Paul Valéry: Zur Literatur (eBook)
558 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77145-7 (ISBN)
Band 3 der Gesamtausgabe versammelt Valérys Schriften zur Literatur, entstanden zwischen 1920 und 1945. Seine Überlegungen reichen von den Balladen François Villons aus dem 15. Jahrhundert, über die Lyrik von Stéphane Mallarmé, bis hin zu Marcel Prousts im 20. Jahrhundert veröffentlichten Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die chronologisch angeordneten Schriften, Reden und Vorworte bilden ein ausgewähltes Panorama französischer Geistesgeschichte - das ergänzt wird durch Bemerkungen zu Johann Wolfgang von Goethe sowie Auszüge aus einem Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke.
<p>Paul Valéry wird 1871 im südfranzösischen Sète als Sohn von Barthélémy Valéry, einem Beamten bei der französischen Zollverwaltung, und der Italienerin Fanny Grassi geboren. Bereits als Schüler tritt Valéry mit Dichtungen hervor und setzt diese während des Jurastudiums in Montpellier fort. Die sogenannte <em>Nacht von Genua</em> (1892) führt jedoch zunächst zu der Entscheidung, sich vom praktischen Dichten ab- und der bedingungslosen Selbstanalyse des Geistes und Bewußtseins zuzuwenden. 1894 beginnt Paul Valéry seine <em>Cahiers</em> zu schreiben: längere und kürzere Gedanken zu allen Bereichen des intellektuellen Lebens und der Wissenschaften. Bekannt wird er schon früh durch seinen Essay <em>Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci</em>, 1894, und durch das Prosawerk <em>Der Abend mit Monsieur Teste</em>, 1895. Ein verändertes Umfeld in Paris führt zur Eheschließung mit Jeannie Gobillard, zu einer bürgerlichen Lebensweise, zum Besuch literarischer und intellektueller Salons. Nach großen dichterischen Erfolgen mit <em>La jeune Parque</em> 1917 (ins Deutsche übertragen durch Paul Celan) und der Sammlung <em>Charmes</em> 1922 (durch Rilke), was Valéry Anfang der zwanziger Jahre laut Umfrage zum größten lebenden Dichter Frankreichs avancieren läßt, folgen große kulturpolitische und dichtungspoetische Essays und zwei Jahrzehnte Vortragsreisen durch ganz Europa. Seit 1926 ist Paul Valéry Mitglied der Académie française, 1931 wird ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen, 1933 wird er Administrator des neugegründeten Centre Universitaire méditerranéen in Nizza, 1937 Inhaber eines eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhls für Poetik am Collège de France. Nach Paul Valérys Tod am 20. Juli 1945 ordnet de Gaulle ein Staatsbegräbnis an.</p> <p></p>
VILLON UND VERLAINE
Nichts ist leichter, und nichts schien unlängst selbstverständlicher, als François Villon mit Paul Verlaine in einem Atemzug zu nennen. Der Nachweis, daß diese beiden literarischen Gestalten sich ähnlich sind, ist für den Liebhaber historischer – will sagen: eingebildeter – Symmetrien nur ein Kinderspiel. Beide sind wunderbare Poeten, beide waren Bösewichte, in ihrer beider Werk paart sich der Ausdruck tiefster Frömmigkeit mit Worten und Bildern größter Zügellosigkeit, und beide wechseln die Tonart außerordentlich leicht; beide beherrschen mit wahrer Meisterschaft ihre Kunst und ebenso die Sprache ihrer Zeit, wobei sich zeigt, daß sie außer ihrer Bildung einen unmittelbaren Sinn für den Umgangston besitzen, ja für die Stimme des Volkes, das sie umgibt und das nach seinem Geschmack Worte und Formen umbildet, kombiniert und prägt. Latein beherrschen beide nicht schlecht, den Argot vorzüglich, sie besuchen je nach Stimmung Kirchen oder Kneipen, und beide sehen sich, aus keineswegs denselben Gründen, gezwungen, bittere Tage in strenger Klausur zu fristen, wo sie weniger als Sünder denn als Dichter in sich gehen und der Läuterungsprozeß die poetische Essenz von Reue, Ängsten und Gewissensqual ergibt. Beide fallen, bereuen, fallen erneut und sind, wenn sie sich wieder erhoben haben, große Dichter. Der Vergleich drängt sich auf und läßt sich gut an.1
Doch was sich so bequem und scheinbar so glatt vergleichen und zur Deckung bringen läßt, ließe sich mit ebenso geringer Mühe wieder trennen und voneinander unterscheiden. Man darf das nicht so ernst nehmen. Villon und Verlaine entsprechen einander zweifellos aufs gefälligste in einem Phantasiegebäude der französischen Literatur, in dem man unsere großen Männer, sorgfältig ausgewählt und paarweise gruppiert, zur Abwechslung symmetrisch anordnen würde, mal aus Gründen des angeblichen Kontrastes: Corneille und Racine, Bossuet und Fénelon, Hugo und Lamartine; mal aus Gründen der Ähnlichkeit, wie zum Beispiel die Genannten. Das gefällt dem Auge, bis die Überlegung einsetzt und uns zeigt, wie wenig Konsistenz und Konsequenz eine derart schöne Ordnung hat. Ich mache diese Bemerkung übrigens nur, um Sie vor der Versuchung und Gefahr zu warnen, ein Verfahren der – sagen wir: dekorativen – Rhetorik mit einer wirklich kritischen Methode zu verwechseln, die zu positiven Resultaten führen kann.
