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Der große Wunsch (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-30214-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der große Wunsch -  Sherko Fatah
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Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023
Was tun, wenn die eigene Tochter nach Syrien reist, um einen Glaubenskrieger zu heiraten? - »Einer der politisch hellsichtigsten deutschen Schriftsteller.« DIE ZEIT

Feinfühlig und scharfsinnig erzählt Sherko Fatah eine erschütternde Vater-Tochter-Geschichte vor dem Hintergrund der Konflikte im Nahen Osten, die auch das heutige Westeuropa längst erreicht haben.

Eine Tochter verschwindet. Sie ist aufgebrochen, um sich in Syrien mit einem Glaubenskrieger zu verheiraten, den sie im Internet kennengelernt hat. Zurück bleibt ein Vater, der sich Vorwürfe macht. Hätte Murad seiner Tochter Naima nur mehr von seinem Herkunftsland erzählt, von dem er sich hier in Deutschland endlich gelöst hat. Hätte er ihren Fremdheitsgefühlen nur mehr Beachtung geschenkt. Vielleicht wäre sie dann nicht im Namen der Religion in eine Welt heimgekehrt, die ihr vollkommen unvertraut ist. Murad sieht nur eine Lösung: Er muss Naima finden. Und so nimmt er Kontakt zu Schleusern auf, reist in das Kurdengebiet an der türkisch-syrischen Grenze und stellt sich dabei auch seiner eigenen Vergangenheit. Als ihm die Schleuser ein Audiotagebuch präsentieren, das von einer Frau in Rakka aufgenommen wurde, mit großer Wahrscheinlichkeit Naima, entscheidet Murad, die gefährliche Reise in das Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates auf sich zu nehmen ...

Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein erzählerisches Werk hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015, außerdem den Aspekte-Literaturpreis für den Roman »Im Grenzland«. Er wurde mehrfach für den Preis der Leipziger Buchmesse (2008 mit »Das dunkle Schiff«, 2012 mit »Ein weißes Land«) nominiert und mit »Das dunkle Schiff« auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2008 gewählt.

Am nächsten Tag stellte er eine Veränderung der Landschaft fest, deren Ursache er erst nach ein paar Minuten der Betrachtung ausmachen konnte. Dunst hatte sich erhoben wie ein zarter Nebel, der die Farbtöne verschob. Murad saß im Teehaus und blickte auf die Ebene hinaus. An diesem frühen Nachmittag beschlich ihn das Gefühl völliger Verlassenheit angesichts des menschenleeren Landes. Die Dorfstraße war wie ausgestorben, und erst nach zwanzig Minuten kam der Inhaber des Ladens auf die Terrasse heraus, um ihn zu bedienen. Er war ein korpulenter Mittvierziger mit ungepflegtem Bart und einem etwas unangenehm stechenden Blick. Glücklicherweise, dachte Murad, blickt er Leuten nicht gern in die Augen. Und sucht so gut wie nie das Gespräch.

Als er fort war, bestaunte Murad wieder die Veränderung der Landschaft. Am Anfang der Ebene, die hinter der Straße begann, lagen wie ausgestreut kleinere Felsbrocken, von denen, so fantasierte Murad, ein nächtlicher Wind allen Sand geweht hatte, sodass sie jetzt nackt in diesem seltsamen Licht lagen und ein mattes Graublau zeigten, das ihn an die Farbe eines Nordmeeres denken ließ. Mehr Grau als Blau und doch unübersehbar vom Blau getönt. Es war ein etwas irrwitziger Gedanke, aber hätte man ihn gefragt, dann hätte Murad diese Felsbrocken beschrieben als Reste eines uralten, versteinerten Himmels.

Ein paar hundert Meter weiter konnte er stellenweise parallel verlaufende Risse im Boden erkennen; gewaltige Kratzspuren ohne Verursacher. An diesem Tag sah man keine Lkw in der Ferne, der Dunst war dort einfach zu dicht. Murad schreckte auf, als eine Katze nah an seinen Beinen vorüberstrich. Mit einem Schnalzen versuchte er, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch selbst dieses Tier war zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, als dass es ihm auch nur einen Blick zugeworfen hätte.

