Kein Bleiben in der Bleibtreustraße (eBook)
257 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
9783756566426 (ISBN)
Joachim Burdack wurde 1951 in Berlin geboren. Dort ist er auch aufgewachsen. 1959 zog er mit seinen Eltern von Ost- nach West-Berlin. Er ging in Charlottenburg, im Wedding und in Reinickendorf zur Schule. Später studierte er Geographie in Berlin und den USA. Danach arbeitete er an wissenschaftlichen Instituten in Berlin, Bamberg und Leipzig. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zu Themen der Stadt- und Regionalentwicklung. Heute lebt er mit Frau und Katze in Leipzig und schreibt Romane.
Joachim Burdack wurde 1951 in Berlin geboren. Dort ist er auch aufgewachsen. 1959 zog er mit seinen Eltern von Ost- nach West-Berlin. Er ging in Charlottenburg, im Wedding und in Reinickendorf zur Schule. Später studierte er Geographie in Berlin und den USA. Danach arbeitete er an wissenschaftlichen Instituten in Berlin, Bamberg und Leipzig. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zu Themen der Stadt- und Regionalentwicklung. Heute lebt er mit Frau und Katze in Leipzig und schreibt Romane.
1. Als Lou und Ricky sich trafen
Juli 1970
Max kannte in Moabit eine Wohngemeinschaft. Dort wurde am Wochenende gefeiert. Er wusste nicht, aus welchem Anlass, aber das war im Grunde auch egal. Ob Geburtstag, Einzug, Semesterferien oder bestandene Prüfung: Die Gründe für eine Party waren letztlich austauschbar. In einer Berliner WG ließ sich immer etwas feiern. Max fragte Ricky, ob er Lust hätte mitzukommen. Da Ricky nichts vorhatte, willigte er ein.
Er zog sich das Hemd an, das ihm seine Mutter frisch gebügelt hatte. Eine Flasche Lambrusco hatte er auch noch übrig, die nahm er mit. Abends traf er sich mit Max an der Bushaltestelle, und sie fuhren mit der Linie 1 zur Gotzkowsky-Brücke. In wenigen Minuten Fußweg erreichten sie von dort die Jagowstraße. Die Tür des Mietshauses, in dem die WG residierte, war unverschlossen. Rasch stiegen sie die Treppe hinauf, der lauter werdenden Musik folgend. Die Wohnungstür der großen Altbauwohnung im vierten Stock fanden sie angelehnt vor. Ein Pappschild verkündete: Wir feiern! Alle Nachbarn sind eingeladen.
Die meisten Türen in der Wohnung standen offen. Vom Flur gelangte man in das große Berliner Zimmer, das als Gemeinschaftsraum diente. Hier waren die Möbel beiseite geräumt, um Platz zum Tanzen zu schaffen. In der Küche gab es Nudelsalat und Bier. Ricky stellte seinen Rotwein dazu und nahm sich eine Flasche Schultheiß aus dem Kasten.
Noch war nicht viel los, aber gegen zehn Uhr füllten mehr als dreißig Partygäste das Berliner Zimmer. Jemand hatte seine Sammlung neuer Hit-Singles mitgebracht und agierte als DJ. Nun kam Stimmung auf.
Ricky gefiel die entspannte Atmosphäre auf der Fete, aber je weiter der Abend fortschritt, desto mehr langweilte er sich. Er kannte hier niemanden außer Max. Als er gerade in Erwägung zog zu gehen, wurde er von der Seite angesprochen: »Warst du nicht mal Sänger bei den Beat Masters? Ich hab’ früher mal für euch geschwärmt, war ein richtiger Fan. Ich hab‘ immer zu eurer Musik in der Dachluke oder im Pop Inn getanzt. War ‘ne schöne Zeit. Du warst damals ein echt cooler Typ, so im Scheinwerferlicht auf der Bühne, fand ich. Ich hab' sogar ein Autogramm von dir. Ricky heißt du, nicht wahr? Ich bin übrigens die Lou. Eigentlich heiße ich Louisa, aber Lou gefällt mir besser.«
Die hübsche Dunkelhaarige war modisch gekleidet. Sie trug eine Schlaghose, eine weich fallende Bluse im Tunikaschnitt mit Blumenmuster und dazu eine Kette mit bunten Glasperlen.