Ich füge hinzu, daß das System Villon–Verlaine, diese offenkundige und verführerische Entsprechung zweier Ausnahmeexistenzen, über die ich zu Ihnen sprechen soll, zwar vertretbar ist und an einigen biographischen Details Halt und Stütze findet, jedoch ins Wanken gerät und auseinanderfällt, wenn man die Werke vergleichen will, wie man die Schöpfer verglichen hat. Ich werde Ihnen das sogleich zeigen.
Kurz, der Gedanke, sie miteinander zu verbinden, hat sich an den partiellen Ähnlichkeiten ihrer Lebensläufe entzündet und bestimmt mich, hier zu tun, was ich im allgemeinen kritisiere. Ich bin der Meinung – es ist dies eines meiner Paradoxe–, daß die Kenntnis von Autoren-Biographien unnütz, wenn nicht sogar verderblich ist für den richtigen Umgang mit den Werken, der sei’s in dem Genuß besteht, den sie uns verschaffen, sei’s in den künstlerischen Lehren, die sie uns erteilen. Was scheren mich die Frauen um Racine? Mir ist nur Phädra wichtig. Was kümmert mich der Rohstoff, der sich so gut wie überall findet? Die Begabung ist es, die Kraft der Verwandlung, die mich berührt und um die ich ihn beneide. Alle Leidenschaft der Welt und alle noch so rührenden Begebenheiten eines Menschenlebens bleiben außerstande, auch nur einen schönen Vers hervorzubringen. Was einem Autor Wert und Dauer gibt, ist auch im günstigsten Fall nicht das, worin er Mensch ist, sondern das, worin er etwas mehr als Mensch ist. Und wenn ich sage, daß biographische Neugier schädlich sein kann, so darum, weil sie nur zu oft als Anlaß, Mittel, Vorwand dient, dem genauen sachgerechten Studium einer Dichtung auszuweichen. Man glaubt, seine Schuldigkeit getan zu haben, und hat sich in Wahrheit von der Dichtung nur entfernt, die Berührung mit ihr vermieden, mit Forschungen über Ahnen, Freunde, Lebensnöte und berufliche Tätigkeiten des Autors sich und den anderen nur etwas vorgemacht, die Hauptsache verfehlt und sich an Nebensächlichkeiten festgebissen. Wir wissen nichts über Homer. Der ozeanischen Schönheit der Odyssee fehlt darum nichts ... Was wissen wir von den Dichtern der Bibel, was vom Autor des Ekklesiastikus, dem des Hohelieds? Der Schönheit dieser ehrwürdigen Texte geht darum nichts ab. Und was wissen wir von Shakespeare? Nicht einmal, ob er den Hamlet geschrieben hat.
Doch in unserem Fall ist das biographische Problem nicht zu umgehen. Es drängt sich auf, und ich muß hier tun, was ich soeben verurteilt habe.
Der Fall Verlaine-Villon ist von besonderer Art. Er ist ungewöhnlich und der Beachtung wert. Ihrer beider Werk bezieht sich zu einem nicht geringen Teil auf ihren Lebenslauf und ist zweifellos in mehr als einer Hinsicht autobiographisch. Beide machen uns Geständnisse mit genauen Einzelheiten. Doch wir sind ungewiß, ob sie uns stets die Wahrheit sagen. Und selbst wenn sie die Wahrheit sagen, sagen sie doch nicht die ganze Wahrheit, und keinesfalls nichts als die Wahrheit. Ein Künstler wählt, selbst wenn er bekennt, und vielleicht vornehmlich dann, wenn er bekennt. Er bauscht auf, er verharmlost hier und da ...
