Paul Valéry: Dialoge und Theater (eBook)
509 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77144-0 (ISBN)
Band 2 der Gesamtausgabe enthält Valérys Dialoge und Theaterstücke von 1920 bis 1945.
Die dem Sokratischen Dialog nachempfundenen Streitgespräche vermitteln einen Eindruck der weitreichenden Interessen Valérys und loten kontrovers Formen künstlerischen Schaffens aus.
Auf die Dialoge folgen die Fragmente Mein Faust, das Melodram Amphion sowie theoretische Schriften zum Theater. Mit seinen unvollendet gebliebenen Stücken des Faust-Zyklus knüpft Valéry an Goethe an und versetzt die Figuren, mit ihrem Streben nach Erweiterung der rationalen Fähigkeiten und nach totaler Beherrschung von Natur und Welt, ins 20. Jahrhundert. Wie im gesamten Werk Valérys bedingt auch hier die mit philosophischem Gedankengut aufgeladene Sprache die Neuverhandlung des Stoffes.
<p>Paul Valéry wird 1871 im südfranzösischen Sète als Sohn von Barthélémy Valéry, einem Beamten bei der französischen Zollverwaltung, und der Italienerin Fanny Grassi geboren. Bereits als Schüler tritt Valéry mit Dichtungen hervor und setzt diese während des Jurastudiums in Montpellier fort. Die sogenannte <em>Nacht von Genua</em> (1892) führt jedoch zunächst zu der Entscheidung, sich vom praktischen Dichten ab- und der bedingungslosen Selbstanalyse des Geistes und Bewußtseins zuzuwenden. 1894 beginnt Paul Valéry seine <em>Cahiers</em> zu schreiben: längere und kürzere Gedanken zu allen Bereichen des intellektuellen Lebens und der Wissenschaften. Bekannt wird er schon früh durch seinen Essay <em>Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci</em>, 1894, und durch das Prosawerk <em>Der Abend mit Monsieur Teste</em>, 1895. Ein verändertes Umfeld in Paris führt zur Eheschließung mit Jeannie Gobillard, zu einer bürgerlichen Lebensweise, zum Besuch literarischer und intellektueller Salons. Nach großen dichterischen Erfolgen mit <em>La jeune Parque</em> 1917 (ins Deutsche übertragen durch Paul Celan) und der Sammlung <em>Charmes</em> 1922 (durch Rilke), was Valéry Anfang der zwanziger Jahre laut Umfrage zum größten lebenden Dichter Frankreichs avancieren läßt, folgen große kulturpolitische und dichtungspoetische Essays und zwei Jahrzehnte Vortragsreisen durch ganz Europa. Seit 1926 ist Paul Valéry Mitglied der Académie française, 1931 wird ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen, 1933 wird er Administrator des neugegründeten Centre Universitaire méditerranéen in Nizza, 1937 Inhaber eines eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhls für Poetik am Collège de France. Nach Paul Valérys Tod am 20. Juli 1945 ordnet de Gaulle ein Staatsbegräbnis an.</p> <p></p>
EUPALINOS
ODER DER ARCHITEKT
Πρός χάριν1
PHAIDROS
Was machst du da, Sokrates? Ich suche dich seit langem. Ich durchstrich unseren bleichen Aufenthaltsort und habe überall nach dir gefragt. Jedermann kennt dich hier, aber niemand hatte dich gesehen. Warum hast du dich entfernt von den übrigen Schatten, und welcher Gedanke hatte deine Seele zusammengefaßt, abseits von unseren, an den Grenzen dieses durchscheinenden Reiches?
SOKRATES
Warte. Ich kann nicht antworten. Du weißt wohl, daß die Überlegung bei den Toten im ganzen vor sich geht. Wir sind jetzt zu sehr vereinfacht, um nicht die Bewegung irgendeiner Idee gleich bis ans Ende mitzumachen. Die Lebendigen haben einen Körper, der ihnen erlaubt, aus dem Wissen herauszutreten und dorthin zurückzukehren. Sie bestehen aus einem Haus und einer Biene.
PHAIDROS
Herrlicher Sokrates, ich bin still.
SOKRATES
Ich danke dir für dein Schweigen. Indem du’s hältst, hast du den Göttern und meinem Gedanken das härteste Opfer gebracht. Du hast deine Neugierde in dir aufgebraucht und deine Ungeduld meiner Seele geopfert. Sprich jetzt frei, wenn irgendein Wunsch, mich zu fragen, in dir bleibt; ich bin bereit zu antworten, denn ich bin fertig, mich zu befragen und mir selbst zu antworten. – Aber es ist selten, daß eine Frage, die man unterdrückt hat, nicht im Augenblick sich selbst aufzehrt.
