Meine Apokalypsen (eBook)
181 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8576-4 (ISBN)
Thomas Brussig, 1964 in Berlin geboren, hatte 1995 seinen Durchbruch mit 'Helden wie wir'. Es folgten u.a. 'Am kürzeren Ende der Sonnenallee' (1999), 'Wie es leuchtet' (2004) und 'Das gibt's in keinem Russenfilm' (2015). Seine Werke wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Thomas Brussig ist der einzige lebende deutsche Schriftsteller, der mit einem seiner literarischen Werke wie auch mit einem Kinofilm und einem Bühnenwerk ein Millionenpublikum erreichte.
Thomas Brussig, 1964 in Berlin geboren, hatte 1995 seinen Durchbruch mit "Helden wie wir". Es folgten u.a. "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" (1999), "Wie es leuchtet" (2004) und "Das gibt's in keinem Russenfilm" (2015). Seine Werke wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Thomas Brussig ist der einzige lebende deutsche Schriftsteller, der mit einem seiner literarischen Werke wie auch mit einem Kinofilm und einem Bühnenwerk ein Millionenpublikum erreichte.
A
Einstieg
Ich habe die Nächte nicht gezählt, in denen mich die Sorgen um den Zustand der Welt nicht schlafen ließen. Wer kennt ihn nicht, den Gedanken Wie kommen wir da wieder raus?, in Dauerschleife. Es ist eine Mitgift der Evolution, dass wir Gefahren witternde Wesen sind und Bedrohungen unsere Aufmerksamkeit fesseln.
Das erdrückendste Zukunftsthema ist der Klimawandel. Bestimmt seit zehn Jahren ist es Konsens, wonach der Klimawandel eine existentielle Bedrohung und seine Bekämpfung eine Daseinsfrage der Menschheit darstellt. Die ungebremste Emission von Klimagasen, allen voran Kohlendioxid, bewirken den Treibhauseffekt, mit dominoartigen Folgen: Globale Erwärmung, Ausbreitung von Wüsten, Unbewohnbarkeit ganzer Landstriche, Entzug der Lebensgrundlage von zig Millionen Menschen, die als Klimaflüchtlinge in ungeheuren Fluchtbewegungen anderswo ein besseres Auskommen zu suchen gezwungen werden, zigtausende Hitzetote in den Großstädten, Zunahme von Extremwetterereignissen wie Stürme, Tornados, Hurrikane, Temperaturstürze, sintflutartige Regenfälle, aber auch extreme Trockenheit, die häufigere und schwerere Waldbrände zur Folge hat und zu Missernten und Hungerkatastrophen führt. Manches davon haben wir schon gesehen, manches wird erst noch eintreten, und die Frage ist nicht, ob, sondern wann. Die Eis- und Gletscherschmelze bedingt einen Anstieg der Meeresspiegel, was abermals Fluchtwellen auslöst, wenn ganze Inselstaaten buchstäblich untergehen; die Regierung der Malediven trat im Jahr 2009 schon mal zu einem symbolischen Unterwasser-Meeting zusammen. Worst-Case-Szenarien sehen einen um 60 Meter höheren Meeresspiegel – was nicht nur für das dicht besiedelte Bangladesch und die Malediven eine Katastrophe wäre, sondern auch für z. B. die Niederlande, Florida, Norddeutschland, New York City. Die Küstenverläufe würden sich deutlich von den jetzigen unterscheiden; heutige Landkarten und Atlanten hätten nur noch historisch-nostalgischen Wert. – Die globale Erwärmung sorgt auch für einen Anstieg der Meerestemperaturen, wodurch Korallenriffe sterben (»Korallenbleiche«), Lebensräume verloren gehen, Nahrungsketten durcheinandergeraten und die ökologischen Systeme überall unter Stress gesetzt werden. Dass der bereits erlahmende Golfstrom irgendwann ganz zum Erliegen kommt, gilt als ausgemacht, und dass der Eisbär im Klimawandel keine Chance hat, ist inzwischen nur noch eine Randnotiz.
