N2 (eBook)
308 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-6352-4 (ISBN)
Drehbuch- und Buchautor Martin Wendel wurde im späten 20. Jahrhundert auf dem Planeten Erde geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik und nutzt seine Kreativität und Fantasie, um unterhaltsame Geschichten zu schreiben, welche Menschen begeistern und Denkanstöße liefern. Seit Jahren versucht er, so nachhaltig und ressourcenschonend wie möglich zu leben.
Drehbuch- und Buchautor Martin Wendel wurde im späten 20. Jahrhundert auf dem Planeten Erde geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik und nutzt seine Kreativität und Fantasie, um unterhaltsame Geschichten zu schreiben, welche Menschen begeistern und Denkanstöße liefern. Seit Jahren versucht er, so nachhaltig und ressourcenschonend wie möglich zu leben.
(2) Kindheit
Vor 15 Jahren – ich war also 5 – kauerte ich als kleiner Bub, damals noch als Ioan, auf dem Fußboden in den Armen eines älteren Mädchens. Wir waren allein in einer dunklen, stickigen Kammer eingeschlossen und zitterten vor Angst. Das Mädchen, das mich umklammerte und mein kleines Herz rasen spürte, war meine drei Jahre ältere Schwester Flavia.
Wir waren hier in einem Kinderheim in der Region Siebenbürgen als Rumäniendeutsche aufgewachsen. Was mit unseren leiblichen Eltern geschah, habe ich bis heute nie erfahren. Wir und der Großteil der anderen rund 45 Kindern wurden zweisprachig erzogen, wobei sich das Deutsch hier ein klein wenig von dem Hochdeutschen unterschied.
Von draußen hörten wir die knarzenden Bretter des Holzbodens. Die Schritte kamen näher und wir beide rutschten bis zur Rückwand der kleinen Kammer und hielten einander fest. Unter der Türschwelle durchbrach ein Schatten das hereinfallende Licht. Jemand war da.
Flavia und ich atmeten schnell aber so leise wie möglich.
Es war kein normales Heim – es war die Hölle!
Die Tür wurde aufgerissen. Das Licht blendete uns in der hintersten Ecke des Abstellraums, versteckt hinter einem Regal und Pappkartons.
Die Pflegerin (50) trat zusammen mit zwei etwa gleichalten Heimaufsehern ein, denen sie an der Tür Platz machte. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis sie uns ausgemacht hatten. Unter Tränen und heiserem Geschrei packten sie uns, rissen uns auseinander und zerrten uns aus dem Raum.
Wenige Minuten später rutschte klein-Jan auf Knien mit einem Lappen auf dem Boden des Badezimmers herum. Wischte Waschbecken, Badewanne und die Toilette. Blut, Schweiß und Tränen war nie passender.
Wir Kinder waren Sklaven. Wer das Klo putzen durfte, hatte sogar Glück! Es war nicht die Arbeit der Mädchen.
In einem großen Hinterzimmer saßen etwa zwei Dutzend und somit fast alle Mädchen des Heims auf Stühlen – nur in Unterwäsche gekleidet. Keines war älter als 10 Jahre. Sie alle wussten, was gleich geschah, was ihnen drohte. Manche wimmerten leise, andere wiederum waren ganz still, apathisch, waren geistig nicht mehr anwesend und innerlich leer, ausgezehrt.
Einer der Heimaufseher bewachte die Tür und öffnete sie, als es zweimal klopfte.
Ein Trio aus schick in dunklen Anzügen gekleideten Herren betrat den Raum und musterte sofort ein Kind nach dem anderen. Darunter auch Flavia.
Nach expliziter Begutachtung und Tuch- oder besser Hautfühlung suchten sie sich jeweils ein Opfer – pardon – Mädchen aus, nahmen es freundlich an der Hand und verließen mit ihm das Zimmer.