PHAIDROS
Warum also dieses Exil? Was machst du, von uns anderen abgetrennt? Alkibiades, Zenon, Menexenos, Lysis2, alle Freunde sind erstaunt, dich nicht zu sehen. Sie reden ohne Ziel, und ihre Schatten summen.
SOKRATES
Sieh und höre.
PHAIDROS
Ich höre nichts, und ich sehe nichts Besonderes.
SOKRATES
Vielleicht bist du noch nicht genug tot. Das ist hier die Grenze unseres Gebiets. Vor dir strömt ein Fluß.
PHAIDROS
Armer Ilissos.3
SOKRATES
Dieser da ist der Fluß der Zeit. Er wirft nur die Seelen auf dieses Ufer; alles übrige nimmt er mühelos mit.
PHAIDROS
Ich beginne etwas zu sehen, aber ich unterscheide nichts. Alles das, was treibt und vorbeigleitet, meine Blicke verfolgen es einen Augenblick und verlieren es, ohne es unterschieden zu haben ... Wenn ich nicht tot wäre, würde mir diese Bewegung Übelkeit verursachen, so traurig ist sie und so unwiderstehlich. Oder ich wäre gezwungen, sie nachzuahmen in der Art der menschlichen Körper: ich würde einschlafen und so mittreiben.
SOKRATES
Dieses große Getriebe besteht allerdings aus allen Dingen, die du gekannt hast oder die du hättest kennen können. Diese ungeheure und bewegliche Oberfläche, die ohne Aufenthalt dahinstürzt, rollt alle Farben, die es gibt, in das Nichts. Sieh, wie sie farblos ist im ganzen.
PHAIDROS
Ich meine jeden Augenblick, daß ich irgendeine Form erkennen würde, aber das, was ich glaubte zu sehen, erweckt niemals die mindeste Ähnlichkeit in meinem Geist.
SOKRATES
Das kommt davon, weil du da wirklich dem Ablauf aller Wesen beiwohnst, du, der du unbeweglich bist im Tod. Wir sehen von diesem so reinen Ufer aus alle menschlichen Dinge und die natürlichen Gestalten bewegt nach der wirklichen Geschwindigkeit ihres Wesens. Wir sind wie der Träumer, in dessen Innern Figuren und Gedanken auf wunderliche Art abwechseln in ihrer Flucht und die Dinge und ihre Veränderungen sich untereinander einrichten. Hier ist alles nebensächlich, und doch zählt alles. Die Verbrechen bringen ungeheure Wohltaten hervor, und die größten Tugenden entwickeln verhängnisvolle Folgen: das Urteil hält sich nirgends auf, die Idee wird Erscheinung unter dem Blick, und jeder Mensch zieht hinter sich her eine Verkettung von Ungeheuern, die sich unauflösbar gebildet hat aus seinen Handlungen und aus den Gestaltungen seines Körpers, von denen eine in die andere überging. Ich denke an die Gegenwart und an die Gewohnheiten der Sterblichen in diesem flüssigen Verlauf; ich war einer von ihnen und suchte alle Dinge so zu sehen, genauso wie ich sie jetzt sehe. Ich verlegte die Weisheit in die ewige Lage, in der wir uns befinden. Aber von hier aus ist alles verkennbar. Die Wahrheit ist vor uns, und wir verstehen nichts mehr.
PHAIDROS
Aber wovon kommt denn, Sokrates, dieser Geschmack am Ewigen, den man manchmal bei den Lebendigen gewahrt? Du verfolgtest das Wissen. Die Allergröbsten versuchen verzweifelt, alles zu bewahren bis auf die Leichen der Toten. Andere bauen Tempel und Grabmäler und strengen sich an, sie unzerstörbar zu machen. Die Weisesten unter den Menschen und die der Eingebung Offensten versuchen es, ihren Gedanken einen Einklang und eine Kadenz zu geben, durch die sie sicher wären vor Abänderung und Vergessen.
SOKRATES
Wahnsinn, Phaidros! Du siehst es deutlich. Aber das Geschick hat es so bestimmt, daß unter den Dingen, die unentbehrlich scheinen für das Geschlecht der Menschen, einige unsinnige Wünsche vorkommen. Es würde keinen Menschen geben ohne die Liebe; noch würde die Wissenschaft bestehen ohne absurde Ambition. Und woher, meinst du, haben wir die erste Idee und die Kraft zu diesen ungeheuren Anstrengungen, die so viele berühmte Städte aufgerichtet haben und so viele überflüssige Denkmäler, die der Verstand bewundert, der unfähig gewesen wäre, sie zu erfinden?
PHAIDROS
Immerhin, der Verstand hat einigen Anteil daran gehabt. Ohne ihn wäre alles umsonst.
SOKRATES
Alles.
PHAIDROS
Erinnerst du dich der Bauten, die wir am Piräus entstehen sahen?
