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Grauerort: Kriminalroman -  Thomas B. Morgenstern

Grauerort: Kriminalroman (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
290 Seiten
MCE Verlag
978-3-938097-81-6 (ISBN)
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Im alten Fort Grauerort wird eine grauenvolle Entdeckung gemacht: Es wird bei Renovierungsarbeiten hinter einer Mauer das Skelett einer jungen Frau gefunden. Sie wurde bei lebendigem Leib in den alten Katakomben eingemauert und ist qualvoll gestorben. Der Stader Hauptkommissar Paul Schlegel und sein Team ermitteln in dem alten Mordfall. Zeitgleich haben sie es mit einem weiteren Mord zu tun. Ein Friseur aus der Stader Altstadt wird erschlagen aufgefunden. Auf den ersten Blick gibt es keinen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen… Im Laufe der Ermittlungen zeigt sich immer deutlicher, dass die beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben. Die Ermittler stoßen dabei auf eine Gruppe von Neonazis, deren führende Köpfe als vermeintlich unbescholtene Bürger für eine rechtsnationale Wählergruppe für den Stader Stadtrat kandidieren…



Thomas B. Morgenstern, Jahrgang 1952, wagt sich mit der vorliegende Kriminalerzählung erstmals an einen historischen Stoff, dem er sich literarisch auf ganz besondere Weise nähert. Er lässt fiktive Zeitgenossen die Hauptperson Jacob Ovens darstellen, angereichert durch Erzählsequenzen in besonderer Form, deren Beherrschung hohes sprachlich-literarisches Können voraussetzt. Morgenstern hat das so brillant umgesetzt, dass durch diese unterschiedlichen Erzählperspektiven eine besondere Spannung entsteht. Der Landwirt und Diplom-Biologe Morgenstern, der auch einige Semester Germanistik und Theaterwissenschaften studiert hat, ist seit Jahren als Schriftsteller tätig. Im MCE-Verlag debütierte Morgenstern im Herbst 2005 mit seinem Krimi Der Milchkontrolleur, der zu einem Überraschungserfolg wurde. Für dieses Buch wurde er 2007 mit dem Osteland-Kulturpreis ausgezeichnet. 2008 folgte der Krimi Der Aufhörer, in dem der Milchkontrolleur Hans-Georg Allmers erneut ermittelt. Morgenstern lebt mit seiner Familie in der Elbmarsch bei Stade.

Kapitel 1

Zugegeben: Nicht jeder versteht, warum ich Hortensien verabscheue. Eigentlich meinte ich, Hortensien zu hassen, aber nach einem Gespräch mit meiner Tochter Hannah war mir klar, dass das so nicht stimmen kann. Ich habe das Gefühl Hass einfach nicht in meinem Repertoire. Das bedeutet nicht, dass ich gefühlsarm bin, aber ich kann mich einfach nicht in solche Auswüchse des Gefühlslebens hineinsteigern. Marianne hatte mir das oft vorgeworfen, sie meinte dann, ich sei so steif, als ob ich einen Stock verschluckt hätte. Sie wollte damit nicht meine Beweglichkeit kritisieren, sondern meine „innere Haltung“, wie sie es ausdrückte. Ich habe mich dann immer gefragt, wie sie mich denn gerne hätte? Sollte ich bei jeder Gelegenheit ausrasten oder mit aller Welt per Du sein? Beides liegt mir nicht. Für einen Polizisten ist das sicher keine schlechte Voraussetzung. Selbst gegenüber Marianne empfand ich keinen Hass, obwohl sie mich eiskalt mit mehreren Liebhabern betrogen hatte.

Hortensien sind es auch gar nicht wert, gehasst zu werden, sie sind einfach zu nichtssagend, ihr Rosa ist zum Beispiel kein richtiges Rosa, sondern einfach nur der geschmacklose Versuch, eine Farbe darzustellen. Das Blau ist kraftlos. Und dann blüht die Pflanze auch noch, als ob sie sich sicher sei, die Schönste zu sein. Kitsch in Pflanzenform.