»Jetzt findest du mich wohl nicht mehr so cool?«, sagte Ricky lächelnd und kramte in seinem Gedächtnis, konnte sich aber nicht an eine Louisa erinnern. Sie muss damals etwa sechzehn Jahre alt gewesen sein. Solch junges Gemüse hatte ihn nicht interessiert. Mit kleinen Mädchen im Minirock, die ihr Haar beim Tanzen wild hin und her warfen, konnte er nichts anfangen. Sweet Little Sixteen, Chuck Berry’s Hymne auf pubertierende Teenager, hatte er immer für pädophilen Schwachsinn gehalten. Ricky stand auf ältere Frauen; so mindestens zwanzig Jahre sollten sie schon sein. Als er jetzt aber sah, wie sich die kleine Louisa entwickelt hatte, wunderte er sich, wie er sie damals übersehen konnte.
»Na ja«, erwiderte Lou und schaute auf Rickys frischgebügeltes Hemd. »Jetzt wirkst du eher, wie soll ich sagen: normal.« Dabei verzog sie ihre Mundwinkel, als hätte sie gerade über Fußpilz oder Mundgeruch gesprochen.
»Nur, weil ich ein sauberes Hemd anhabe, bin ich noch lange kein Spießer«, protestierte Ricky.
Lou rollte mit den Augen und machte eine abwehrende Handbewegung: »Sorry, sorry, ich meine natürlich nicht, dass du jetzt total ätzend aussiehst. Nee, ganz und gar nicht, nur eben nicht mehr so super wie früher auf der Bühne. Alt werden ist eben Scheiße.«
»Dafür siehst du heute wahrscheinlich ausgeflippter aus als damals. Das gleicht sich dann ja irgendwie aus«, entgegnete Ricky, fügte jedoch schnell hinzu: »Der Hippie Look steht dir aber ausgesprochen gut.«
Lou strahlte: »Findest du wirklich? Die Bluse ist traumhaft, nicht wahr? Die habe ich aus Ibiza. Da haben sich viele Hippies niedergelassen, die super Schmuck und Klamotten machen. Ich bin im letzten Jahr den ganzen Sommer dort gewesen. Das war so toll! Nach dem Abitur wollte ich erst mal frei sein. Der ganze Schulstress hat unheimlich genervt, und das miese Wetter in Berlin hat mir den Rest gegeben. Auf Ibiza gab es tolle Partys unter freiem Himmel mit Joints ohne Ende. Da haben nur noch ein paar gute Bands gefehlt. Ihr hättet nach Ibiza kommen sollen, um dort zu spielen.«
»Die Beat Masters gibt es schon lange nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Außerdem war ich im letzten Sommer nicht in Europa, sondern in Amerika zum Studium.«
»Ist ja Wahnsinn! Da warst du doch bestimmt in Woodstock auf dem Festival. Ich hab‘ gerade den Film gesehen. Ich hätte alles dafür gegeben, in Woodstock dabei zu sein. Erzähl doch mal«, sagte Lou voller Enthusiasmus.
»Ich war nicht in Woodstock«, erwiderte Ricky trocken.
»Also, wenn ich in Amerika gewesen wäre, hätte ich mir das auf keinen Fall entgehen lassen. Da hätte mich niemand von abhalten können. Warum bist du denn nicht nach Woodstock gefahren?«, fragte Lou und schaute Ricky ungläubig mit großen Augen an. Jetzt fiel ihm auf, dass sie ihre Ansagen gern mit expressivem Minenspiel unterstützte. »Sie hätte eine gute Stummfilmschauspielerin abgegeben«, dachte er. »Nur, dass sie für einen Stummfilm zu viel redet.«
Bevor Ricky etwas sagen konnte, wurde - zum wer weiß wievielten Mal - die Platte In the Summertime von Mungo Jerry aufgelegt. Sofort füllte sich die Tanzfläche, und der Geräuschpegel stieg deutlich. Mit einer Geste der Hand signalisierte Ricky seiner Gesprächspartnerin, dass er sie bei dem Krach schlecht verstehen könne und deutete auf den Flur.
Zur Kommunikation ging man bei einer WG-Party am besten in die Küche. Hier war es ruhiger. Einige Leute rauchten und unterhielten sich, andere suchten nach etwas zu essen oder holten sich eine neue Flasche aus dem Bierkasten. Auf dem Küchentisch stand eine halb volle Schüssel mit Nudelsalat, daneben lagen Gabeln. Saubere Teller gab es nicht mehr. Benutzte Teller stapelten sich dagegen im Spülbecken.
