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Alles und nichts sagen (eBook)

Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30142-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles und nichts sagen -  Eva Menasse
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Zieht sich eine liberale Gesellschaft gerade den Boden weg, auf dem sie fest stehen sollte? Ein Essay darüber, was die digitale Massenkommunikation zwischenmenschlich anrichtet. Nichts hat das Zusammenleben so umfassend verändert wie die Digitalisierung - wir denken, fühlen und streiten anders, seit wir dauervernetzt und überinformiert sind. Die Auswirkungen betreffen alle, egal, wie sehr sie die neuen Medien überhaupt nutzen. Es ist ein Stresstest für die Gesellschaft: Der Überfluss an Wissen, Geschwindigkeit, Transparenz und Unlöschbarkeit ist, unkanalisiert, kein Wert an sich. Demokratiepolitisch bedeutsam wird dies bei der vielbeschworenen Debattenkultur. Denn die Umgangsformen der sogenannten Sozialen Medien haben längst auf die anderen Arenen übergegriffen, Politik und Journalismus spielen schon nach den neuen, erbarmungsloseren Regeln. Früher anerkannte Autoritäten werden im Dutzend abgeräumt, ohne dass neue nachkommen, an die Stelle des besseren Arguments ist die knappe Delegitimierung des Gegners getreten. Eine funktionierende Öffentlichkeit - als Marktplatz der Meinungen und Ort gesellschaftlicher Klärung - scheint es, wenn überhaupt, nur noch in Bruchstücken zu geben. In ihrem Essay kreist Eva Menasse um die Fragen, die sie seit vielen Jahren beschäftigen: vor allem um einen offenbar hoch ansteckenden Irrationalismus und eine ätzende Skepsis, vor denen niemand gefeit ist.

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel II. Ansteckende Krankheiten, ansteckende Medien


»You can talk a mob into anything, it thinks by infection« 

John Ruskin

Am Beginn des Jahres 2020 brach eine Pandemie über die Welt herein, und zum ersten Mal in der Geschichte lebte niemand mehr, der sich an die vorhergehende erinnern konnte. Einige erschrockene Wochen lang waren die Nachrichten fast monothematisch. Das Zusammentreffen von Menschenleere und Massenmedien schuf skurrile Bilder: Vermummte Fernsehteams filmten auf den leergefegten Hauptplätzen der Welt zuerst einander, bevor sie in Zeitlupe über die Stein- und Stahlwüsten von Petersplatz, Times Square oder Champs-Elysées schwenkten, sodass man als Zuschauer eine Ahnung von Nahtod-Erlebnissen bekam, alles Schöne zieht langsam und stumm noch einmal vorbei … In den Talkshows, die bis dahin den nationalen Stammtisch zumindest hatten vortäuschen sollen, wurde der Abstand der Teilnehmer in ihren Sesseln so vergrößert, dass eine »Gesprächssituation« kaum noch entstand; übersprungshaft fiel mir ein, dass in den Alpen das Jodeln erfunden worden war, um einander von Bergspitze zu Bergspitze auf dem Laufenden zu halten.

In meiner Erinnerung sieht die Coronazeit als Kurve so aus: das unruhig-unterhaltsame Leben von einem Tag auf den anderen abgeplättet auf die gerade Linie eines Herztoten, dann ein heftiger, stolz-glücklicher Ausschlag nach oben, als sich zeigte, wozu die moderne, global vernetzte Wissenschaft fähig war. Und schließlich, in nervösen Zuckungen, ein langer und tiefer Abstieg in den Keller der Desillusionierung. Es erschienen diese »Figuren wie aus dem Spätmittelalter« auf den Demonstrationen, Menschen, »die den Weg in die Moderne und damit zu naturwissenschaftlicher Evidenz und zum Staatsbürgertum innerlich nicht mitgegangen sind«, wie es wieder Peter Sloterdijk so spitz beschreibt. Und er analysiert: »Es gibt für den Selbstgenuss nichts Schöneres als solche Räusche des Irrsinns, euphorische Erfahrungen in der Annahme des gemeinsamen privilegierten Zugangs zur Welt«.[3]

Als die Pandemie begann, schien die Welt plötzlich nur noch aus Netzen, Vektoren und Kurven zu bestehen. Ein rasant anwachsendes Netz wurde vom Virus geschaffen, indem es von Mensch zu Mensch sprang, sie zu Infektionsträgern, Kranken, Toten verband und auf den Landkarten Cluster und weiße Stellen schuf. Außerdem kehrte es die herkömmlichen Zusammenhänge zwischen Wissen, Vergangenheit und Zukunft um. Wer sich ansteckte, wusste in den seltensten Fällen, woher. Aber man hatte doch eine gewisse Kontrolle darüber, ob und wem man es weitergab.

