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Wandertage (eBook)

Wie Deutschland mir Heimat wurde

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
209 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
9783754996430 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wandertage -  Julio Calvo
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Millionen Menschen in der Migration/Emigration - heute ein unumgängliches Buch: für diejenigen, die sich als Weltbürger definieren und für die Anderen erst recht. Als Schüler ist Calvo der einzige Ausländer in seiner Klasse, muss sich mit den autoritären Restbeständen der Nachkriegszeit auseinandersetzen. Mit der Zeit empfindet er Deutschland weltoffener, toleranter. Wer sich in Deutschland integrieren will, findet zunehmend offene Türen. Er ergreift die Chancen, macht Abitur, studiert, arbeitet im Bereich Internationale Kommunikation und unterrichtet Malerei. Seine Erfahrungen als junger Ausländer in seiner neuen Heimat, dem vom Krieg traumatisierten Deutschland, beschreibt er in diesem Roman: Welche Faktoren prägen die Entwicklung der Identität? Wie wird deutsche Kultur von außen empfunden? Calvo ist davon überzeugt, dass die persönliche Identität viele Gesichter und Facetten hat, die weit in die Geschichte zurückreichen; in die Familiengeschichte vieler Generationen, in die Zeitgeschichte des politischen Europas und in die Entwicklungsgeschichte seelischer Inkarnationen. Was ist stärker: Das Gelb, die Kraft der Erinnerungen an das verlorene Spanien, oder das Grüne, der Zauber der neuen Heimat? Gelingt es ihm, sich in Deutschland zu verlieben - und wenn ja, warum? Nach einer Familientragödie fängt Calvo an zu schreiben. Aus dem persönlichen Schreibprojekt Wanderungen zur Sausteige wird nach einigen Jahren sein Debütroman WANDERTAGE. Er beschreibt mit markantem, oft auch humorigem, spannendem Schreibstil eine Wanderung durch sein Leben mit seinen vielfältigen Erfahrungen. Sein Roman will die Lesenden zu der Frage führen: Wer bist DU eigentlich? Wer bist DU in Wirklichkeit? Was ist Deutschland? Was ist Heimat? 'Ich schreibe nicht nur für mich, sondern für viele andere, die keine Stimme haben, Deutsche und Ausländer. Viele in diesem Land leben mit meinen Hoffnungen, meinen Erfolgen und meinen Niederlagen. Sprache und Kunst sind mein Leben, dafür stehe ich morgens auf.'

Julio César Arranz Calvo, geboren in Segovia, Spanien, verbrachte seine Jugend in Groß-Umstadt, Deutschland. Er ist Linguist (Übersetzer-Diplom) und Künstler (Malerei). 'WANDERTAGE' thematisiert die Identitätsentwicklung als Ausländer in Deutschland und die Wahrnehmung der deutschen Kultur von außen. Nach einer Familientragödie begann er das Schreibprojekt, das zu seinem Debütroman 'WANDERTAGE' wurde.

Julio César Arranz Calvo, geboren in Segovia, Spanien, verbrachte seine Jugend in Groß-Umstadt, Deutschland. Er ist Linguist (Übersetzer-Diplom) und Künstler (Malerei). "WANDERTAGE" thematisiert die Identitätsentwicklung als Ausländer in Deutschland und die Wahrnehmung der deutschen Kultur von außen. Nach einer Familientragödie begann er das Schreibprojekt, das zu seinem Debütroman "WANDERTAGE" wurde.

Der Brief


Im Anfang war der Brief. Früher wurden wichtige Dinge im Leben der Menschen unauffällig über die Post abgewickelt: Am Morgen öffnen die Großeltern das handbeschriftete Kuvert und lesen die frohe Botschaft über die Geburt ihres Enkelkindes; mit derselben Morgenpost erreicht den freundlichen Nachbarn die kleine Liste mit den Namen der Kunden, die er als erfahrener Auftragsmörder zu liquidieren hat. Ein Papierbrief, in einen Umschlag gesteckt, ist nun einmal ein alltägliches und harmloses Ding. Genauso alltäglich war auch die Begebenheit an jenem Frühlingstag, an dem mein Vater zur Mittagszeit in weißem Hemd am Esstisch in der Küche saß und mit einem goldenen Kugelschreiber einen Brief schrieb, während meine Mutter gerade das Mittagessen zubereitete. Sie sprachen miteinander, ich saß daneben auf der Küchenbank, es roch wunderbar nach Olivenöl, frischen Kräutern und Gewürzen; durch das offene Fenster sah man den strahlend blauen Mittagshimmel. Zuerst war von unserem Kindermädchen Eugenia die Rede, die wohl schon von den Absichten meines Vaters wusste und laut darüber nachdachte, nach Frankreich zu gehen, da gäbe es weiße Lackschuhe und moderne Transistorradios. Andererseits, so meinte sie, gäbe es in Deutschland eine Fabrik, die junge Spanierinnen suche, um Kekse zu backen. Am Ende emigrierte unser Kindermädchen tatsächlich nach Paris und heiratete dort sehr bald einen Franzosen. Auf einem der Hochzeitsfotos trug sie weiße Lackschuhe und hielt mit beiden Händen ein Transistorradio. Ein anderes Foto zeigte Eugenia mit meiner Cousine bei grauem Wetter unter einem Regenschirm vor der majestätischen Kröpcke-Uhr. Es war Teresa, die es alleine bis Hannover geschafft hatte und jetzt bei Bahlsen Kekse herstellte.