Ricky wollte sich Zeit für seine Antwort lassen. Nicht, dass er nicht wusste, was er sagen wollte. Das war nicht das Problem. Es ging darum, den richtigen Ton zu treffen. Er hatte die Frage nach Woodstock inzwischen so oft gestellt bekommen, dass sie ihn nervte. Seine Freunde verstanden nicht, warum er, Ricky Herzog, ehemaliger Sänger der Beat Masters, einer bekannten Berliner Amateurband, nicht zu dem Rockmusikfestival gepilgert war, um all die großen Stars live auf der Bühne zu sehen: Santana, die Who, Joe Cocker und vor allem Jimi Hendrix. Wie hatte er sich das entgehen lassen können? Rickys Standardantwort bestand aus einer mit der Zeit immer missmutiger artikulierten Gegenfrage: »Würdest du denn für ein Beat-Konzert von Berlin nach Madrid oder Moskau fahren? Soweit hätte ich es nämlich von Indiana nach Woodstock gehabt.«
In Berlin hatte man keine Vorstellung von der Größe der USA. Wie sollte man Menschen, die eingemauert auf einer kleinen Insel lebten, auch die Entfernungen in Nordamerika vermitteln? Auf keinen Fall wollte Ricky aber die hübsche Lou durch eine übellaunige Bemerkung verschrecken. So wartete er, bis er ein leicht gequält wirkendes Lächeln zustande brachte und sagte dann in sanftem Ton: »Ach, weißt du, das war natürlich schade, aber ich war ja gerade erst in Amerika angekommen und kannte niemanden. Außerdem hatte ich ehrlich gesagt genug damit zu tun, mich auf dem Campus an der Uni zurechtzufinden. Ohne ein eigenes Auto hätte ich ohnehin nicht gewusst, wie ich nach Woodstock kommen sollte.«
»Irgendwie wäre es schon gegangen«, hakte Lou nach. »Also ich wäre zur Not auch getrampt«.
»Später habe ich an der Uni in Bloomington Steve aus New York kennengelernt, der war in Woodstock dabei. Der fand das Festival gar nicht so toll. Alles soll ziemlich chaotisch gewesen sein: verstopfte Straßen, zu wenig zu essen, kaum Sanitäranlagen und mieses Wetter mit Regen und Schlamm. Nicht mal genug Dope hat es gegeben. Die Musik hat er nur am Rande mitbekommen. In den Zeitungen stand, dass die Leute nur mit viel Glück einer Katastrophe entgangen sind.«
»Ich sehe schon, du bist eine echte Spaßbremse geworden«, sagte Lou und verzog das Gesicht. »Im Film kommt das ganz anders rüber: eine tolle Atmosphäre mit super Musik!«
»Dass es im Film besser aussieht, stimmt. Als der Streifen zu Ostern in die Kinos in Amerika kam, haben die Leute auch plötzlich anders über Woodstock geredet. Alle haben Steve nun beneidet und der hat gern mitgespielt, hat erzählt, wie toll die Stimmung war: eine einmalige spirituelle Erfahrung, welche Leute, die nicht dabei waren, gar nicht nachvollziehen könnten.«
»Jedenfalls ist Woodstock das Einzige, was mich an Amerika interessiert hätte. Na ja, vielleicht noch New York und San Francisco, aber sonst finde ich Amerika doof!«, fiel ihm Lou ins Wort.
»Mir hat es dort gefallen«, entgegnete Ricky. »Die Leute sind aufgeschlossen, die Uni war gut und in den Bars hast du während der Happy Hour zwei Drinks für den Preis von einem bekommen. Im Übrigen kommen die Spitzenbands aus Woodstock sowieso bald nach Berlin. Ich habe gehört, dass Jimi Hendrix, Ten Years After und Canned Heat im September in der Waldbühne spielen. Da gehe ich bestimmt hin. Du kannst ja mitkommen.«
»Das ist doch nicht das gleiche«, sagte Lou trotzig. »Das ist doch ein Unterschied wie Raubtiere in freier...
| Erscheint lt. Verlag | 1.11.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | 1970 • Berlin • Haschrebellen • Kunstfälschung • Rockmusik • Studentenrebellion |
| ISBN-13 | 9783756566426 / 9783756566426 |
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