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Liebstöckel und Wegwarte -  Inka Mimberg

Liebstöckel und Wegwarte (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
690 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
9783756566310 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
(CHF 9,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
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'Mein erster Eindruck von Signe war, dass sie eine Attitüde natürlicher Arroganz an sich hatte, die mir nicht passte, da ich sie als herrisch wahrnahm. Sie war nicht hochmütig in dem Sinne, dass sie sich über andere erhob. Ihr Umgang mit mir stellte sich als freundlich und verbindlich heraus. Ich durfte nichts gegen sie haben. Es war etwas an ihr, dass mich wütend machte, obwohl sie mir bis dahin kaum etwas erzählt hatte.' Die Pandemie lässt die Menschen in Deutschland innehalten. Eine Frau erhält unerwartet Nachricht aus der Heimatstadt ihrer Vorfahren. Sie macht sich daran, die Geschichte ihrer Familie zu verstehen und das Verschwiegene aufzudecken. Dabei ahnt sie nicht, wem sie die wohlgehüteten Familiengeheimnisse anvertraut...

Inka Mimberg wurde 1978 in einer westfälischen Kleinstadt geboren. Sie lebt mit Mann und Kind in Köln, wo sie Germanistik und Romanistik studiert hat und als Lehrerin arbeitet.

Inka Mimberg wurde 1978 in einer westfälischen Kleinstadt geboren. Sie lebt mit Mann und Kind in Köln, wo sie Germanistik und Romanistik studiert hat und als Lehrerin arbeitet.

Swantje

Um die psychische Verfasstheit meiner Patientin zu erfassen, lohnt es sich, verehrte Leser, ein Blick in Kindheit und Jugend und in ihre Beziehung zu anderen Menschen zu werfen.

Der wichtigste Mensch in Signes Leben war, neben ihren Familienmitgliedern, eine Frau namens Swantje, von der ich bereits kurz sprach. Oberflächlich könnte man sagen, dass Signe und Swantje beste Freundinnen waren, aber die Beschaffenheit von Freundschaften ist so komplex, dass es sich lohnt, sie in unserem konkreten Fall genauer zu betrachten.

Swantje hatte auch eine Fehlgeburt erlebt. Daran musste Signe unwillkürlich denken, als sie selbst in dieser Situation war. Bei Swantje war es allerdings schlimmer gewesen, denn sie war jünger und weicher und wusste nicht, dass Katastrophen real sind. Das hatten ihre Eltern ihr nicht mitgegeben. Es war so arg, dass es sogar ihre Freundschaft zu Signe beschädigt hatte.

Swantje und Signe waren zusammen im Kindergarten gewesen. Sie kannten sich seit Beginn ihres Lebens. Ihre Mütter hatten sich im schwangeren Zustand im Krankenhaus kennengelernt. Swantjes Mutter hatte Anfang September ihr zartes Mädchen zur Welt gebracht. Signes Mutter Karin war auf demselben Zimmer der Wöchnerinnenstation, da sie in ihrem achten Schwangerschaftsmonat frühzeitige Wehen hatte und ein paar Tage beobachtet werden sollte.

Die jungen Mütter hatten sich gut verstanden und bald festgestellt, dass ihre Männer Kollegen waren, die an derselben Schule arbeiteten. Während ihres Krankenhausaufenthalts hatte Karin rasch für die frischgeborene Swantje ein hübsches Babydeckchen gestrickt, worauf Swantjes Mutter Hera, als Signe dann im November, und nur zwei Wochen zu früh, auf die Welt kam, Karin als eine der ersten Gratulanten besuchen kam und einen Johannisbeerstrauch im Topf in den Händen hielt. Geschnittene Blumen kamen für die beiden Frauen nicht in Frage. Den Strauch pflanzte Karin alsbald im Garten des Einfamilienhauses ein, als sie mit der gesunden Signe das Krankenhaus verlassen hatte.

Die Mütter blieben befreundet, zumal der tägliche Kontakt ihrer Männer am Arbeitsplatz die Verbindung durch gemeinsame Gesprächsthemen und Partys bestärkte.

Als Swantje in den Kindergarten kommen sollte, hatte ihre Mutter sich frisch von ihrem Mann getrennt. Als Alleinerziehende konnte sie jede Unterstützung im Alltag gebrauchen.

