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Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod - Håkan Nesser

Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod

Roman

(Autor)

Buch | Softcover
576 Seiten
2005
btb Verlag (TB)
9783442733255 (ISBN)
CHF 13,95 inkl. MwSt
zur Neuauflage
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Zu diesem Artikel existiert eine Nachauflage
Die Verbindung zwischen den einzelnen Opfern ist unklar. Doch als der ehemalige Kommissar Van Veeteren widerwillig die Geborgenheit seines Antiquariats verlässt, um einigen mysteriösen Todesfällen nachzugehen, stößt er schnell auf ein deutliches Muster aus der Bücherwelt. Blake. Musil. Rilke. Offensichtlich ist der Mörder, den er sucht, belesen, denn die Decknamen, die er benutzt, sind literarische Anspielungen, und die einzigen Spuren, die er hinterlässt, sind seltene Gedichtbände. Van Veeteren ahnt, dass er es mit einem Mörder ungewöhnlichen Schlages zu tun hat.


Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der interessantesten und aufregendsten Krimiautoren Schwedens. Für seine Kriminalromane um Kommissar Van Veeteren erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in mehrere Sprachen übersetzt und wurden erfolgreich verfilmt. Daneben schreibt er Psychothriller. "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" oder "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" gelten inzwischen als Klassiker in Schweden, werden als Schullektüre eingesetzt, und haben seinen Ruf als großartiger Stilist nachhaltig begründet. Håkan Nesser lebt mit seiner Frau in London und auf Gotland. 2011 wurde er mit dem "Ripper Award", dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet.

Christel Hildebrandt, geb. 1952 in Lauenburg, studierte Germanistik, Soziologie und Literaturwissenschaft und wandte sich nach der Promotion der skandinavischen Literatur zu. Seit 1988 arbeitet sie als freie literarische Übersetzerin aus den Sprachen Norwegisch, Dänisch und Schwedisch. Sie erhielt den Paul-Celan-Preis nominiert wurde. Daneben reicht die Palette ihrer Übersetzungen von Henrik Ibsen bis zu Håkan Nesser, Jógvan Isaksen und Hanne Marie Svendsen. Mit ihrem Mann, drei Töchtern und einer Katze lebt Christel Hildebrandt in Hamburg.

Kefalonia, August 1995 »Im nächsten Leben möchte ich ein Olivenbaum sein.« Sie machte eine vage Geste mit der Hand zum Abhang hin, über den die Dämmerung schnell hinabsank. »Die können mehrere hundert Jahre alt werden, habe ich gehört. Das klingt doch beruhigend, findest du nicht?« Hinterher würde ihm immer mal wieder einfallen, dass das ihre letzten Worte waren. Über den Olivenbaum und das beruhigende Gefühl. Es war sonderbar. Als trüge sie irgendetwas Großes, Sublimes mit sich auf die andere Seite. Etwas Erhabenes, die Spur einer Art Einsicht, an der es ihr eigentlich mangelte. Gleichzeitig erschien es ihm natürlich auch etwas eigentümlich, dass sie eine so allgemeine - und eigentlich ja ziemlich nichts sagende - Reflexion machte, direkt nach diesen schrecklichen Worten, die ihr Schicksal so definitiv besiegelten. Die ihr Leben beendeten und ihrer Beziehung ihre letztendliche Bestimmung verliehen. »Ich liebe einen anderen.« Natürlich wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, dass es sich in dieser Art und Weise entwickeln würde. Dass gerade das der Ausweg war - wahrscheinlich nicht vor den letzten Sekunden -, aber irgendwie war es auch bezeichnend, sowohl für ihre Ahnungslosigkeit als auch insgesamt für ihre Beziehung. Es war oft vorgekommen, dass sie die Reichweite von Dingen und Geschehnissen erst begriff, nachdem es schon zu spät war. In einem Stadium, in dem es keinen Sinn mehr hatte und in dem auch Worte - das Reden überhaupt - schon verbraucht waren. In dem nur noch die nackte Handlung übrig blieb - so hatte er schon früher gedacht. »Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich weiß, dass ich dir damit weh tue, aber wir müssen ab jetzt getrennte Wege gehen. Ich liebe einen anderen.« Danach Schweigen. Dann das mit dem Olivenbaum. Er gab keine Antwort. Hatte sie erwartet, dass er antworten würde? Es war keine Frage gewesen, die sie da gestellt hatte. Nur eine Feststellung. Ein fait accompli. Was zum Teufel hätte er darauf sagen sollen? Der Balkon war nicht groß. Sechs, acht Quadratmeter. Ein kleiner weißer Tisch mit zwei Stühlen, die wie alle anderen Plastikstühle und alle anderen Plastiktische auf der ganzen Welt aussahen. Und das Gleiche traf auf das Hotel zu. Nur zwei Stockwerke, kein Speisesaal, kaum etwas, was als Rezeption zu bezeichnen war, sie hatten die Reise last minute gebucht und keine großen Ansprüche gestellt. Olympos. Ein paar Minuten Fußweg vom Strand, die Wirtin hatte einen Bart, und die Anzahl der Zimmer betrug wohl so ein Dutzend, vermutlich weniger. Ihr kunterbuntes Badelaken hing zum Trocknen über dem Geländer. Jeder mit einem Glas Ouzo, nicht mehr als ein halber Meter zwischen ihnen, sie frisch geduscht, braun gebrannt und erfrischt nach einem ganzen Nachmittag am Strand. Ein Duft von Thymian vom Berghang in unheiliger Allianz mit dem verbleiten Benzin von der Durchgangsstraße unten. Das war es eigentlich im Großen und Ganzen. Das und diese Worte. Plötzlich erklingt ein Ton in seinem Kopf. Leise und fern, aber äußerst hartnäckig. Er tobt wie ein kleines Rinnsal zwischen den Zikaden, die nach einem heißen Tag müde zirpen. Es hört sich an, als wären es mehrere hundert, obwohl es vermutlich nur zwei oder drei sind. Er steht auf. Kippt den Ouzo im Stehen, holt ein paarmal tief Luft. Stellt sich hinter sie, schiebt ihr Haar zur Seite, legt ihr die Hände auf die nackten Schultern. Sie erstarrt. Es ist eine fast unmerkliche Spannung nur einiger Muskeln, aber er merkt es sofort. Seine Fingerspitzen auf ihrer warmen Haut sind empfindlich wie kleine Seismographen. Er tastet nach den spitzen Rändern ihres Schlüsselbeins. Fühlt ihren Puls schlagen. Sie sagt nichts. Ihre linke Hand lässt das Glas auf dem Tisch los. Dann sitzt sie ganz still. Als wartete sie. Er schiebt die Hände höher, um ihren Hals. Spürt, dass er eine Erektion bekommt. Ein Motorrad mit hörbar kaputtem Auspuff knattert unten auf der Straße vorbei. Das Blut strömt ein, in die Hände und in den Unterleib. Jetzt, denkt er. Jetzt. Anfangs ähnelt ihr Kampf einer Art Orgasmus, er registriert diese Ähnlichkeit bereits, während es noch abläuft. Ein Orgasmus?, denkt er. Wie paradox. Ihr Körper spannt sich in einem Bogen zwischen den nackten Fußsohlen auf dem Boden und seinen Händen um ihrer Kehle. Der Plastikstuhl kippt, mit der linken Hand schlägt sie das Ouzoglas um, es fällt nach hinten und landet auf seinen Badeschuhen, rollt weiter, ohne kaputt zu gehen. Sie packt seine Handgelenke, ihre dünnen Finger umklammern sie, bis ihre Knöchel weiß hervortreten, aber er ist der Stärkere. Der unendlich viel