Ich werde kurz aus meinen über die Jahre verdrängten Gedanken gerissen, als der Kleinbus in der Jetztzeit mit mir und der älteren Frau über den unebenen Weg durch den Wald ruckelt. Damals war ich noch zu jung, um alles zu verstehen. Doch mittlerweile weiß ich, dass ich wohl bis zum Alter von 10 Jahren Karriere als Botenjunge für Drogen oder zum Bestehlen von Touristen gemacht hätte. Aber in diesem Augenblick weckt die Busfahrt schlimme Erinnerungen:
Es war an einem Morgen, vielleicht drei, vier Tage nachdem sie uns aus unserem Versteck in der Abstellkammer herausgezerrt hatten. Ich saß neben Flavia in einem ähnlich klapprigen Bus. Er war nur als Schulbus deutlich größer und hatte mehr Sitzplätze, da auch knapp drei Handvoll anderer Kinder mit an Bord waren. Hin und wieder durften wir raus. Vielleicht nur, um uns Hoffnung zu machen und um uns einzureden, dass es uns hier gefällt. Wir kannten nix anderes als die Mauern des Heims und uns wurde Tag für Tag eingetrichtert, dass es uns hier besser ginge als draußen in der kranken und grausamen Welt. Aber was war diese Welt überhaupt? Und wie konnte es noch schrecklicher sein? Die meisten von uns konnten es nie erfahren.
Flavia drückte meine Hand, die sie die ganze Zeit während der Fahrt hielt. Ich schaute zu ihr rüber und sie lächelte mich an. Sie sah seit langem wieder einigermaßen glücklich aus – wenn man die Umstände bedenkt. Sie stach mich damit an und so durchströmte auch mich das seltene Gefühl der Freude und Geborgenheit. Uns war es nicht erlaubt zu reden und so nickte sie runter auf meine Schuhe, die wieder einmal nicht geschnürt waren. Flavia schaute kurz, ob der Aufseher vorne beim Busfahrer, der ebenfalls ein Eingeweihter des Verbrechens an Kindern war, sie im Blick hatte.
Nein, er witzelte mit dem Fahrer und war somit abgelenkt.
Flavia und ich gingen auf Tauchstation. Sie lehrte mich, wie man Schuhe schnürt. Genauso wie sie es war, die mir nachts leise Geschichten vorlas, wenn ich nicht einschlafen konnte. Erst heute weiß ich es umso mehr zu schätzen, weil sie selbst noch ein kleines Kind war – und doch schon so stark. Sie war mein Vorbild, meine beste Freundin, meine Ersatzmutter, sie war alles! Und eben meine große Schwester.
Und ich war stolz und fühlte mich wie ein König, als es mir endlich gelang, zum ersten Mal meinen Schuh selber zu binden. Heute und von außen betrachtet, war es so etwas Banales und doch bedeutete es in jenen Momenten die Welt. Wir waren gezwungen, schnell erwachsen zu werden, wenn man das so nennen konnte. Ohne Flavia weiß ich nicht, wie und ob ich alles durchgestanden hätte.
Flavia, die anderen Kinder und ich tobten ausgelassen im flachen Gewässer eines wunderschönen Waldsees und waren tatsächlich glücklich. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen es uns nach kurzer Adaption gelang, loszulassen. Frei zu sein. Und in dieser kurzen Zeit verdrängten wir alle, dass der Horror zurückschlagen würde. Hart.
Der Heimaufseher lehnte gemeinsam mit dem Fahrer am Bus und beobachtete vom Ufer aus das Treiben im Hintergrund. Sie pafften Zigaretten und es schien ihnen sogar zu gefallen, uns Freiraum zu geben und uns nicht ständig mit Rohrstöcken zu drangsalieren und zu misshandeln.
Wir bekamen bei unserem Geplansche nicht mit, wie sich zwei große, schwarze Limousinen dem Bus näherten und dort am Ufer unter den Bäumen stehen blieben. Insgesamt entstiegen vier in schwarz gekleidete Männer den Edelkarossen.
Am selben Tag, es war inzwischen Nacht, befanden wir uns auf der Heimreise zurück ins Heim. Ich saß in Flavias Arm. Die so seltene heitere Stimmung von vor wenigen Stunden war wie weggeblasen und wich wieder dem Grauen, da wir realisierten, dass der Bus auf der Rückfahrt nur noch halbvoll war. Wir verloren Freunde, die wir nie wieder sahen. Meine größte Angst war, dass wir eines Tages als Geschwisterpaar voneinander getrennt würden. Ich wusste nicht, was ich ohne Flavia machen würde. Wie ich mein tristes, kleines Leben ohne sie weiterleben könnte.
