Die gespaltene Stadt (eBook)
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60510-6 (ISBN)
Michael Wallner spielte nach seiner Ausbildung am Wiener Max Reinhardt-Seminar am Burgtheater und am Berliner Schillertheater. 1982 erhielt er den Schauspielerpreis beim Norddeutschen Theatertreffen. Seit 1987 arbeitet er als freischaffender Theater- und Opernregisseur und inszenierte unter anderem in Düsseldorf, Frankfurt, Bochum, Wien, Hamburg und Lübeck. Wallner erhielt die Kainz-Medaille der Stadt Wien für die Regie von 'Krieg'. Seit 2000 lebt er als freier Autor in Berlin. Sein Bestseller 'April in Paris' wurde in über 20 Sprachen übersetzt.
Michael Wallner spielte nach seiner Ausbildung am Wiener Max Reinhardt-Seminar am Burgtheater und am Berliner Schillertheater. 1982 erhielt er den Schauspielerpreis beim Norddeutschen Theatertreffen. Seit 1987 arbeitet er als freischaffender Theater- und Opernregisseur und inszenierte unter anderem in Düsseldorf, Frankfurt, Bochum, Wien, Hamburg und Lübeck. Wallner erhielt die Kainz-Medaille der Stadt Wien für die Regie von "Krieg". Seit 2000 lebt er als freier Autor in Berlin. Sein Bestseller "April in Paris" wurde in über 20 Sprachen übersetzt.
1
ANJA UND WILLY
27. März 1961
»Guten Tag! Zollkontrolle der DDR. Die Erklärung bitte. Sie reisen allein?«
»Ja, ich bin allein.«
»Was ist der Grund Ihrer Reise nach Berlin?«
»Ich habe mich auf eine Stellungsausschreibung beworben.«
»Was sind Sie von Beruf, Fräulein Kaping?«
»Ich bin Stenotypistin.« Auf seinen verständnislosen Blick setzte sie hinzu: »Sekretärin.«
»Und wo haben Sie sich beworben?«
»Bei …« Auch wenn Anja wenig über die Verhältnisse in Berlin wusste, so ahnte sie doch, dass sie ihren angestrebten Arbeitsplatz hier besser nicht angeben sollte. »Bei der Verwaltung.« Sie rückte ihre Handtasche zurecht.
»Führen Sie Druckerzeugnisse mit sich, Zeitschriften, Romane, Prospekte?«
»Ich habe nur dieses Buch.« Sie nahm es heraus.
Er musterte den grellbunten Einband. »Vor Schüssen wird gewarnt? Ist das etwas Politisches?«
»Es ist ein Kriminalroman.«
Der Zollpolizist gab ihr das Buch zurück und notierte den Namen des Autors.
»Würden Sie mal die Gegenstände aus dem Gepäckfach nehmen?«
Anja hatte schlecht gepackt. Ein großer Koffer wäre praktischer gewesen. Jetzt musste sie die Ledertasche, den Pappkoffer und das verschnürte Paket anheben.
»Bitte eins nach dem anderen, damit ich dazwischensehen kann.« Mit der Taschenlampe leuchtete der Zollbeamte in das dunkle Gepäckfach. »Und was ist das?« Er deutete auf die Anstecknadel an ihrem Revers.
»Meine Brosche? Es ist eine Möwe.«
»Ist das ein politisches Symbol?«
»Es ist nur eine Möwe aus Blech. Ich finde sie einfach hübsch.«
Nachdem die Genossen der Zollverwaltung ausgestiegen waren, verließ der Zug den Grenzbahnhof im mecklenburgischen Schwanheide. Anja schaute in das flache, das schrecklich flache Land. Sie beruhigte sich nach der Prozedur nur langsam. Ihre Schwester Renate hatte ihr beschrieben, wie es an der Grenze zugehen würde. Es sei alles nicht so schlimm, wie die Westzeitungen das aufbauschten. »Du hast keine Ahnung, wie viel Schund- und Schmutzliteratur in die DDR geschmuggelt wird. Allein die Landser-Heftchen und die Pornografie. Das wollen wir hier nicht. Es ist schon gut, dass unsere Kontrolleure gründlich sind.«
Anja konnte der Landschaft nichts abgewinnen. Die Gegend um Lübeck war auch nicht gerade ein Alpengarten, aber dort fühlte man sich zwischen Hügeln und kleinen Erhebungen wenigstens geborgen. Waldstücke wechselten mit Weiden ab, das Auge hatte etwas zu schauen. Hier wurde das Auge rasch müde. Wohin man sah, nichts als Ebene und darüber der Himmel, der seine Farbe verlor, je tiefer Anja in das Land hineinfuhr. Gerade noch war sie draußen gewesen, jetzt war sie mittendrin. In der Ferne konnte sie die Zonengrenze noch erkennen: Die Demarkationslinie zwischen Ost und West war nur ein Stacheldrahtzaun zwischen Betonpfeilern. Das sollte die Grenze zwischen zwei Welten sein?
Am Grenzbahnhof Griebnitzsee dauerte die Kontrolle wieder eine halbe Stunde. Neben dem Zug patrouillierten Volkspolizisten mit Hunden. Die Tiere wurden ermuntert, bei den Rädern zu schnüffeln, ob sich ein DDR-Bürger unter den Waggon gehängt hatte. Auf Westberliner Seite fand der Übertritt ohne Personenkontrolle statt.
Das war Berlin! Anjas Herz schlug auf einmal wie verrückt. Sie, die Tippse aus Lübeck, gerade mal dreiundzwanzig, fuhr in die Stadt der Städte ein. Die leidgeprüfte Stadt, die glorreiche Stadt, die Stadt der Flitzpiepen, Luden und Nepper, die überhebliche Stadt, die sich trotz aller Katastrophen immer von Neuem erhob.