Stärkere. Das Motorrad knattert weiter das schmale Asphaltband zwischen den Olivenhainen entlang, ist offenbar vom Hauptweg abgebogen. Er drückt noch fester zu, der Ton in seinem Kopf hält an und die Erektion auch. Es dauert nicht länger als vierzig, fünfzig Sekunden, aber der Augenblick erscheint lang. Er denkt an nichts Spezielles, und als ihr Körper schließlich erschlafft, wechselt er seinen Griff, hält aber den Druck aufrecht, geht in die Knie und beugt sich von hinten über sie. Ihre Augen stehen weit offen, die Ränder der Kontaktlinsen sind deutlich erkennbar, die Zunge ragt ein wenig zwischen den ebenmäßigen weißen Zähnen hervor. Er überlegt kurz, was er denn mit dem Geschenk machen soll, das er für sie zum Geburtstag gekauft hat. Die afrikanische Holzfigur, die er am Vormittag auf dem Markt von Argostoli erstanden hat. Eine Antilope im Sprung. Vielleicht kann er sie ja behalten. Vielleicht wird er sie auch wegwerfen. Er überlegt, wie er die restlichen Tage verbringen wird, während er langsam seinen Griff lockert und sich aufrichtet. Ihr kurzes Kleid ist hochgerutscht und gibt den Blick auf den winzigen weißen Slip frei. Er betrachtet ihr dunkles Dreieck, das durch die dünne Baumwolle hindurchschimmert, und streicht über sein steinhartes Glied. Steht auf. Geht zur Toilette und onaniert. Soweit er überhaupt etwas empfinden kann, ist es ein sonderbares Gefühl. Sonderbar und ein wenig leer. Während er auf den rechten Moment wartet, liegt er im Dunkeln auf dem Hotelbett und raucht. Raucht und denkt an seine Mutter. An ihre unleugbare Sanftheit und dieses eigentümliche Vakuum von Freiheit, das sie hinterlassen hat. Seine Freiheit. Seit ihrem Tod im Winter gibt es plötzlich nicht mehr ihren Blick in seinem Rücken. Niemand sieht ihn mehr ganz und gar, niemand ruft einmal die Woche an, um sich zu erkundigen, wie es ihm geht. Niemand, dem eine Ansichtskarte geschrieben werden muss, und niemand, dem er Rechenschaft ablegen kann. Wäre sie noch am Leben, wäre diese Tat kaum denkbar gewesen, dessen ist er sich vollkommen sicher. Nicht in dieser Art. Aber nachdem die Blutsbande zerschnitten sind, ist vieles einfacher geworden. Im Guten wie im Bösen, so ist es nun einmal. Einfacher, aber auch ein wenig sinnloser. Es gibt keine richtige Schwere mehr in ihm, keinen Kern - immer wieder sind ihm diese Gedanken in dem vergangenen halben Jahr gekommen. Mehrere Male. Plötzlich hat das Leben seine Dichte verloren. Und jetzt liegt er auf einem Hotelbett auf einer griechischen Insel und raucht und sieht ihr sanftes und gleichzeitig strenges Gesicht vor sich, während seine Ehefrau tot auf dem Balkon liegt und erkaltet. Er hat sie an die Wand gelehnt und eine Decke über sie gelegt, und er ist sich nicht sicher, ob seine Mutter nicht auf irgendeine unergründliche Weise - in irgendeinem verflucht unerforschten Sinne - weiß, was sich an diesem Abend hier ereignet hat. Trotz allem. Es irritiert ihn ein wenig, dass er diese Frage nicht für sich beantworten kann - und auch nicht sagen kann, wie sie sich zu dem, was er an diesem warmen Mittelmeerabend gemacht hat, stellen würde -, und nach der zehnten oder auch elften Zigarette steht er auf. Es ist erst halb eins. In den Bars und Discotheken herrscht immer noch Hochbetrieb, es ist gar nicht daran zu denken, den Körper jetzt schon fortzuschaffen. Noch lange nicht. Er tritt auf den Balkon und bleibt dort eine Weile mit den Händen auf dem Geländer