Als ich kurz zu ihr aufblickte, ohne dass sie es bemerkte, sah ich auch ihre Sorgen in ihren leeren Augen, die starr geradeaus gerichtet waren.
Sie wog ihren kleinen, müden Bruder sanft hin und her und strich mir sachte durchs strähnige, zerzauste und inzwischen getrocknete Haar. Auch, wenn es unumgänglich war und zur Routine werden musste, die eigenen Gefühle zu ersticken, um das tägliche Martyrium zu überstehen, wusste sie, dass es mir gut tat. Dass ich dennoch ihre Nähe und Liebe spürte. Sie war immer für mich da. Sie – nur SIE – war meine einzige Hoffnung.
Eines Abends saßen wir mit den anderen Heimkindern im Speisesaal an den Tischen und aßen trockenes Brot mit Obst und Gemüse aus der Umgebung. Nein, wir fraßen! Mit bloßen Händen ohne Besteck schlangen wir wie Tiere unser Futter herunter, da wir nicht wussten, wann wir wieder solch ein Festmahl genießen würden. Es gab oft tagelang nur abgestandenes Regenwasser aus dreckigen Pfützen – zur Strafe, wenn wir wieder nicht produktiv genug waren. Sauberes Wasser aus der Leitung war unsere Belohnung. An diesem Abend hatten wir die Ehre. Natürlich war es eine Erleichterung unsere ausgezehrten Körper mit den nötigen Nährstoffen zu versorgen. Dennoch war es der Auftakt zu einem bösen Omen. Vor allem, da wir in den darauffolgenden Tagen noch frischeres, gesünderes Essen bekamen und wir sogar mit Messer, Gabel und Löffel ausgestattet wurden. Wir wurden zivilisiert aus einem bestimmten Grund: Um den Schein zu wahren. Dass all das normal sei.
Es kam der nächste Abend und mit ihm ein silberner Kombi, der die Einfahrt des Heims hinauffuhr und vor den massiven, eisernen Toren anhielt.
Ein junges Pärchen entstieg dem Vehikel: Johanna (28) und Paul (30) schauten sich um und machten gemeinsam ein paar Schritte zur Pforte. Dort wurden sie bereits von der dürren und sonst so strickten und kaltherzigen Heimleiterin (55) überfreundlich und herzlichst empfangen und hereingebeten.
Und dann schien die Zeit gekommen zu sein.
Ich lag zusammen mit den anderen Insassen meines Alters im dunklen Schlafzimmer mit etlichen Hochbetten, als ich von draußen auf dem Flur die zum Teil fremden Stimmen hörte. Die Tür öffnete sich und ich zuckte reflexartig kurz zusammen, obwohl ich damit gerechnet hatte.
Die Heimleiterin schaltete das fahle Licht der einzigen Glühbirne im Raum an.
Dennoch drehte ich mich lieber weg, um nicht geblendet zu werden – oder schlimmeres. Ich hörte die Heimleiterin flüstern, um nicht alle Mitbewohner in diesem Zimmer zu wecken.
Sie trug eine Akte in ihren Händen und führte das junge Elternpaar in den Raum.
Ich erinnere mich nur noch, wie ich betete und hoffte.
Doch dann ging alles schnell. Unter heiserem Geschrei und schlimmsten Weinen wurde ich im Schlafanzug am Arm von der Heimleiterin aus dem Zimmer über den Flur gezerrt. Sah die Gesichter von Johanna und Paul zum ersten Mal – verschwommen wegen der Tausend Tränen. Erkannte, dass sie sich sichtlich unwohl...
| Erscheint lt. Verlag | 7.9.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Drama • Geschwisterliebe • Hoffnung • Liebesdrama • Nächstenliebe • Spannung |
| ISBN-10 | 3-7565-6352-9 / 3756563529 |
| ISBN-13 | 978-3-7565-6352-4 / 9783756563524 |
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