Inzwischen hatte ich meinen Atlas unter dem Bett hervorgeholt, um nachzuschauen, wo genau Deutschland lag, wo Teresas Keksfabrik zu finden war. Tatsächlich war es auf der Karte sehr schwer zu finden. Die Bundesrepublik Deutschland war klein, sodass der Name des Landes kaum hineinpasste, und es gab zwei Deutschlands, worüber auch meine Mutter erstaunt war und fragend meinen Vater anschaute. Er stellte klar, dass er natürlich nicht in das kommunistische Deutschland zu fahren gedenke, wo das Elend und die Russen zuhause sind, sondern in das andere Deutschland, das einen Kanzler hat, der einen großen Mercedes fährt, und wo noch viele andere Spanier leben. Auf die konkrete Frage meiner Mutter, was er denn seinem Freund Marco schreiben würde, sagte mein Vater: Ich werde ihm sagen, dass wir im Herbst kommen, bis dahin haben wir wohl den Papierkram geregelt.

Die Rede war auch von einem spanischen Kulturzentrum, wo Marco Leute mit Beziehungen kenne, darunter auch einen jungen Priester, der sonntags in der katholischen Kirche eine Messe für Spanier hält und danach in der spanischen Mannschaft Fußball spielt. Aber am wichtigsten sei die spanische Schule, wo Kinder jeden Alters unterrichtet würden, damit sie ihre Sprache nicht verlernen und den Anschluss nicht verlieren, wenn sie mit der Familie nach ein paar Jahren wieder nach Hause zurückkehren. Daher müsste ich mir keine Sorgen machen, meinte mein Vater, ich würde weiterhin eine spanische Schule besuchen können. Ich ließ den Atlas auf den Boden fallen, schlich mich langsam hinaus, nahm die Katze mit, die auf der Treppe saß, und setzte mich auf den schattigen Bürgersteig vor dem Haus. Das Tier half mir immer, mich zu beruhigen. Meine schwarze Katze wusste stets, wie der Hase läuft. Und ich wusste, dass ich meine Katze niemals alleine zurücklassen würde, auch wenn mich mein Vater nach Deutschland verschleppen würde. Seit diesem Vorfall bin ich stets auf der Hut, wenn der Himmel blau und das Leben schön ist. Zeiten des Glücks sind mir irgendwie suspekt, sind mir nicht geheuer. Ich höre die Götter schon lachen über die Heiterkeit und Zuversicht, die ich in manch glücklicher Stunde empfinde, und frage mich insgeheim, wie die Briefbombe wohl aussehen mag, an der sie gerade wieder basteln. Es gibt Momente, da kann man ihren Zorn spüren, wenn sie feststellen, dass ihr schändliches Treiben nicht unbemerkt bleibt. Einmal, im Religionsunterricht, der in der Kirche stattfand, wollte ich von unserem Priester Don Benedicto wissen, wer im Universum die Macht habe, dieses verdammte Teufelspack zu vernichten. Der stadtbekannte Kinderschänder kannte mich schon, war daher von meiner Frage nicht allzu überrascht. Er schaute mich an und meinte nur, er wisse die Antwort. Und ich würde sie auch kennen, er sei sich dessen sicher.

Über die letzten Monate bis zur Abreise, zur Auswanderung nach Deutschland, gibt es nicht viel zu erzählen, außer dass meine Katze nachts vor unserer Haustür überfahren wurde und einige Mitschüler verstorben waren, die ich aber kaum kannte. Die armen Wichte hatten verdorbene Milch getrunken, die aus amerikanischem Milchpulver hergestellt und gratis an die Kinder in der Schule ausgegeben wurde. Ich hatte Glück. Meine Mutter wollte nicht, dass ich die Schulmensa aufsuche, aus welchen Gründen auch immer, obgleich die Versorgung umsonst war. Also lief ich in der langen Mittagspause immer nach Hause, was den Vorteil hatte, dass mir die neuesten Gerüchte aus dem Dorf beim Tischgespräch zu Ohren kamen: Eine Sippe ungarischer Zigeuner, so nannte man sie damals, kampiere seit Tagen vor den Toren der Stadt, denn offiziell war unser Dorf eine Kleinstadt. Die Einwohner fühlten sich von ihrer Präsenz bedroht, was für mich schwer verständlich war, denn mir war die Sippschaft schon einmal begegnet und ich sah nur kleine, abgemagerte und verschüchterte Frauen und Männer in bunten, abgewetzten Kleidern, begleitet von hungrigen Kindern und rachitischen Hunden. Von daher konnte ich die Aufregung nicht ganz verstehen. Dennoch wurden die freilaufenden Tiere umgehend in den Stall gebracht, die sonst offenen Haustüren verriegelt, die Kinder durften nicht mehr auf der Straße spielen, die Menschen im Dorf waren vom Bürgermeister zu Wachsamkeit aufgerufen. Aber so weit, dass die Kirchenglocken geläutet wurden, kam es dann doch nicht.