Als Kind bin ich mit meiner Großmutter oft auf den Friedhof gegangen. Auf dem Dorf wurden die Gräber so gepflegt und betreut wie die heimischen Gärten. Es wurden kein Unkraut und kein Wildwuchs gestattet, und so musste ich häufig bei der Grabpflege helfen. Ich stiefelte dann als sechsjähriger Junge mit halbvollen Gießkannen an den Gräbern der Honoratioren des Dorfes vorbei – mein Großvater gehörte nach Einschätzung seiner Witwe natürlich auch dazu –, und auf jedem Grab, wirklich auf jedem, stand ein riesiger Hortensienbusch. In allen erdenklichen roten, rosa und blauen Schattierungen. Ich fand sie schon damals scheußlich. Friedhöfe und Hortensien, das gehörte in meiner Kindheit so fest zusammen, dass ich anfangs sogar dachte, wenn ich irgendwo in einem Garten einen blühenden Strauch sah, jemand läge darunter begraben. Meine Großmutter flüsterte mir ein, die Blumen würden anzeigen, wer unter ihnen langsam vermodert. Gut, das hat meine Oma so nicht formuliert, aber gemeint. Blau für Männer, rot für Frauen. Natürlich sollte das ein Witz sein, sie liebte makabre Scherze. Aber wie das bei Kindern so ist: Ich habe es sofort geglaubt, ich konnte ja noch nicht lesen und den Blödsinn auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen; ein Blick auf die Grabsteine hätte genügt. Es hat sich eingeprägt und als ich später als Schüler das erste Mal mit Lackmuspapier zu tun hatte, erinnerte ich mich das Farbspiel des Reagenzpapiers sofort an die alte Geschichte, auch wenn der Vergleich schräg war. Ich dachte im ersten Moment: Hatte sie doch recht, die Oma. Die Farbe zeigt an, was sich dahinter oder besser darunter verbirgt.

Und nun das: Ich saß in der dritten Reihe bei brütender Hitze auf einem wackeligen Plastikstuhl, die Bühne eingerahmt von kraftlos blauen und kitschig rosafarbenen Hortensien, man sah kaum das Bühnenbild. Neben mir saß Mechthild und flüsterte mir ins Ohr: „Paul, sieh nur, diese Hortensien! Wunderschön, nicht wahr?“

Es wurde die Zauberflöte gegeben, eine der wenigen Opern, mit denen ich etwas anfangen kann. Man merkt der Musik bei jeder Note an, dass Mozart ein Mensch mit Humor war. Die Oper klingt, als hätte er sich und die Welt nicht immer ernst genommen. Sehr sympathisch. Leider sahen das die Akteure auf der Bühne nicht annähernd so gelassen. Man konnte an diesem Abend den Unterschied spüren zwischen den Musikern, denen der Spaß an der Musik wichtig war und denen, die ihren Job so machten wie andere, die täglich emotionslos ins Büro stiefeln. Vor allem die Tenöre waren unterirdisch schlecht.

Wenn man durch die Fußgängerzonen von Hamburg oder München läuft, kann es passieren, dass man plötzlich fassungslos vor einem Sänger steht, der mit einer Inbrunst, die nicht gespielt ist, eine Arie von Verdi oder ein Lied von Schubert singt, so gut, dass man nicht mehr weiterlaufen möchte, sondern ihm stundenlang zuhören könnte. Meist stellt sich heraus, dass es arbeitslose Opernsänger aus Weißrussland oder der Ukraine sind, die hier mit ihrer Straßenmusik mehr verdienen, als wenn sie in ihrer Heimat auf der Bühne stünden. Und alle, die ich dort je gehört hatte, waren besser als die, die jetzt vor mir auf der Bühne standen. Ein Freund von mir, Cellist in einem großen Orchester, erklärte mir einmal, ihm sei ein engagierter Rockmusiker, der beim Singen nicht jeden Ton trifft, aber mit Begeisterung dabei ist, viel lieber als gut ausgebildete Opernsänger, mit denen er manchmal arbeitet. Die träfen zwar jeden Ton, wären aber zuweilen beim Singen mit den Gedanken ganz woanders.

Das Wetter der letzten Wochen war ein vorweggenommener Hochsommer. Nach zwei verregneten Jahren freute man sich, dass die Sonne nicht vergessen hatte, wozu sie eigentlich da war. Allerdings hätte ich ihr mehr Feingefühl gewünscht. Mild im Mai und stark im Hochsommer. Dieses Jahr schien sie sich im Kalender vertan zu haben. Es war Mai und mancherorts war seit mehreren Wochen kein Regen gefallen.

