiben darf, ist fraglich. Die Eltern haben...
| Erscheint lt. Verlag | 31.3.2023 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur |
| ISBN-10 | 3-946635-66-0 / 3946635660 |
| ISBN-13 | 978-3-946635-66-6 / 9783946635666 |
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