Er seufzte und fühlte sich nun bereit, Dorothees Nachricht zu lesen. Nach ein paar allgemeinen Worten schrieb sie etwas, das ihn nachdenklich stimmte:

»Ich kenne deinen Hang zum Abenteuer (der steckt auch hinter der Beziehung zu deinem verrückten Freund, der mich hier schon ein paarmal angerufen hat), den du so oft beschönigst oder, sagen wir, kleinredest. Aber ich bitte dich, als Mutter von Naima, vermische das auf dieser Reise nicht mit deiner Aufgabe, sie zu finden. Du bist so plötzlich losgefahren, als wir noch gar nicht wussten, was eigentlich passiert ist, und jetzt meldest du dich nicht bei mir, ich weiß seit Wochen nicht, was du tust, und soll doch daran glauben, dass du auf einer Suche bist …«

Mein Hang zum Abenteuer, dachte Murad. Sie versteht mich nicht, sagte er sich. Und schrieb zurück:

»Um irgendetwas anderes zu tun, als zu warten, musste ich hierherkommen. Hat aber mit Abenteuerlust wenig zu tun. Alles, was du mir vorhalten könntest, ist, dass ich auch hier nicht viel mehr tun kann als warten. Aber wenigstens bin ich auf eine gewisse Weise in Naimas Nähe. Außerdem hat sich bereits einiges ergeben, von dem ich allerdings nicht sicher weiß, was es bedeutet. Gib mir noch etwas Zeit, bevor ich dir mehr sage. Ich weiß, für dich ist das alles sehr belastend. Aber, glaube mir, ich fühle mich nicht anders als du.«

Er war überzeugt davon, dass er Dorothee hinhalten musste. Sobald er ihr Anlass zu der vagen Hoffnung gegeben hätte, Naima gefunden zu haben, wäre eine Lawine von E-Mails ausgelöst worden, die ihn gezwungen hätte, dort mit ihr und zugleich hier zu leben.

»Alles funktioniert hier viel langsamer als bei dir. Es gibt keine kurzfristigen Entscheidungen, die zu einer raschen Lösung führen. Alles ist abhängig von Leuten, die sich hier nur alle paar Wochen sehen lassen. Versteh bitte, ich selbst muss warten und kann dir zur Überbrückung keine unwichtigen oder unklaren Informationen senden. Du siehst daran, dies hier ist eben keine Urlaubsreise.«

Nach dieser zweiten E-Mail legte Murad das Handy weg. Ihre Andeutung beschäftigte ihn dennoch weiter. Er fragte sich, ob sie sich ihn vorstellte, wie er in einem kargen Hotelzimmer auf dem schmuddeligen Bett lag, das Handy auf der Brust und die Zigarette im Mundwinkel, Trübsal blasend und wartend und dabei an die Decke auf die Windrose für die Gläubigen starrend. Das entsprach wohl am ehesten ihrem Bild von seinem Aufenthalt hier.

Dorothee war immer eine gute Leserin gewesen, aufmerksam und fantasievoll. Er hatte es gemocht, wenn sie, lang hingestreckt und ab und an mit den Zehen wackelnd, auf dem Sofa lag, ein Buch ziemlich hoch über ihr Gesicht hielt und hemmungslos schmatzend Äpfel aß. Sie murmelte dann zwischendurch: »Was für ein Quatsch …« oder: »So ein Idiot …« oder auch: »Was soll das denn jetzt …?« Sie hatte ein untrügliches Gespür für Situationen, deutete sie, ja, las sie im Grunde. Dadurch schärfte sich ihr Sinn für Abweichungen, was in Murads Augen gleichbedeutend war mit einer Verfestigung ihrer Vorstellung von normalem Verhalten. Es fiel Dorothee schwer, mit Abweichungen, mit Ambivalenzen umzugehen, eben weil sie sich ihren Deutungen entzogen. Ich bin eine solche Abweichung, Ambivalenz, dachte Murad, jemand, der schrieb, ohne das zu können oder zu wollen, ein Künstler ohne Werk, ein Aktivist ohne Mission, ein beruflicher Irrläufer und vielleicht auch ein menschlicher.

Die Landschaft nahm wieder Kontakt zu ihm auf. Wind hatte sich erhoben, drängte vom Mardin-Plateau hinab in die mesopotamische Ebene und veränderte die Farben wie ein unsichtbarer Filter. Jetzt schien der hell beigefarbene Boden weit entfernt in einem grünlichen Dunst aufzusteigen, und nur die verstreuten, Salzablagerungen ähnelnden Flecken, die aus niedrig wachsenden, weiß blühenden Sträuchern bestanden, blieben davon unberührt.

Der Junge trat wieder an seinen Tisch, und Murad zahlte seinen Tee und das nur zur Hälfte ausgetrunkene Glas Arak. Der Junge wies darauf.

»Heute war mir nicht danach«, sagte Murad. »Wie heißt eigentlich dein Chef?«

»Chef.«

»Er heißt Chef?«

»Ja, wir alle nennen ihn nur Chef.«

»Er schaut immer so grimmig.«

Der Junge grinste schief, schien aber verlegen, zierte sich zu antworten. Murad hakte nicht nach, verabschiedete sich, steckte das Handy in die Hosentasche und ging.