Solange Anja denken konnte, hatte Lübeck ihr genügt. Warum zog es sie auf einmal nach Berlin? Bestimmt nicht wegen ihrer Schwester. Sie und Renate waren sich nie besonders grün gewesen. An Berlins Schönheit konnte es auch nicht liegen. Selbst Jahre nach dem Krieg war es Frontstadt geblieben, umringt von der Front des anderen Systems. Berlin war nicht mehr die Stadt der goldenen Zwanziger, auch nicht die Reichshauptstadt. Trotzdem wäre Anja heute in keiner Stadt der Welt lieber gewesen.
Sie nahm die S-Bahn und stieg am Westkreuz um. Den Bahnhof Schöneberg gab es seit 1910, als Schöneberg noch eine selbstständige Stadt gewesen war. Sie hatte Bilder vom alten Bahnhof mit seinen blauen Jugendstilfliesen gesehen. Enttäuscht lief sie an den beigefarbenen Wänden vorbei. Als sie ins Freie trat, erwartete sie, die Farbenpracht der Großstadt zu sehen – Trubel, helle Häuser, grüne Parks und blauen Himmel. Aber die Welt da draußen war beige und grau. Berlin hatte kein Geld für freundliche Anstriche, Gelb und Rot kamen in seiner Palette nicht vor. Man strich die Häuser in einer Farbe, die auch in verwittertem Zustand ordentlich aussah.
Das Rathaus war ein Sandsteinbau. Auf dem Turm wehte die Berliner Fahne. Unter diesem Turm könnte sich Anjas Traum erfüllen. Falls sie durchfiel, würde sie ihrer Schwester einen Besuch in Köpenick abstatten. Für den kleinen Peter hatte sie ein Geschenk dabei. Danach musste sie Berlin wieder Adieu sagen.
Ein Blick auf die Rathausuhr – es war höchste Zeit. Sie lief zum Haupteingang, wurde von einem Ordnungsbeamten aufgehalten und belehrt. Mit ihrem Gepäck lief sie über den Rudoph-Wilde-Platz, stellte alles ab, rüttelte an verschlossenen Türen, hastete weiter, bis sie die richtige gefunden hatte. Gänge und Flure, Dutzende Türen, geschäftige Menschen, die meisten in Beige oder Grau. Hätte sie auch etwas Beiges anziehen sollen? War ihr keckes blaues Kostüm mit der schräg aufgesetzten Kappe ein unerwünschter Farbklecks im würdigen Rathaus?
Als sie sich der bewussten Abteilung näherte, sank ihr Herz ein Stück tiefer. So viele Frauen in ihrem Alter, so viele geschminkte Gesichter, so viele halblange Röcke, so viele Nylonstrümpfe. Was hatte sie denn erwartet? Von einer Ehrengarde an ihren neuen Arbeitsplatz begleitet zu werden?
Die Ausschreibung hatte nicht viel verraten: Erfahrung wurde verlangt, Offenheit und hundertzwanzig Anschläge pro Minute. Dass es eine Altersgrenze gab, war ihr nicht aufgefallen. Und doch schien keine der Wartenden älter als vierzig zu sein.
Die gepolsterte Tür ging auf, heraus trat der Büroleiter. Trotz Gepäck lief Anja schneller, um nur ja nichts zu verpassen. Eine Unebenheit im Boden, sie knickte um. Ihre Absätze waren zu hoch, das rächte sich jetzt. Anjas ulkiges Getorkel fiel dem Büroleiter auf. Er musterte sie durch seine Hornbrille.
»Haben Sie gleich Ihren ganzen Hausrat mitgebracht?«, fragte er. »Das war verfrüht.«
»Verzeihung. Ich bin …«
Der Büroleiter wartete ihre Entschuldigung nicht ab und wandte sich an die Frauen.
»Bitte, meine Damen.«
Zusammen mit den anderen betrat Anja ein Vorzimmer, das sich von typischen Amtsstuben darin unterschied, dass es vom Boden bis zur Decke getäfelt war. Auch tagsüber brannte hier der Lüster; das dunkle Holz hätte den Raum sonst düster wirken lassen.
»Nehmen Sie Platz.« Der Büroleiter wies auf eine Reihe von Stühlen. Anja hätte es gern auf den vordersten geschafft, wo sich die nächste gepolsterte Tür befand, die nirgendwohin führen konnte als ans Ziel.
»Ihre Sachen stellen Sie am besten dort ab«, sagte eine Vorzimmerdame.
Hastig stapelte Anja ihre Habseligkeiten und landete dadurch abgeschlagen auf der letzten freien Sitzgelegenheit.
»Ich darf Sie noch um einen Augenblick Geduld bitten«, erklärte der Büroleiter. »Der Regierende telefoniert. Er wird Sie in Kürze empfangen.«
Die Dritte in der Reihe, sie trug ein beiges, ziemlich tief ausgeschnittenes Kleid, hob die Hand. »Entschuldigen Sie, wie spricht man ihn denn an? Ich...
| Erscheint lt. Verlag | 27.7.2023 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Schicksalsmomente der Geschichte |
| Schicksalsmomente der Geschichte | Schicksalsmomente der Geschichte |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Berlin Roman • Bücher historisch • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Deutsche Teilung • Ensembleroman • Mauerbau • Novitäten 2023 historische Romane • Novitäten 2023 Paperback • Reihe Schicksalsmomente • Roman historisch • Roman nach wahren Begebenheiten • schicksal bücher • Schicksalsmomente • Schicksalsroman • Willy Brandt |
| ISBN-10 | 3-492-60510-9 / 3492605109 |
| ISBN-13 | 978-3-492-60510-6 / 9783492605106 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich