Der Wunderheiler (eBook)
293 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
9783754995525 (ISBN)
Studium freie Kunst, freischaffend tätig als Grafiker
Studium freie Kunst, freischaffend tätig als Grafiker
Nachts im Knast
Vom Drogenkurier zum Wunderheiler in einem einzigen Jahr, so eine steile Karriere muss mir erst einmal jemand nachmachen, dachte er.
Auch wenn dieser ungewöhnliche Werdegang ein ziemlich harter Trip gewesen war, erzeugte sein Gedankengang eine Woge beschwingter Heiterkeit in ihm. Glucksend stieg sie in seiner Kehle auf und verlor sich als leises Gelächter im ungastlichen Halbdunkel der nächtlichen Arrestzelle.
Nein, die Fähigkeit sich nach Herzenslust über die Irrungen und Wirrungen seines chaotischen Daseins amüsieren zu können, hatten sie ihm nicht austreiben können. Weder irgendwelche selbstgefälligen Wichser mit dem Hang zu Chefallüren, noch die gestörten Killertypen von der Mafia, nicht einmal die brutalen Menschenschinder, die sich Gefängniswärter schimpften. Wirklicher Humor wurde einem nicht geschenkt oder in die Wiege gelegt, Humor musste man sich erarbeiten und dann für seinen lebenslangen Erhalt kämpfen. „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, war ein Spruch, der sich prima auf seinem Grabstein machen würde, als Motto und Fazit seines Lebens sozusagen.
Schmunzelnd drehte sich Reiner auf seiner schmalen Pritsche um und starrte auf die schwarze Silhouette des engmaschigen Gitters, das vor dem einzigen Fenster des Raums angebracht war. Die großen Flutlichter im Innenhof des Gefängnisses wurden jeden Abend bei Dämmerung angezündet und erst bei Sonnenaufgang ausgeschaltet. Sie tauchten die Nacht außerhalb der Zellen in eine künstliche Atmosphäre. Der menschenleere, hell ausgeleuchtete Innenhof wirkte wie ein Fußballstadion ohne Spieler und Publikum.
Auch wenn Reiner inzwischen recht routiniert war im Umgang mit Störungen aller Art, glich es jedes Mal einem Kraftakt geistiger Kontemplation, die nächtliche Geräuschkulisse des Gefängnisses aus seinem Bewusstsein herauszufiltern. Wobei die größte Herausforderung natürlich darin bestand, sich nicht von dem phasenweise extrem lauten Schnarchen, Schmatzen und Grunzen seines kaum zwei Meter entfernten Zellengenossen aus der Ruhe bringen zu lassen.
Manchmal brauchte Reiner zwei Anläufe und mehr, um sich in die richtige Stimmung zu versetzen. Wenn er sich wirklich fallen lassen wollte, und das war eine der elementaren Voraussetzungen für seine nächtlichen Streifzüge, dann musste er die Kontrolle aufgeben. Und das war einfacher gesagt als getan in dem Umfeld, das er seit ein paar Monaten sein Zuhause nennen durfte. Rund um die Uhr schienen überall Gefahren zu lauern, da fiel es ihm schwer sich zu entspannen.
Das Gefühl ständig auf der Hut sein zu müssen, wurde er los, indem er seinen Blickwinkel änderte. Erst aus der Vogelperspektive kam ihm nichts mehr wirklich bedrohlich oder dringlich vor. Er war im Knast. Das bedeutete, er verpasste entweder alles oder rein gar nichts. Welches von beidem zutraf, war letztendlich nur eine Frage der richtigen Sicht der Dinge, und Reiner hatte sich entschieden seine innere Einstellung den äußeren Umständen anzupassen.
Wozu der Stress, mir läuft nichts weg. Im Gegenteil, ich habe alle Zeit der Welt, sagte er sich immer wieder. Dieser Leitsatz war zu seinem Mantra geworden. Er hatte ihn so oft wiederholt, bis er fest daran glaubte.