stehen, während er überlegt, wie er es anstellen soll. Es ist keine einfache Aufgabe, einen Körper unbemerkt aus dem Hotel zu schaffen - sei es auch noch so klein und abgelegen, sei es auch ganz dunkel -, aber er ist es gewohnt, schwere Aufgaben anzupacken. Oft können sie ihn sogar stimulieren, ihm ein leicht berauschtes Lebensgefühl bereiten und diese verlorene Dichte wieder holen. Sicher hat er es auch deshalb in seinem Beruf so weit gebracht. Er hat schon früher darüber nachgedacht, in einer Art immer wiederkehrender Reflexion. Die Herausforderung. Das Spiel. Die Dichte. Er saugt den Duft des Olivenhains bewusst mit den Nasenflügeln ein, versucht die Olivenbäume wahrzunehmen, als wären sie die ersten - oder die ältesten - der Welt, aber es nützt nichts. Ihre letzten Worte stehen im Weg, und die Zigaretten haben seinen Geruchssinn reichlich abgestumpft. Er geht nach drinnen, holt das Päckchen vom Nachttisch und zündet sich noch eine an. Setzt sich dann draußen auf den weißen Plastikstuhl und überlegt, dass sie es trotzdem geschafft haben, fast acht Jahre verheiratet zu sein. Das ist ein Fünftel seines Lebens und bedeutend länger, als seine Mutter vorhergesagt hatte, als er ihr damals erzählte, dass er eine Frau gefunden hatte, mit der es wohl ernst werden würde. Bedeutend länger. Obwohl sie ihre Meinung niemals so explizit geäußert hat. Als er auch diese Zigarette aufgeraucht hat, hebt er seine tote Ehefrau hoch und trägt sie ins Zimmer. Legt sie quer über das Doppelbett, zieht ihr T-Shirt und Slip aus, bekommt kurz eine Erektion, aber kümmert sich nicht darum. Ein Glück, dass sie so leicht ist, denkt er. Wiegt ja fast nichts. Hebt sie wieder hoch, legt sie sich über die Schulter. Wie er sie wohl tragen muss? Er hat nur eine dunkle Vorstellung davon, wie der rigor mortis eigentlich funktioniert, und als er sie wieder aufs Bett kippt, lässt er sie in der gebogenen Form liegen, die sie auf seiner kräftigen Schulter eingenommen hat. Falls sie erstarren sollte. Dann holt er das Zelt aus der Garderobe, das leichte Nylonzelt, das er unbedingt hatte mitnehmen wollen, und wickelt es um den Körper. Verknotet es mit den vielen Nylonleinen und stellt fest, dass es richtig adrett aussieht. Könnte ein Teppich oder so etwas sein. Ein Riesendolman. Aber es ist seine Ehefrau. Nackt, tot und hübsch verpackt in ein Zweimann-Zelt der Marke Exploor. So ist es und nicht anders. Um halb drei Uhr nachts wacht er nach einem kurzen Schlummer auf. Das Hotel scheint in einen dumpfen Nachtschlaf gesunken zu sein, aber immer noch ist der Lärm des Nachtlebens von der Straße und zum Strand hin zu hören. Er beschließt, noch eine Stunde zu warten. Genau sechzig Minuten. Trinkt Kaffee, um sich wach zu halten. Die Nacht erscheint ihm wie ein Verbündeter. Das Mietauto ist ein Ford Fiesta, keines der allerkleinsten Modelle, und sie hat reichlich Platz im Kofferraum, zusammengefaltet, wie sie ist. Er öffnet die Haube mit der rechten Hand und lässt sie von der linken Schulter hineinrutschen, indem er sich ein wenig vor und zur Seite beugt. Schließt die Kofferhaube, schaut sich um und setzt sich hinters Steuer. Das ging glatt, denkt er. Nicht ein Mensch zu sehen. Nicht im Hotel und nicht draußen auf der Straße. Er lässt den Motor an und fährt los. Auf seinem Weg aus der Stadt heraus sieht er drei Lebewesen. Ein mageres Katzengerippe, das sich an einer Häuserwand entlangschleicht, und einen Straßenfeger