Meiner Erinnerung nach war ich überrascht, dass es all das tatsächlich noch gab: einerseits tödliche Seuchen, die unaufhaltsam selbst durch industrialisierte Staaten fegten, welche daraufhin begannen, sich gegeneinander abzuschotten; das Wort »Virus« hatte zuletzt nur noch in Hinblick auf Schadsoftware bedrohlich geklungen. Andererseits strenges, überprüfbares, wissenschaftliches Denken, das plötzlich wirkte wie das schiere Gegenteil der digitalen Umgangsformen – da es nicht danach strebt, die eigenen Annahmen einzubetonieren, sondern sie ständig zu überprüfen. Wie ein Schachspieler, der gegen sich selbst spielt, wie ein Hacker, der die eigene Firewall hart attackiert, arbeitet es gegen sich selbst: Wie kommt man rein, wo ist mein eigenes Leck? Ausgesiebt wird alles, was fehlerhaft oder einfach nicht gut genug ist; was übrigbleibt, ist nur vorläufig richtig. Schon am nächsten Tag kann es falsch sein. Das ist die kühle Schönheit und zwingende Sinnhaftigkeit naturwissenschaftlichen Denkens. Für eine kurze Zeitspanne gebührte Wissenschaftlern wie Christian Drosten und Anthony Fauci das Verdienst, mitten im Strudel von sterbenden Menschen, Lockdowns und überforderter Politik diese alten, fast vergessenen Tugenden wieder in ihr Recht gesetzt zu haben – Besonnenheit, Präzision, Reflexion, Selbstkritik, begründeten Zweifel. Es war das Netz der Verteidigung: eine hochspezialisierte, global und digital vernetzte westliche Wissenschaft bewerkstelligte im Rekordtempo funktionierende Tests, die Erforschung des Virus und seiner Mutationen bis hin zum Impfstoff und evaluierte sich dabei fast in Echtzeit fortwährend selbst.

Mit kleiner Verzögerung zeigte sich ein drittes Netz. Wahrscheinlich diente auch dieses der Verteidigung, jedoch der anderen, inneren; es bestand aus Abwehrzauber, war Flucht in die oben zitierten »Räusche des Irrsinns«. Es sah so aus, als ob mit Corona eine zweite bedrohliche Krankheit erst so richtig durchbrach, eine Seuche, die ebenso viele verschiedene Symptome und eine ebenso kurze Inkubationszeit zeigte. Manche erkrankten nur kurz und leicht, andere sind es bis heute nicht losgeworden. So wie man das SARS-CoV-2-Virus unversehens irgendwo einatmete, holten sich die Betroffenen den Irrationalismus einfach am Handy oder Computer, sorgfältig desinfizierte Finger schützten nicht davor.

Zweifellos wohnte man einer faszinierenden zufälligen Versuchsanordnung bei, genau wie die Klimaforscher, die in den ersten Wochen der radikal unterbrochenen menschlichen Reisebewegungen hektisch möglichst viele Umweltdaten sammelten, weil eine solche Gelegenheit wohl nicht so bald wiederkommen würde. Nur ein Jahr später bäumte sich zeitgleich mit dem großen Sieg der Wissenschaft, die ungeheuer schnell einen sicheren Impfstoff bereitgestellt hatte, eine derart irrationale und hochaggressive Impfgegnerschaft auf, dass sie mit dem Anlassfall und der kollektiven Panik nicht mehr hinreichend zu erklären war.

 