Diese Zusammenfassung, aus dem Gedächtnis zusammengetragen oder rasch ergoogelt, könnte ebenso aus einem der zahllosen Klimawandeltexte herauskopiert worden sein. Dabei ist er nur eine oberflächliche und bruchstückhafte Zusammensetzung (Schlüsselworte wie z. B. »Permafrost« und »Jetstream« blieben unerwähnt).
Sich vor dem Klimawandel zu fürchten bedeutet, sich vor etwas zu fürchten, das wirklich zum Fürchten ist. Bei allem, was wir über den Klimawandel in den Medien hören und lesen, gibt es auf die Frage »Wie soll das weitergehen?« oder »Wie wird das enden?« nur beunruhigende Antworten.
Seit Jahrzehnten hole ich zur Weihnachtszeit einen Karton mit einer Pyramide hervor, deren Holzflügel in Zeitungspapier eingewickelt sind, und wenn die Pyramide wieder abgebaut wird, verschwinden die Flügel im selben Zeitungspapier. Es handelt sich um eine Seite der »Zeit« vom Februar 1992, und es ist ein hübscher Zufall, dass die Flügel der Weihnachtspyramide die Jahre in einer pazifistischen Utopie mit der Überschrift »Frieden schaffen – ohne Atomwaffen« überdauern. So ergab sich beim Auswickeln eine gewisse Wiedererkennung, und im letzten Jahr habe ich den Artikel dann mit einer Art archäologischem Interesse gelesen. Wenn die Welt nicht völlig durcheinandergeraten soll, meint der Artikel, müssen die nuklearen Systeme letztlich ganz verschwinden, weil nach dem Ende der Blockkonfrontation auch kleinere Staaten, etwa Serbien, Atomwaffen erlangen wollen (und werden). Oder es könnten gar Einzelpersonen, etwa Offiziere, mit Atomwaffen Regierungen – die eigene oder fremde – erpressen. Überhaupt war das Gleichgewicht des Schreckens mit der Logik »Wer als erster schießt, stirbt als zweiter« eine Garantie dafür, dass es zu keinem Atomkrieg kommt, während in der neuen Weltunordnung mit einem Atomkrieg schon deshalb gerechnet werden muss, weil sich jeder, der Atomwaffen einsetzt, als Sieger fühlen kann. Aus all diesen Gründen müssen Atomwaffen vollständig abgerüstet werden. – Wie wir heute wissen, existieren weiterhin Atomwaffen, wurden aber auch nach 1992 niemals eingesetzt. Die Zahl der Atommächte hat sich seit 1992 kaum erhöht, und abgesehen von nordkoreanischer Wichtigtuerei und der jüngsten Diskussion, ob im Ukrainekrieg eine nukleare Eskalation drohe, war das Nuklearthema in den letzten dreißig Jahren gebannt.[1] Der Artikel (von dem ich nicht weiß, ob ich ihn bereits 1992 gelesen hatte) argumentierte aber vollkommen logisch und unter Aufbietung des damals zur Verfügung stehenden Wissens wie der historischen Lehren: Entweder gelingt der Menschheit jetzt (also in 1992 ff.) die vollständige nukleare Abrüstung, oder es werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in etlichen Konflikten Atomwaffen zum Einsatz kommen. – Obwohl die Argumente auch dreißig Jahre später vollkommen einleuchten, ist weder die eine Prophezeiung (vollständige nukleare Abrüstung) noch die andere (Atomwaffeneinsatz) eingetreten. Warum? – Nun, dass die klügsten Menschen in den besten Zeitungen mit den überzeugendsten Gründen darlegen, warum dieunddie Entwicklung eintreten wird, bedeutet noch lange nicht, dass es tatsächlich dazu kommt. Die Zukunft ist erhaben über Argumente.
Die Prophezeiung der Klimakatastrophe hat eine ähnliche Mechanik: Wenn wir nicht vollständig dekarbonisieren, kommt es zur Klimakatastrophe. Der Unterschied ist, dass diese Warnung weitaus mehr Menschen beunruhigt als die von 1992, der zufolge es zum Atomwaffeneinsatz kommt, wenn wir nicht vollständig abrüsten.