Auch an diesem Abend war er nach ein paar lockeren Atemübungen die Ruhe selbst und in seiner Mitte angekommen, sodass er gesammelt und hochkonzentriert in dem stillen Ozean seiner Erinnerungen abtauchen konnte. Er begab sich auf eine Traumreise, wobei der Begriff „Traum“ nicht wirklich treffend beschrieb, worum es bei diesen Ausflügen ins Geisterland ging. „Innere Reise“, das definierte es wesentlich besser, sie war als allabendliches Ritual inzwischen zu einem festen, unverzichtbaren Bestandteil seines Gefängnisalltags geworden.
Spät abends, nachdem die Lichter im Knast ausgegangen waren und die regelmäßigen Atemzüge seines Zellengenossen davon kündeten, dass er tief und fest schlief, nahm Reiner Anlauf und sprang kopfüber in den Fluss der Geschichte, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verband. Und während Zeit und Raum sich allmählich auflösten und schließlich bedeutungslos wurden, ließ er sich treiben. Er schwebte er mit offenen Sinnen durch eine Welt, in der es keine Gefängnisse, Verbote und Strafen gab, durch eine Welt ohne Grenzen.
Seine Erfahrungen machten ihm Mut sich immer weiter vorzuwagen. Auf jeder neuen Reise konnte er die Highlights seines bisherigen Lebens ein bisschen bewusster und zielgerichteter ansteuern. Manchmal schwamm er ans Ufer des Zeitstromes und warf seine Rute aus wie ein Angler, um bestimmte Lebensabschnitte herauszufischen und genauer unter die Lupe zu nehmen. Es überraschte ihn immer wieder aufs Neue, wie nahezu unbegrenzt die Möglichkeiten eines fokussierten, auf ein bestimmtes Ziel konzentrierten Bewusstseins waren.
Er hatte eine Grenze überschritten, und wusste, es gab kein Zurück. Dafür gab es aber auch kein Limit mehr. Wieweit er in Zukunft gehen würde, bestimmte allein er selbst.
In dem Neuland, das er sich anschickte zu erobern, wurde aus dem ewigen Opfer ein Mann, der auf eigene Faust handelte. Sobald er die Grenze zur anderen Welt übertreten hatte, legte er die Rolle des Losers ab und verwandelte er sich in einen mutigen Abenteurer, in seinen eigenen Helden. Seit er sich aufgemacht hatte, die geistige Sphäre zu erforschen und die in ihr verborgenen Möglichkeiten auszuloten, war etwas in ihm geheilt. Statt der ewigen nörgelnden Stimme in seinem Kopf, die ihn mit Kritik und Hohn überschüttete, empfand er plötzlich Selbstrespekt. Und dort, wo ihn vorher ein düsterer Abgrund voller Ängste das Leben zur Hölle gemacht hatte, war nun ein gewisses Maß an Vertrauen eingekehrt, Vertrauen darin, dass er auf einem guten Weg war.
Doch bevor er an diesem, nach vorübergehender Erlösung klingenden Punkt in seinem Leben anlangte, wurde er auf Herz und Nieren geprüft von einer Realität, die zunächst härter zu sein schien als er selbst und an der er zu zerbrechen drohte. Nach einigen ziemlich schmerzhaften körperlichen Auseinandersetzungen erkannte Reiner, dass der, in modernen Gesellschaften bezüglich Menschenwürde und Meinungsfreiheit grundsätzlich vorherrschende Konsens im Bau null und nichtig war. Ein Mangel, der sogar auf Gefängnisse zuzutreffen schien, die sich inmitten des angeblich freiheitlich demokratischen Deutschlands befanden. Erst jetzt, hinter Gittern, erkannte Reiner was für ein Privileg es war, jederzeit ungestraft seine Meinung äußern zu können.