mit seinem Esel. Keiner von ihnen nimmt auch nur Notiz von ihm. Ganz einfach, denkt er. Zu sterben ist eine ganz einfache Sache. Er hat das theoretisch sein ganzes Leben lang gewusst, jetzt hat er die Theorie in die Praxis umgesetzt. Genau das macht den Sinn des Lebens aus. Es war ihm seit langem klar. Denn die Handlung des Menschen, das ist Gottes Gedanke. Auch an die Schlucht hatte er schon lange gedacht, aber ihr Bild verschwimmt in seiner Erinnerung, und so ist er gezwungen, das erste rosa Licht der Morgendämmerung abzuwarten, um den richtigen Ort zu finden. Vor zwei Tagen sind sie auf dem Weg über den Berg von Sami und die Ostseite hier vorbeigekommen, er erinnert sich daran, dass sie anhalten wollte, um genau dieses Fleckchen zu fotografieren, er erinnert sich daran, dass er ihr nachgegeben, sie aber Probleme gehabt hatte, die richtige Kameraeinstellung zu finden. Jetzt stehen sie wieder hier. Eigentlich handelt es sich eher um einen Felsspalt, es ist kaum als Schlucht zu bezeichnen. Ein tiefer Felseinschnitt in einer Haarnadelkurve, dreißig, vierzig Meter geht es fast senkrecht nach unten - der Grund verliert sich in einem Wirrwarr dorniger Büsche und Müll, der von weniger rücksichtsvollen Autofahrern aus heruntergekurbelten Seitenfenstern hinausgeworfen wurde. Er stellt den Motor ab und steigt aus. Schaut sich um. Horcht. Es ist zehn Minuten nach fünf. Ein früher Raubvogel steht absolut unbeweglich über dem kargen Berghang im Südwesten. Ganz unten in dem V zwischen zwei anderen steinigen Abhängen kann er eine Handbreit Meer sehen. Ansonsten Schweigen. Und ein deutlicher Duft von Kräutern, die er kennt, aber nicht benennen kann. Oregano oder Thymian vermutlich. Oder Basilikum. Er öffnet den Kofferraum. Überlegt einen Augenblick lang, ob er sie aus der Zeltplane befreien soll, lässt es dann aber. Niemand wird jemals den Körper dort unten finden, und niemand wird von ihm Rechenschaft bezüglich eines Zelts fordern. Er hat das Auto noch zwei Tage und kann sich eine Fahrt zur anderen Seite gönnen. Sich der Stangen, Schnüre und Hülle in einem anderen Felsspalt entledigen. Oder im Meer. Nichts liegt näher auf der Hand. Nichts. Er schaut sich noch einmal um. Hebt das große Paket und wirft es über das niedrige Geländer. Es stößt ein paarmal gegen die steilen Wände, bricht durch die trockenen Büsche und verschwindet. Der Raubvogel scheint auf die Geräusche zu reagieren und sucht sich eine neue Position, ein Stück weiter im Westen. Er richtet sich auf. Schwer, sich vorzustellen, dass sie das wirklich ist, denkt er. Schwer, bei dem hier wirklich anwesend zu sein. Zündet sich eine Zigarette an. Er hat in dieser Nacht so viel geraucht, dass ihm schon die Brust weh tut, aber das ist von untergeordneter Bedeutung. Er steigt ins Auto und setzt seinen Weg den Berg hinauf fort. Zwölf Stunden später - während der heißesten Stunde der Siesta - schiebt er die Glastür des mit Klimaanlage versehenen Büros de Reiseveranstalters auf dem großen Marktplatz von Argostoli auf. Sitzt geduldig auf dem klebrigen Plastikstuhl und wartet, während zwei übergewichtige und sonnenverbrannte Frauen der blonden Dame im blauen Kostüm hinter dem Tresen die Mängel ihres Hotels schildern. Als er mit der Blonden allein ist, setzt er mit seiner verzweifeltsten Stimme an und erklärt ihr das mit seiner Ehefrau. Dass er sie verloren habe. Dass sie verschwunden zu sein scheint. Wie vom Erdboden verschluckt. Seit