Der Klimawandel hat mir, im Gegensatz zu etlichen anderen globalen Problemen, nie den Schlaf geraubt. Dabei interessiere ich mich seit langem für das Thema, insbesondere für die Beiträge aus der Wissenschaft. Erderwärmung, Treibhauseffekt, menschengemachter Klimawandel, Kipppunkte, Anthropozän – gehe ich mit. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der vielerorten von der »existentiellen Bedrohung«, der »Klimakatastrophe« und der »Klimaapokalypse« gesprochen wird, geht mir ab.
Vermutlich können viele Klimaaktivisten[2] beim Gedanken an den Zustand des Klimas nicht schlafen. Viele schildern freimütig, dass ganz am Anfang stundenlanges Weinen stand, die pure Verzweiflung, und das Gefühl: Es wird nie wieder alles gut. Sie ändern ihre Lebensgewohnheiten und ringen um eine klimagerechte Lebensweise, indem sie auf Ökostrom umsteigen und bei Online-Einkäufen oder -Flugbuchungen immer das Kompensations-Häkchen setzen. Üblich sind auch alle Arten von Verzicht: Auf Plastiktüten, Flugreisen, Fleisch, Auto. Manche verzichten gar auf Kinder.[3]
Vielleicht ist es diese Einheit von Krisendarstellung, Lösungsansatz und Handeln, die den Klimaaktivisten moralische Autorität verleiht. Die tun wenigstens was! Umgekehrt zwingt uns ihre Konsequenz die Schlussfolgerung auf: Wenn so viele auf so viel verzichten, wenn so viele so lautstark protestieren, und ihre Anzahl wächst, muss die Klimakatastrophe doch vor der Tür stehen. Sogar ein Star-Philosoph wie Slavoj Žižek, der vielleicht wichtigste Unterhaltungsintellektuelle der Gegenwart, spricht ganz selbstverständlich von der »gegenwärtigen apokalyptischen Lage«, geradezu so, als wäre die »katastrophale Zukunft« (ebenfalls Žižek) schon eingetreten.
Mir fällt zunächst ein doppelter Irrtum bzw. eine doppelte Blindstelle auf.
Erstens: Der Satz »Wir können den Klimawandel nicht mehr kontrollieren« ist zwar richtig, aber er führt in die Irre. Denn wir konnten das Klima noch nie kontrollieren. Der Mensch war immer in der Situation, dass er sich an das Klima anpassen musste. Das Klima war immer im Wandel und immer außer Kontrolle, jedoch: Es war lange relativ stabil. Und nur weil die Menschheit den neuesten Klimawandel in Gang gesetzt hat, wird sie ihn deswegen nicht kontrollieren können, ebenso wenig wie der Bär dir folgt, nur weil du ihn geweckt hast. Der Klimawandel ist nicht kontrollierbar und nicht umkehrbar. Aber seine Folgen sind, zweitens, deshalb nicht zwingend katastrophal. Das sind sie nur, wenn sie geleugnet, heruntergespielt, beschönigt oder ignoriert werden.
Dass der Klimawandel mehr Waldbrände, Überschwemmungen, Wirbelstürme, Dürren usw. mit sich bringt, muss nicht bedeuten, dass sich das übrige Leben jenseits dieser Phänomene nicht weiter in großem Stil verbessert. War das bisher nicht immer so? Ich gehe davon aus, dass die Annehmlichkeiten des Lebens in einhundert Jahren die des heutigen Lebens in einem unvorstellbaren Ausmaß übertreffen, und ich fürchte, ich kann der Versuchung nicht widerstehen, in einem späteren Kapitel auszumalen, was ich damit meine.
Es gibt natürlich Gründe, nicht ungetrübt in die Zukunft zu blicken. Was ist mit Kriegen,...
| Erscheint lt. Verlag | 30.8.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Göttingen |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
| Schlagworte | Angst • Aufrüstung • BSE • Corona • COVID19 • Debattenbuch • Hoffnung • Klimakrise • Klimawandel • Ozonloch |
| ISBN-10 | 3-8353-8576-3 / 3835385763 |
| ISBN-13 | 978-3-8353-8576-4 / 9783835385764 |
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