Signes Familie hatte eine Haushälterin, die Signe am späten Vormittag vom Kindergarten abholen würde. So wurde beschlossen, dass Swantje in denselben Kindergarten wie Signe gehen sollte und dass sie nach dem Kindergarten mit zu ihr nach Hause kam. Die beiden Mädchen genossen diese Verabredung, denn bald zeigte sich, dass es trotz aller Wesensverschiedenheiten eine tiefe Verbundenheit gab.

Signe, die sich von niemandem ärgern ließ, die haute und laut schimpfte, wenn ihr etwas Unrechtes widerfuhr, ließ bei ihrer Freundin Swantje alles zu. Sie durfte ihrer Lieblingspuppe einen Büschel Haare ausreißen. Sie durfte Signe beim Frühstück aufs Trinktütchen drücken, sodass Signe den Orangennektar auf den Tisch prustete und Ärger von den Erzieherinnen bekam. Signe wusste, dass Swantje ihren Vater vermisste, der nach den ewigen Streitereien zuhause ausgezogen war.

Bald wurde Swantje sanfter und zeigte ihr eigentliches Wesen. Sie war ein zartes Kind, das auf Außenstehende spröde wirkte. Sie hatte eine rasche Auffassungsgabe und beurteilte das, was sie umgab, mit Nüchternheit, wie es selten bei kleinen Kindern zu beobachten ist. Da, wo Signe an neblig trüben Herbstvormittagen Trollhände im Kindergartenhof sah, erkannte Swantje die arttypisch krumm wachsenden Zweiglein eines Korkenzieherhaselstrauchs.

Ein ums andere Mal regte Signe ihre allerliebste Spielgefährtin dazu an, Kindvertauschen zu spielen. Dafür stahlen sie sich auf die Toiletten im Kindergarten, zogen ihre Kleidung bis auf die Unterwäsche aus und die der Freundin wieder an. Die Erzieherinnen mussten sie nun mit dem Namen der Freundin anreden. Sie machten bei diesem Spielchen bereitwillig mit. An manchen Tagen ging das Verwechslungsspiel so lange, dass die Mädchen ohne zu zögern auf den Namen der Freundin hörten.

Spätestens, wenn sie bei Signe zuhause angekommen waren und in Signes wilder Gartenecke auf die hohe Kiefer kletterten, wurde klar, dass Swantje nicht Signe war.

*

Eines Mittags war die blasse, kluge und vorsichtige Swantje mit den auffällig hellgraublauen Augen, auf Signes Aufforderung hin, hinter ihrer Freundin her, von einem Ast zum nächsten, in den Baum geklettert.

Signe hockte seit ihrem vierten Lebensjahr täglich in diesem Baum. Sie schaffte es mühelos, bis in die Baumkrone zu klettern, was sie am vorhergegangenen Nachmittag getan hatte. Dort war sie auf einer Höhe mit dem Dachfenster des freistehenden Reihenhauses aus roten Backsteinen. Hinter diesem Dachfenster tat sich der ausgebaute Dachboden auf. Dieser war das Zimmer von Signes Vater. Ein Raum, dessen Wandnischen auf beiden Längsseiten mit Bücherregalen zugestellt waren, in denen sich die Bretter unter der Last der unzähligen Geschichtswerke, Romane, Novellen, Sekundärtexte, Anthologien und Zeitschriften nach unten bogen. Von der Krone der Kiefer aus hatte Signe beim ersten Mal, als sie ihr Ziel kletternd erreicht hatte, ihrem Vater „Papa!“ zugerufen. Dieser saß nachmittags, wenn es seine knappe Zeit zuließ, gerne in seinem Ruhesessel und las die Zeitung. Ihm zuzuwinken traute sie sich nicht, denn dazu hätte sie eine Hand vom Stamm lösen müssen, der oben in der Krone dünner und weniger stabil als unten war.

Entweder hörte Signes Vater seine Tochter nicht rufen, weil die Entfernung zwischen Sessel und Dachfenster zu groß oder das Fensterglas zu dick war. Oder er bemerkte sie nicht, weil er in seine Lektüre vertieft war. Auf jeden Fall gab er Signe kein Zeichen, dass er ihren Ruf wahrgenommen hatte. Seltsam erschien es Signe doch. Sie hörte ihren Vater immer, wenn er sie rief Vielleicht war es besser so. Signe war sich nicht sicher, ob es nicht für Kinder zu gefährlich war, so hoch in einen Baum zu klettern. Sie wollte ihrem Vater bloß keinen Schrecken einjagen. Die Ecke im Vorgarten ihres Elternhauses war ihr Bereich. Hierhin verirrte sich nie jemand, schon gar nicht, um auf sie aufzupassen, denn da hatte sie das Vertrauen ihrer Eltern. Dafür musste sie Entscheidungen treffen, was sie sich selbst zutrauen durfte und was nicht.

