Zum Hauptinhalt springen
Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Lichterfelde (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
312 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7549-8997-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lichterfelde -  Hans Petersen
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
(CHF 9,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Lichterfelde Mitte, Ende der Sechziger Jahre. Das Milieu ist kleinbürgerlich, die Menschen rau und gelegentlich herzlich. Eine Frau steht zwischen zwei Männern. Der eine ist schwer krank, der andere strotzt vor Leben. Für wen sollte sie sich entscheiden? Als sie sich entscheidet, wird sie von dem anderen Mann vergewaltigt. Schließlich bringt er sich um.

Ich bin sechzig Jahre alt. Angefangen habe ich mit dem Schreiben, als ich fünfzehn war. Dann waren zehn Jahre Pause, und seitdem habe ich geschrieben wie ein stetiger Westwind, abwechselnd auf Deutsch und auf Dänisch. Daraus sind mindestens dreißig Romane geworden, elf davon veröffentlicht. Zwischendurch habe ich immer wieder gearbeitet und mich gefragt, wozu ich das überhaupt mache mit dem Schreiben. Aber es ist eine Leidenschaft und das schönste Hobby, das es für mich gibt.

Ich bin sechzig Jahre alt. Angefangen habe ich mit dem Schreiben, als ich fünfzehn war. Dann waren zehn Jahre Pause, und seitdem habe ich geschrieben wie ein stetiger Westwind, abwechselnd auf Deutsch und auf Dänisch. Daraus sind mindestens dreißig Romane geworden, elf davon veröffentlicht. Zwischendurch habe ich immer wieder gearbeitet und mich gefragt, wozu ich das überhaupt mache mit dem Schreiben. Aber es ist eine Leidenschaft und das schönste Hobby, das es für mich gibt.

Spannungen



Ich sehe mich im Laufstall, wenn ich an meine frühe Kindheit denke. Nicht, weil ich mich daran erinnere, die Erinnerung setzt erst ernsthaft ein, als ich fünf Jahre alt war.

Aber es gab ein Davor. Da sitze ich im Laufstall. Jedes von uns Kindern tat das. Die Eltern arbeiteten. Sie waren immer da, immer um uns herum, aber nicht drin im Laufstall, sie waren draußen.

So sehe ich meine Mutter. Da waren Gitter. Zärtliche Finger, die da hindurch greifen, eine sanfte Stimme, die was Beruhigendes sagt, und dann ein Weggehen, die Arbeit ruft.

Die Rollenverteilung in der Schreinerei war klar geregelt. Die Männer bearbeiteten das Holz und waren nur ungern vorne im Laden, die Frauen arbeiteten im Haus, halfen im Laden aus, wenn die Männer sich mal wieder sträubten, und hatten die Kinder am Hals - oder besser gesagt im Laufstall, später auf der Straße, im Garten, irgendwo herumstreunernd, selten ganz nahe bei der Mutter.

Ich war ein eher weiches Kind, und da ich in den ersten Jahren keine Freunde hatte, hielt ich mich viel bei Oma auf, nachdem ich aus dem Laufstall herausgehoben worden war.

Oma und Opa wohnten im selben Haus wie wir, in einer eigenen Wohnung mit Küche und Bad, dem Altenteil oder der Gruft, wie Opa oft sagte.

Oma hatte mehr Zeit als meine Mutter. Sie musste nur für Opa und sich kochen, und das Putzen der Wohnung ging schneller von der Hand als das des restlichen Hauses. Sie hatte auch nicht so viel Wäsche, sie hatte mehr Pausen. In diesen Pausen strickte oder häkelte sie oder bemalte Teller, Tassen und Schüssel.

Beim Häkeln und Stricken schaute ich ihr gerne zu, und nach einer Weile wollte ich es selber lernen. Da schritt meine Mutter ein. Sie wollte keinen Sohn, der häkelte und strickte. Ich sollte später die Schreinerei übernehmen, und dafür musste man kernig und durchsetzungsstark sein, dafür musste man immer wieder raus, um Lieferungen entgegenzunehmen oder auf den Baustellen zu tun, was man auf Baustellen eben so machte. Ich hielt mich nicht gerne draußen auf. Dort war es meistens kalt und windig, und der Regen kam immer schräg von irgendwoher. Drinnen war mir einfach lieber. Während die Stricknadeln leise gegeneinander klackten und Oma seufzte, weil sie sich mal wieder mit den Maschen verzählt hatte.

Dann kam Mama ins Wohnzimmer, und sie war anders unzufrieden als Oma mit ihren Maschen. Mama war unzufrieden mit mir.