gestern am späten Abend, sie wollte noch einmal schnell schwimmen gehen, natürlich könnte es eine ganz natürliche Erklärung dafür geben, aber es beunruhige ihn doch. Sie war noch nie so lange und ohne Bescheid zu geben fort. Da sollte man doch etwas unternehmen? Sich bei irgendwelchen Behörden erkundigen? Oder den Krankenhäusern? Oder was tue man in so einem Fall? Die Dame bietet ihm ein Glas Wasser an und schüttelt besorgt ihr nordisches Haar. Sie kommt nicht aus seinem Land, aber sie verstehen sich dennoch gut. Müssen nicht einmal Englisch miteinander reden. Als sie sich zur Seite nach dem Telefon beugt, kann er eine ihrer Brüste bis zur Brustwarze hinunter sehen, und ein plötzlicher, ziehender Schmerz durchfährt ihn. Und während sie vergeblich versucht, während dieser heißesten Stunde des Tages jemanden am Telefon zu erreichen, überlegt er, wer der andere, von dem seine Ehefrau geredet hatte, wohl sein könnte. Derjenige, von dem sie behauptete, ihn zu lieben. Maardam, August bis September 2000 Typisch, dachte Monica Kammerle, als sie den Hörer aufgelegt hatte. So verdammt typisch. Ich hasse sie. Sofort holte sie das schlechte Gewissen ein. Wie üblich. Sobald sie einen negativen Gedanken über ihre Mutter dachte, war es zur Stelle und brachte sie dazu, sich zu schämen. Das Gewissen. Diese innere, vorwurfsvolle Stimme, die ihr sagte, dass man nicht schlecht über seine Mutter denken durfte. Dass man eine gute Tochter sein und stützen statt umstürzen musste. Einander stützen statt einander umstürzen, wie sie einmal vor vielen Jahren in einer Mädchenzeitschrift gelesen hatte. Zu der Zeit war ihr das so weise erschienen, dass sie es ausgeschnitten und mit Nadeln über ihrem Bett befestigt hatte, als sie noch in der Palitzerlaan wohnten. Inzwischen wohnten sie in der Moerckstraat. Die Vierzimmerwohnung im Deijkstraaviertel - mit hohen Decken und Blick über den Park, den Kanal und das grünspanbedeckte Dach der Czekarkirche - war zu teuer geworden, als sie nur noch zu zweit waren. Dennoch hatten sie noch fast drei Jahre lang nach dem Tod ihres Vaters dort gewohnt; aber zum Schluss war das Geld, das er hinterlassen hatte, unwiderruflich aufgebraucht. Natürlich. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie umziehen mussten, da brauchte sie sich gar nichts vorzumachen. Früher oder später, es hatte nie eine Alternative gegeben. Ihre Mutter hatte es ihr ein oder zwei Mal sehr eingehend und auf ungewöhnlich einfühlsame Weise erklärt, und im Frühling waren sie hierher gezogen. In die Moerckstraat. Es gefiel ihr nicht. Nicht der Name der Straße, der dunkle Straße bedeutete. Nicht das düstere Wohnhaus aus braunen Ziegeln mit drei niedrigen Etagen. Nicht ihr Zimmer, nicht die Wohnung, nicht das sterile Viertel mit den schnurgeraden, engen Gassen, den schmutzigen Autos und Geschäften und keinem einzigen Baum. Ich bin sechzehn Jahre alt, überlegte sie. Das Gymnasium dauert noch drei Jahre, dann ziehe ich hier aus. Dann würde sie es allein schaffen.

Reihe/Serie Die Van-Veeteren-Krimis ; 9
Übersetzer Christel Hildebrandt
Sprache deutsch
Original-Titel Svalan, katten, rosen, döden
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 487 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Krimis/Thriller • Skandinavische Krimis
ISBN-13 9783442733255 / 9783442733255
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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