Heute war Signe erneut bis fast in die Krone geklettert und Swantje war ihr dicht auf den Fersen. Dabei hatte sie geflissentlich nicht nach unten geschaut. Sie schaffte es bis zur Mitte des Baumes Dann verweigerte sie jede weitere Bewegung. Signe kletterte behende zurück und spürte die Anspannung ihrer Freundin. Sie zeigte ihr, auf welchen Ast sie ihren Fuß setzen musste, um abzusteigen und wo sie sich am besten festhalten konnte, aber Swantje wollte nicht. Vor Angst rührte sie sich nicht.

Die Haushaltshilfe Frau Poller war nur ein paar Meter entfernt, in der Küche. Gerade dabei, das Mittagessen aufzuwärmen, das Signes Mutter am Vorabend zubereitet hatte. Es gab Königsberger Klopse. Signe liebte dieses Gericht. Da sie die Klopse durch das geöffnete Küchenfenster riechen konnte, drängte sie Swantje, nun endlich vom Baum herunterzukommen.

Es half nichts. Swantje blieb sitzen und sprach kein Wort. Signe blieb nichts anderes übrig, als ins Haus zu laufen und Frau Poller Bescheid zu geben. Das Problem mit Frau Poller war, sie war jeden Tag mit einem engen Rock und Stöckelschuhen unterwegs und dies war keine geeignete Bekleidung, um ein schmollendes fünfjähriges Mädchen aus zwei Metern Höhe von einem nadeligen Baum zu holen. Frau Poller versuchte es zunächst mit Anweisungen. Dann schickte sie Signe ins Haus, sie solle den Herd herunterdrehen.

Schließlich zog Frau Poller ihre Schuhe aus und ihren Rock hoch und kletterte in den Baum, griff dem trotzigen Mädchen mit ihrem linken Arm um den Bauch und schwang sich selbst samt Kind hinunter vom Baum. Das sah holprig und unbeholfen aus. Doch es funktionierte! In der versteinerten Frau Poller steckte ein Mensch, der auf Bäume klettern konnte. Das war erstaunlich. Signe verkniff sich einen Kommentar. Sie mochte Frau Poller gerne. Sie mochte ihre engen Röcke und ihre Stöckelschuhe. So eine altmodisch elegante Damenkleidung zog ihre Mutter nicht an.

Frau Poller zeterte leise über ihre eingerissene Feinstrumpfhose und darüber, dass die Kinder überhaupt draußen im Baum waren. Wenn es nach ihr ginge, würde sie sie nach dem Kindergarten bis zum Mittagessen vor den Fernseher setzen. Dort würden sie wenigstens sauber bleiben. Aber nein, der Fernseher war in dieser Familie bis auf eine abendliche Kindersendung tabu.

Als die beiden Mädchen mit Pferdeschwanz und Cordlatzhosen auf der Küchenbank saßen, nachdem sie sich, ohne einen Mucks von sich zu geben und ohne Wasserflecken auf den Fliesen im Gästebad zu hinterlassen, mit Seife die Hände gewaschen hatten, mochte sie die Kinder wieder. Spontan legte sie ihnen leicht zerknitterte Servietten mit Häschenmotiv unter das Besteck, die sie im durcheinandergewirbelten Küchenschrank der Familie gefunden hatte.

Signe und Swantje waren untrennbar. Sie akzeptierten ihre Unterschiedlichkeiten. Sie liebten sich, ohne es sich zu sagen. Die gegenseitig empfundene freundschaftliche Liebe war beiden eine Sicherheit wie die zuverlässig zu erwartende verneinende Antwort ihrer Mütter auf die Frage nach mehr Süßigkeiten. Alles, was an Signe laut, verspielt, begeistert, wild und schnell war, war an Swantje verhalten, sinnend, planend und abwägend.

Weil Swantjes Mutter nach der Kindergartenzeit in eine Wohnung in die Nachbarstadt zog, denn sie hatte einen neuen Mann kennengelernt, der...

Erscheint lt. Verlag 30.10.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-13 9783756566310 / 9783756566310
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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