Trotz alledem konnte er den Knast inzwischen als guten Lehrer sehen. Ohne ihn hätte sich sein Talent zum außerkörperlichen Reisen nicht entpuppt, und das Reiten auf den Schwingen seines Gedächtnisses wäre niemals zu seinem heimlichen Steckenpferd geworden. Wenn man den Himmel monatelang nur durch engmaschige Gitter betrachten konnte und selbst beim Hofgang nichts als hohe Mauern und finstere Visagen um sich hatte, musste man sich geheime Hintertüren suchen, um dem alltäglichen Wahnsinn zu entfliehen. Im Gefängnis konnte man sich nicht frei bewegen, frei sprechen schon gar nicht, nur im Geiste konnte man hier wirklich frei sein. Hier im Bau gab es keinen anderen Ausweg als denjenigen, der nach innen, direkt in die Quelle des Bewusstseins führte.
Die Geistreisen waren Reiners Freigänge. Sie hielten ihn am Leben.
Die Psychologen, diese elitäre Kaste aufgeblasener Klugscheißer, behaupteten ja, Menschen seien grundsätzlich nicht imstande sich frühkindlicher Erfahrungen zu entsinnen. Mochte ja sein, dass diese Faustregel auf den Großteil der Erdbevölkerung zutraf, für ihn galt sie jedenfalls nicht. Nach einer längeren Phase intensiven Trainings war er inzwischen in Lage in dem weiten Feld seines Gedächtnisses fast bis zum Zeitpunkt seiner Geburt zurückzureisen. Allabendlich koppelte er sich von allen irdischen Gesetzmäßigkeiten ab, um sich schwerelos und ohne jeden Kraftaufwand wie ein zauberischer Schwimmer entgegen dem Zeitstrom flussaufwärts treiben zu lassen.
Nahezu lückenlose Protokolle vergangener Ereignisse und Begegnungen, sogar flüchtige Details wie das Wechselspiel in der Mimik der jeweiligen Gesprächspartner, rief er mithilfe dieser Methode ab. Mühelos entsann er sich vergangener Szenarien, gelegentlich konnte er sogar Einzelheiten in Räumen und Landschaften ausmachen, die ihm ursprünglich, im eigentlichen Moment des Erlebens, entgangen waren. Von vielschichtigen Geräuschkulissen bis hin zu komplexen Gerüchen flogen ihm die Bausteine der Vergangenheit wie selbstverständlich zu und verfingen sich im Netz seines Bewusstseins. Alles, was er dafür tun musste, war sich auf einen bestimmten Punkt auf der Zeitachse seines Lebens zu konzentrieren und fallen zu lassen. Solange er offenen Herzens war, vorurteilsfrei und ohne zu bewerten auf Empfang blieb, liefen selbst die, in den tiefsten Schichten seines Unterbewusstseins beheimateten Erinnerungen in epischer Breite vor seinem inneren Auge ab wie ein Hollywoodfilm.
Zu den frühesten Erlebnissen, die er aus der phasenweise undurchdringlich anmutenden Schwärze seiner Gedächtnislücken ans Licht holen konnte, zählte eine Begegnung mit einem leibhaftigen Teufel. Nur zögerlich, bruchstückhaft hatte sie sich ihm nach und nach offenbart, als schämte sie sich für ihre Existenz.
Da! Unwillentlich zuckte Reiner auf seiner Pritsche zusammen, als sich das fremdartige Wesen plötzlich aus den Schatten erhob. Wie auf Kommando tauchte es aus der Versenkung auf und betrat die Bühne, als hätte es die ganze Zeit, zum Greifen nahe, im Dunkel des Hintergrunds...
| Erscheint lt. Verlag | 3.5.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Gefängnis • Geistreisen • Heiler • Heilung • Liebe • Liebesbeziehung • Magie • Medizin • Schamanismus • Wunder |
| ISBN-13 | 9783754995525 / 9783754995525 |
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