Ich sagte, dieser Fall sei ungewöhnlich. Natürlich sprechen die meisten Dichter ausgiebig über sich. Ja, die Lyriker unter ihnen sprechen von nichts anderem. Denn über wen und wovon sollten sie auch sprechen? Lyrik ist die Stimme eines Ichs, auf den reinsten, wenn nicht höchsten Ton gestimmt. Doch diese Dichter sprechen über sich, wie es Komponisten tun, das heißt, sie schmelzen die Empfindungen aller wirklichen Begebenheiten ihres Lebens zu einer innerlichen Substanz universaler Erfahrungen um. Wer sie verstehen will, braucht nichts, als am Licht des Tages sich gefreut zu haben, glücklich, und vor allem unglücklich gewesen zu sein, etwas ersehnt, etwas besessen, verloren und beklagt zu haben – es genügen diese wenigen, sehr einfachen Empfindungen des Menschenlebens, die allen gemeinsam sind und deren jeder eine Saite auf dem Instrument Apolls entspricht ...
Das genügt zumeist, für Villon genügt es nicht. Man weiß das seit geraumer Zeit, schon seit mehr als vier Jahrhunderten, denn bereits Clément Marot sprach aus, daß wir, um einen nicht unbedeutenden Teil dieses Werkes zu verstehen, »hätten müssen zu Lebzeiten Villons in Paris gewesen sein und die Plätze, Dinge, Menschen kennenlernen, von denen er uns sagt: je mehr die Erinnerung an sie dahingeht, desto weniger wird man den Kunstfleiß des genannten Dichtwerks gewahren. Weshalb der, welcher ein Werk von langer Dauer schaffen will, sein Sujet nicht aus solcher niedrigen und besonderen Materie nehmen soll.«2
Es ist also unerläßlich, nach dem Leben und den Abenteuern François Villons zu forschen, sie nach seinen Angaben zu rekonstruieren, oder die Anspielungen zu entschlüsseln, die uns in seinem Werk auf Schritt und Tritt begegnen. Er nennt uns die Namen der Menschen, die seine holprige Lebensbahn im Guten oder Bösen kreuzten, dankt den einen, spottet oder flucht den andern; er nennt die Schenken, in denen er verkehrte, und malt mit knappen, immer wunderbar treffenden Worten die Örtlichkeiten und Besonderheiten von Paris. All das ist in seine Dichtung hineinverwoben, von ihr untrennbar, und macht sie oft fast unverständlich für den, der sich nicht in das Paris der Zeit versetzt, in seine malerischen und finsteren Winkel. Mir scheint, einige Kapitel aus Notre-Dame de Paris wären keine schlechte Einführung in die Lektüre Villons. Hugo hat, glaube ich, auf seine kraftvolle und im Phantastischen präzise Art das Paris des ausgehenden 15. Jahrhunderts gut gesehen – oder gut erfunden. Doch verweise ich Sie vor allem auf das bewundernswerte Buch von Pierre Champion, in dem Sie alles, was man über Villon und das Paris von damals weiß, finden werden.3
Was die Lektüre Villons schwierig macht, ist nicht nur die zeitliche Distanz und das Verschwinden mancher Dinge, sondern auch die besondere Eigenart des Autors. Dieser geistvolle Pariser Literat ist ein gefährliches Subjekt; mitnichten ein Scholar oder ein Bürger, der Verse und ein paar Bübereien ausheckt, der darauf seine Risiken begrenzt und sich mit den begrenzten Erfahrungen bescheidet, über die ein Mensch seiner Zeit und seines Standes verfügt. Dieser Magister Villon ist ein Sonderfall – denn es ist die Ausnahme, daß in unserer Zunft (mag ihr Denken noch so abenteuerlich sein) ein Dichter sich als eine Art Bandit betätigt, als ausgepichter Übeltäter, der Herumtreiberei anrüchigster Art stark verdächtig, als Mitglied wilder Bruderschaften, von geraubter Beute lebend, stets auf der Hut und auf der Lauer, ein...
| Erscheint lt. Verlag | 2.4.2023 |
|---|---|
| Übersetzer | Fritz Usinger, Franziska Sarwey, Dieter Steland, Helmut Scheffel, Jürgen Schmidt-Radefeldt, Eva Rechel-Mertens, Henriette Beese, Elmar Tophoven, Max Looser, Herbert Steiner, August Brücher, Hella Tiedemann, Ernst Haerle, Erhard Schiffer, Maria Dessauer, Franz Leppmann, Paul Cohen-Portheim, Fritz Vogelgsang, Friedrich Hagen |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Oeuvres III |
| Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | 19. Jahrhundert • André Gide • Ästhetik • Frankreich • Französisch • Literaturtheorie • Modernismus • Oeuvres III deutsch • ST 5216 • ST5216 • suhrkamp taschenbuch 5216 • Westeuropa |
| ISBN-10 | 3-518-77145-0 / 3518771450 |
| ISBN-13 | 978-3-518-77145-7 / 9783518771457 |
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