Es kam anders: Kurz nach Einbruch der Dunkelheit fiel im ganzen Ort der Strom aus, was unter normalen Umständen weder ungewöhnlich noch bedrohlich war. Die Lage war insofern ernst, als viele Familienväter zu einer mehrtägigen Agrarmesse nach Aranda de Duero aufgebrochen waren, ihre Frauen und Kinder allein zuhause saßen. Auch wir waren allein. Aus einer Truhe holte meine Mutter ein Bündel Altarkerzen heraus und zündete sie an; aus dem Schlafzimmer brachte sie unseren tragbaren Hausaltar mit den Flügeltüren und der Jesusfigur. Jetzt waren wir auf der sicheren Seite, so dachten wir, als überraschend jemand laut an die Haustür klopfte. Von den Verwandten konnte es keiner sein, denn sie schlugen niemals gegen die Haustür, sondern klopfen dreimal an die Fensterläden vom Treppenhaus, weil man es oben in der Wohnung besser hören konnte. Natürlich wusste ich, wo mein Vater sein Jagdgewehr und die Patronen aufbewahrte, aber ich hatte berechtigte Zweifel, ob meine Mutter im Ernstfall mit der Waffe umgehen könnte. Sie lief mit besorgter Miene in ihr Zimmer. Das war schon mal die richtige Richtung, öffnete jedoch nicht den Kleiderschrank, der im wahrsten Sinne des Wortes als „Armarium“ diente, sondern das Fenster zur Straße, um nachzuschauen, wer da draußen einen solchen Lärm veranstaltete. Unten auf der Straße standen eine Frau mit einer Laterne und einer Horde Kinder, in der Dunkelheit schlecht erkennbar. Es stellte sich bald heraus, dass die Leute vor der Tür die Familie des Gärtners war, die in der Hoffnung auf Nachtasyl bei uns angeklopft hatten. Auch der Gärtner, der den großen Obstgarten des Bürgermeisters am Stadtrand bearbeitete, war zur Messe gefahren und seine Frau war in Panik geraten, weil das kleine Gartenhaus, indem sie lebten, keinen wirklichen Schutz bot. Es war keine Frage, dass wir sie aufnehmen würden, sie waren ja gute Christen. Als wir dann alle in der Wohnküche versammelt waren, zählte ich sieben Kinder, vier Gärtnerskinder und wir drei Geschwister. Die Gärtnersfrau war eine gute Seele, warmherzig und unaufdringlich. Sie hatte eine Karaffe Rotwein und einen Laib Weißbrot mitgebracht, so gab es für jeden ein Stück warmes, frischgebackenes Brot und einen Becher „Römerwein“, also mit Wasser verdünnt. Die braven Gärtnerskinder hatten ihre Schlafdecken mitgebracht und sich darin eingewickelt, so verweilten wir alle in der Wohnküche: Wir saßen auf der Küchenbank, auf Stühlen, auf dem Boden, ein Mädchen lag auf der Anrichte, ich saß im Schneidersitz auf dem Küchentisch. Die Kerzen brannten hell und warm, das Auditorium war bereit für die Lesung. Denn meine Mutter hatte die opportune Idee, aus einem vergilbten Buch mit Ledereinband etwas vorzulesen, in der Hoffnung, auf diese Weise zur Entspannung der Lage beizutragen. Sehr gespannt hörten wir alle die wundervolle Sage von Genoveva von Brabant, der jungen Frau, die als Opfer von Intrigen zum Tode verurteilt wurde. Jedoch gelang ihr mit Hilfe des Henkers die Flucht in den Wald, wo sie mit ihrem Kind viele Jahre in einer Grotte versteckt bei den Tieren des Waldes lebte, bevor sie am Ende der Sage von ihrem Gemahl Siegfried gerettet und ihr Peiniger namens Golo als Strafe von ihm gevierteilt wurde.

Nach der spannenden Geschichte herrschte minutenlang Totenstille. Von der Erzählung fasziniert, schielten wir alle auf die Katze, die in unserer Mitte Platz genommen hatte und inzwischen eingeschlafen war. Die vermeintliche Bedrohung draußen war längst vergessen, niemand hatte bemerkt, wie die Stunden vergangen waren. Die Uhr zeigte schon nach Mitternacht. Mir ging jedoch der bösartige Golo nicht aus dem Kopf, mit welch kaltblütiger Grausamkeit er die Abwesenheit seines Meisters Siegfried, der in...

Erscheint lt. Verlag 25.5.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ausländer • Auswandern • Deutschland • Einwanderung • Flüchtling • Heimat • Identität • Immigration • Migration • Philosophie
ISBN-13 9783754996430 / 9783754996430
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