Für ein OpenAir-Konzert auf großer Bühne in Grauerort war das Wetter allerdings ideal. Der Innenhof der alten Festung war voll mit Menschen. Irgendeine Tourneebühne aus dem Baltikum gastierte für zwei Aufführungen in dem Stader Fort. Die Namen der Sängerinnen und Sänger hatte ich noch nie gehört. Mechthild, die große Opernfreundin („Außer Fidelio!“) auch nicht. Das hätte kein Mangel sein müssen, an kleinen Bühnen fangen oft große Karrieren an, hier aber, dachte ich am Ende des ersten Aktes, war es eher umgekehrt: Hier war die kleine Bühne schon größer als die Sänger. Gespannt wartete ich auf die Arie der Königin der Nacht und beschloss vorsorglich, nachsichtig zu sein. An dieser Aufgabe waren schon ganz Große gescheitert.

Mechthild hatte einige Überredungskunst benötigt, mich zu dem Opernabend zu verleiten. Ich wollte nicht noch einmal in diesen dumpfen Bau zurückkehren, der trotz aller Versuche der Veranstalter nichts von dem ausstrahlte, was in den Veranstaltungsprospekten so wortreich angekündigt wurde. Es sei ein architektonisches Juwel – für mich ein hingeklotzter Backsteinbau ohne jegliche Atmosphäre –, ein Zeugnis der Militärbaukunst – wieso eigentlich Kunst? – und so weiter. Viel angestrengtes Geschwafel, so wie man es benutzt, wenn man dem Publikum etwas verkaufen will: Hier war es die „unvergleichliche Atmosphäre“.

Ich hatte genug von diesem Ort, seit wir vor kurzem von einer völlig verschreckten Mädchenstimme, die am Telefon vor lauter Schluchzen kaum ein verständliches Wort herausbekommen hatte, zu einem versteckt liegenden Seitenbau der Festung gerufen worden waren. Eine internationale Jugendbautruppe sollte ein paar Wände von alter Farbe befreien, man wollte die alten Ziegelsteine wieder sichtbar machen, um in diesem Trakt eine Kunstausstellung zu organisieren. Die jungen Leute, alle zwischen 20 und 25 – darunter Franzosen, Rumänen, Dänen und ein paar Deutsche – waren bei ihrer Arbeit auf eine Öffnung gestoßen, die schlecht zugemauert war. Benutzt hatte man einfache Ziegelsteine. Es war nachlässig gemauert worden. Als sie ein bisschen fester klopften, brach die Mauer zusammen und daraufhin auch einige der Teilnehmer.

Sie fanden, als sie mit dem schwachen Licht ihrer Smartphone-Taschenlampen in die Öffnung leuchteten, schmutzige, halb vermoderte Turnschuhe und als sie mit einem Stöckchen darin stießen, fielen aus den Schuhen ein paar Knochen. Sie waren auf ein Skelett gestoßen.

„Du hörst ja gar nicht zu“, raunte Mechthild und stieß mich an. Es stimmte. Das grausige Bild, das sich mir damals bot, die schluchzenden Jugendlichen, das Skelett, die Eisenkette, mit der das Opfer wohl an die Wand gefesselt worden war – all dies war mir wochenlang nicht aus dem Kopf gegangen und war jetzt wieder sehr gegenwärtig.

Ich bin kein Klassikexperte, mir ist es egal, aus welcher Epoche die Musik, die mir gefällt, stammt. Ich kann Beethoven genauso mitgrölen wie die Stones oder Vivaldi. Musik ist kein Heiligtum für mich, sondern soll mir gefallen oder meine Stimmung aufnehmen. Mozart fand ich schon immer gut, die Zauberflöte besonders, auf den Text habe ich sowieso nie geachtet. Also gab ich mir einen Ruck und lauschte wieder der Musik. Bei der Ouvertüre war ich noch sehr angetan gewesen, ich hatte mich nur gewundert, warum sie so schnell gespielt worden war. Als ich die dunklen Regenwolken bemerkt hatte, war mir klar gewesen, warum das Orchester ein bisschen durch die Partitur hechelte. Dabei hatten die Musiker wenig zu befürchten. Die Bühne war genauso überdacht wie der Platz des Orchesters. Nun war nur noch wenig von meiner anfänglichen Begeisterung für die musikalische Darbietung übriggeblieben.

Die Spurensicherung war schnell fertig geworden an diesem heißen Tag im Mai, viel zu sichern gab es...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-938097-81-7 / 3938097817
ISBN-13 978-3-938097-81-6 / 9783938097816
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