Vor über fünfundzwanzig Jahren hat die US-Historikerin Elaine Showalter bereits den Zusammenhang von »hysterischen Epidemien« und Massenmedien untersucht. Ihr Buch nannte sie »Hystorien«, weil sie sich fragte, wohin die vormals so weitverbreitete weibliche Hysterie um die Jahrhundertwende, wie sie von Lacan und Freud untersucht worden war, eigentlich verschwunden sei. War sie ausgestorben oder hatte sie sich bloß verwandelt? Showalter analysierte eine Reihe von Massenphänomenen, die offenbar unter der Oberfläche mit der »klassischen« Hysterie verwandt waren: etwa, dass in den Achtziger- und Neunzigerjahren Geschichten von US-Amerikanerinnen durch die Medien gingen, die überzeugt waren, durch Sex mit Außerirdischen schwanger geworden oder, umgekehrt, durch die Schuld von Außerirdischen ihrer Schwangerschaft beraubt worden zu sein – ungeplante Schwangerschaften ebenso wie heftig betrauerte Fehlgeburten bekamen eine Ursache, die man tröstlicherweise mit anderen teilte. Traumata und Schuldgefühle wurden verschoben und verlagert, in ein UFO und dessen allmächtige Bösewichter. Als Metapher in einer Psychotherapie wäre das konsistent, befremdlich wird die Sache erst mit dem Überschreiten der Metapherngrenze. Diese Frauen sprachen ernsthaft von »fliegenden Untertassen« und grünen, wahlweise schwarzen Männchen, die ihnen und ihrem Bauch etwas angetan hätten. Es lohnt, dieses Buch wieder zu lesen, weil Unvernunft eben nicht nur menschlich, sondern auch hochansteckend ist. Manches davon, was damals »typisch amerikanisch« klang, begreift man erst jetzt, unter den Bedingungen der digitalen Dauerkommunikation. Damals übertrugen sich solche »Hystorien« noch nicht interkontinental. Elaine Showalter überprüfte die Berichte in den regionalen Zeitungen und Radios und konnte tatsächlich nachvollziehen, wie sich die Ansteckungswellen der kollektiven Hysterien von Bundesstaat zu Bundesstaat fortgepflanzt hatten. Die Informationen ließen sich noch halbwegs sicher zu den Quellen zurückverfolgen, ebenso wie die Ausschmückungen, die nach dem Stille-Post-Prinzip erfolgten. Sie waren der produktive Ort. Denn genau dort, in den Ungenauigkeiten der Übertragung, in den Kopierfehlern der Narrative, entwickelten sich die vergifteten, krankhaften Teile. Genau dort nistete schon damals der Irrationalismus. Wie klein diese Infektionsstellen damals waren im Vergleich zu heute!

Heute wird unmittelbar und weltweit bekannt, wenn in den USA ein Bewaffneter eine Pizzeria stürmt, weil er und inzwischen Zehntausende andere Amerikaner sie für den Tatort halten, an dem Hillary Clinton, Tom Hanks und andere einen Kinderpornoring betreiben – der QAnon-Kult scheint übrigens direkt aus dem »satanistischen Ritualmissbrauch« hervorgegangen zu sein, den Elaine Showalter als »Hystorie« damals schon beschrieb.

Digitale Hysterien zeitigen handfeste analoge Folgen, wie »Pizzagate« und vieles andere längst bewiesen haben: Der bewaffnete Überfall hat ja stattgefunden, zum Glück ohne dass ein Schuss abgegeben wurde.

Und so tritt im Zeitalter der Digitalmoderne ein Gewöhnungseffekt für die abgedrehtesten Geschichten ein. Man wird auch passiv in viel größerem Maßstab an die unzähligen Angebote des Aberglaubens gewöhnt als noch zur Zeit von Showalters Studien, denn man stößt im nächsten Umkreis auf sie, bei Freunden und Verwandten. Vermutlich ist fast jeder einmal irgendeinem Fake auf den Leim gegangen. Ich schäme mich immer noch, das angeblich 1928 veröffentlichte Tucholsky-Gedicht »Zur Versachlichung der Impfdebatte« ungeprüft weitergeleitet zu haben, das in Wahrheit vom Titanic-Autor Cornelius W.M. Oettle stammt. Es war ein witziges, spitzes Gedicht, zweifellos. Aber ohne die erlogene historische Verknüpfung »wusste damals schon Tucholsky« hätte es niemals diesen viralen Erfolg gehabt.

Das ist eine direkte paradoxe Folge der...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Aggression • cancel culture • Cyber War • Debatte • Debattenkultur • Digitalisierung • Dunkelblum • Entwicklungen • Essay • Eva Menasse • Gesellschaftspolitik • Gewalt • Identitätspolitik • Impfgegner • Internet • Journalismus • Kommunikation • Massenkommunikation • Radikalisierung • Sascha Lobo • Social Media • Soziale Medien • Spaltung der Gesellschaft • Verschwörungstheorien
ISBN-10 3-462-30142-X / 346230142X
ISBN-13 978-3-462-30142-7 / 9783462301427
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