SOKRATES
Ja.
PHAIDROS
Dieser Werkzeuge, dieser Anstrengungen und dieser Flöten, die sie zähmten durch ihre Musik, dieser so genauen Arbeiten, dieser Fortschritte, die zugleich so geheimnisvoll und so klar waren? Welche Verwirrung zuerst, die sich in Ordnung aufzulösen schien! Welche Festigkeit, welche Strenge entstand zwischen diesen Loten an den schwachen Seilen entlang, die ausgespannt waren, um gestreift zu werden von dem Wachstum der Ziegelwände.
SOKRATES
Ich bewahre diese schöne Erinnerung. O Baustoffe, schöne Steine! ... Was sind wir zu leicht geworden im Vergleich mit ihnen!
PHAIDROS
Und des Tempels vor den Mauern bei dem Altar des Boreas? Erinnerst du dich seiner?
SOKRATES
Desjenigen der Artemis, der Jägerin?
PHAIDROS
Eben dieser. Eines Tages waren wir dort; wir unterhielten uns über die Schönheit.4
SOKRATES
Ach!
PHAIDROS
Ich war befreundet mit dem, der diesen Tempel gebaut hat. Er war aus Megara und hieß Eupalinos. Er sprach mir gerne von seiner Kunst, von aller Sorgfalt und aller Kenntnis, die dazu gehört. Er machte mir alles verständlich, was ich mit ihm in den Bauhütten sah. Vor allem sah ich seinen erstaunlichen Geist. Ich fand in ihm etwas von der Kraft des Orpheus.5 Er sagte diesen unförmigen Haufen von Steinen und Balken, die um uns herum lagen, ihre gestaltete Zukunft voraus; und diese Stoffe schienen beim Klang seiner Stimme jenem einzigen Platze vorbestimmt zu sein, für den die der Göttin günstigen Geschicke sie bezeichnet hatten. Wahre Wunder waren seine Ansprachen an die Werkleute. In ihnen blieb keine Spur von den schwierigen Erwägungen der Nacht. Er gab ihnen nur Befehle und Zahlen.
SOKRATES
Das ist die Art Gottes selbst.
PHAIDROS
Seine Reden und ihre Handlungen paßten so glücklich aneinander, daß man hätte denken können, diese Menschen seien seine eignen Glieder. Du würdest nicht glauben, Sokrates, welche Freude es für mich war, eine so wohlgeordnete Sache kennenzulernen. Ich kann die Idee eines Tempels nicht mehr trennen von der seiner Auf richtung. Wenn ich einen sehe, sehe ich eine wunderbare Handlung, ruhmreicher noch als ein Sieg und im noch größeren Gegensatz zu der armseligen Natur. Zerstören und Aufrichten sind gleich an Wichtigkeit. Es braucht Seelen für das eine wie für das andere, aber das Bauen ist meinem Geiste teurer. O sehr glücklicher Eupalinos!
SOKRATES
Was für eine Begeisterung eines Schattens für ein Gespenst! – ich habe diesen Eupalinos nicht gekannt. Das war also ein großer Mann? Ich sehe, er erhob sich bis zur äußersten Kenntnis seiner Kunst. Ist er hier?
PHAIDROS
Er ist ohne Zweifel unter uns; aber ich bin ihm noch nie begegnet in diesem Land.
SOKRATES
Ich weiß auch nicht, was er hier bauen könnte. Sogar die Entwürfe sind hier Erinnerungen. Aber so beschränkt wie wir sind auf die bloßen Annehmlichkeiten des Gesprächs, wäre es mir lieb, ihn zu hören.
PHAIDROS
Ich habe einige von seinen Vorschriften behalten. Ich weiß nicht, ob sie dir gefallen würden. Was mich angeht, so bin ich entzückt von ihnen.
SOKRATES
Kannst du mir einige wiederholen?
PHAIDROS
Höre also. Er sagte oft: Es gibt keine Einzelheiten in der Ausführung.6
SOKRATES
Ich verstehe und ich verstehe nicht. Ich verstehe etwas, aber ich bin nicht sicher, ob es das ist, was er sagen...
| Erscheint lt. Verlag | 4.4.2023 |
|---|---|
| Übersetzer | Rainer Maria Rilke, Eliane Blüher, Friedhelm Kemp, Carlo Schmidt, Karl August Horst, Franz Wurm, Max Looser |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Oeuvres II |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 19. Jahrhundert • André Gide • Ästhetik • Frankreich • Moderne • Oeuvres II deutsch • Paris • Philosophie • ST 5215 • ST5215 • suhrkamp taschenbuch 5215 • Westeuropa |
| ISBN-10 | 3-518-77144-2 / 3518771442 |
| ISBN-13 | 978-3-518-77144-0 / 9783518771440 |
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