Vielleicht lag es an der frischen Luft, aber Murad bemerkte immer häufiger den muffigen Geruch, der seiner Kleidung entströmte. Durch die häufigen Stromausfälle blieb sie einfach zu lange in der Waschmaschine des Hauses. Auch wenn er sie danach im Freien trocknen ließ, wurde sie nicht mehr frisch. Er hatte es mit Weichspüler versucht, aber der Muff blieb, er schien durch den dazugekommenen süßlichen Duft noch verstärkt zu werden. Dies war nun eigentlich kein Problem, das ihn in seiner Lage hätte beschäftigen sollen. Doch konnte er, wenn er umherging oder einfach nur auf dem Bett im Zimmer lag, nicht umhin, diese leichte, aber ständige Geruchsbelästigung wahrzunehmen.

Bald stellte er sich vor, wie es wäre, seine Wäsche nicht mehr in dieser großen Maschine im Keller zu waschen, sondern sie in dem kleinen Bach unweit des Hauses nur durchzuspülen und danach im Wind trocknen zu lassen. Aus unerfindlichen Gründen beglückte ihn diese Vorstellung, und wenn er sich fragte, warum, dann war die einzige Antwort, auf die er kam: Befreiung. Befreiung von diesem Haus und seinen Bewohnern, im Grunde aber von dem Einerlei, zu dem sich sein Aufenthalt hier inzwischen entwickelt hatte. Befreiung natürlich auch von der Warterei und seiner sich verstärkenden Furcht, Naima nie wiederzusehen.

Die ins Offene gesandten Mitteilungen jener Frau in Rakka halfen wenig dagegen. Sie hielten ihn zwar in Spannung, ließen in ihm aber keine Vertrautheit mit dieser Stimme, diesen Atemgeräuschen, dem gelegentlichen Husten und Seufzen entstehen. Murad hatte vielmehr das widrige Gefühl, einer Inszenierung zu folgen, die ihn gewissermaßen danach süchtig gemacht hatte, manipuliert zu werden.

So kam es, dass er sich beinahe freiwillig auf dem Grundstück um das Haus verirrte und dem Bach hinauffolgte bis zu einer Anhöhe, die er bisher noch nicht betreten hatte. Von dort aus war ein altes Haus zu sehen, nicht größer als das, was man in Ostdeutschland eine Datsche nannte. Es war in keinem guten Zustand, der typische helle Kalkstein, aus dem es vor langer Zeit gebaut worden waren war, hatte sich an vielen Stellen dunkel verfärbt. Murad ging hin und nahm das Häuschen in Augenschein. Es gab Risse und Einbuchtung in den Mauern, Reste von Schwalbennestern und an einer Stelle eine, aus ein paar Metern Entfernung betrachtet, schleierartig herabfallende, ungewöhnlich breite Ameisenstraße.

Zunächst wagte er noch nicht hineinzugehen, obwohl die Tür kein Schloss aufwies und so schief in den Angeln hing, als hätte man ein verwittertes Holzbrett gegen die Wand gelehnt. Am Abend dieses Tages aber fragte er Alija und Abbas nach diesem Häuschen. Seine Vermieter schienen davon überrascht. Zum einen waren sie verwundert, dass er es überhaupt gefunden hatte, zum anderen rief es wohl in beiden unangenehme Erinnerungen wach.

»Mein Vater hat dort gewohnt. Die letzten Jahre seines Lebens hat er dort verbracht«, sagte Abbas und blickte betrübt drein.

»Was hat er gemacht, ich meine, beruflich«, sagte Murad, um ihn von seinen Gedanken abzulenken.

Abbas Gesichtszüge entspannten sich.

»Er hat sehr vieles gemacht in seinem Leben«, sagte er. »Er ist zur See gefahren in seiner Jugend, und er war auch ein Soldat. Davon hat er mir erzählt. Und er hat viele Frauen gekannt …«

Alija stieß ihn an. Abbas kicherte.

»Ein echter Abenteurer also«, sagte Murad. »Warum seid...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • eBooks • Familienbeziehung • Generationen • Generationenkonflikt • Glaubenskrieg • Heimat • Herkunft • Islamischer Staat • Longlist Deutscher Buchpreis 2023 • Migration • Nahost-Konflikt • Neuerscheinung • nominiert für den deutschen buchpreis 2023 • Olga Grjasnowa • Orhan Pamuk • postmigrantische familien • Radikalisierung • Roman • Romane • Serhij Zhadan • Suche nach Tochter • Syrien • Türkei • Vater und Tochter • Vergangenheitsbewältigung
ISBN-10 3-641-30214-5 / 3641302145
ISBN-13 978-3-641-30214-6 / 9783641302146
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