“Sitzt du wieder hier drinnen?”, fragte sie.

Ich sagte nichts. Es war offensichtlich, dass ich drinnen saß. Oma saß auch drinnen. Das war indes kein hilfreicher Hinweis.

“Kinder sollten nicht drinnen sein”, sagte Mama.

Angelika kam ins Wohnzimmer.

“Geli ist auch drinnen”, sagte ich. Auch das war kein hilfreicher Hinweis.

“Sie ist zwei”, sagte Mama. “Du bist vier.”

“Draußen ist es kalt”, sagte ich.

“Und die Männer?”, fragte Mama. “Glaubst du vielleicht, die gehen nie raus, nur weil es draußen gerade ein bisschen frisch ist? Die arbeiten. Irgendwann wirst du auch arbeiten. Am besten, du gewöhnst dich schon jetzt daran, an der frischen Luft zu sein.”

Gelegentlich, wenn ich durchs Haus stromerte, schreckte ich Papa im Gästezimmerbett auf. Dort hatte er sich versteckt, unter anderem, weil er den Wechsel von der Wärme der Werkstatt zur Kälte des Draußen nicht vertrug.

Darauf wollte ich lieber nicht hinweisen, obwohl es in meinem Kopf, fast auf der Zunge war.

Vielleicht auch im Kopf meiner Mutter, denn sie sagte: “Die anderen Kinder sind bestimmt auch draußen.”

“Ich kenn die anderen Kinder nicht”, sagte ich. “Die sind nicht in meinem Kindergarten. Ich mag die anderen Kinder nicht.”

“Ich könnte mit rausgehen”, sagte Angelika. “Mich kennst du.”

Dich mag ich auch nicht, dachte ich und fühlte mich umgehend schuldig. Selbstverständlich mochte ich meine kleine Schwester. Was gab es an der nicht zu mögen?

“Du bist zu klein”, sagte Mama.

Oma schwieg. Ansonsten redete sie viel. Nur wenn Opa in seine Monologe geriet, schwieg sie ebenfalls. Sie mochte keinen Streit. Bei Streit meldete sich ihr Magen umgehend. Dann musste sie eingeweichte Leinsamen und Kamillentee zu sich nehmen.

“Ich musste auch raus, als ich zu klein war”, sagte ich.

“Du bist ein Junge”, sagte Mama. “Du wirst mal den Betrieb übernehmen.”

Ich wollte ihn nicht übernehmen. Ich wollte nicht wie Papa im Gästezimmerbett liegen, weil ich mich vor dem Betrieb und der Arbeit darin fürchtete.

“Bis dahin ist noch Zeit”, sagte Oma begütigend.

“Keine Widerrede”, sagte Mama und sah mir in die Augen, als hätte ich das mit der Zeit gesagt und nicht Oma.

Es war nur ein dünner Nieselregen, aber der Wind trieb ihn in Wellen gegen den Körper, und ich drehte den Kopf, so dass die Tropfen das Gesicht nicht trafen.

Durch die Drehung des Kopfes sah ich ins Küchenfenster. Dahinter stand Mama. Sie beobachtete mich. Sie musste eine ganz schöne Wut haben. Verzweiflung auch, wenn ich jetzt darüber nachdenke, und höchstwahrscheinlich ein schlechtes Gewissen. Diese Verbindung kann die Seele graniten machen.

Ich stapfte weiter ums Haus herum. Jetzt kamen die Tropfen von der anderen Seite. Sie waren winzig, aber genauso nass, wie wenn sie riesig gewesen wären. Ich drehte den Kopf von den Tropfen weg, erneut Richtung Fenster, diesmal zum Wohnzimmer. Mama hatte sich bewegt. Sie sah mich an. Ich hätte weinen mögen, aber es kamen keine Tränen.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Ich konnte schlecht an irgendeine Tür klopfen und verkünden, ich wolle umgehend mit einem Kind spielen.

Ich trat auf den Rasen hinaus. Die Halme waren nass, und wenn sie sich in einem Windstoß bogen und bei nachlassendem Wind wieder hochschnellten, federten Tropfen in die Luft und glitzerten, bevor sie zu Boden fielen und dort zerplatzten.

Ich befahl mir, meiner Mutter den Rücken zuzukehren. Nie wieder würde ich sie ansehen. Ich würde nach Australien auswandern. Dort war es immer warm, und es gab keine armen Leute. Das hatte Oma selber gesagt. Ich sah mir über die Schulter. Mama stand noch immer im Fenster. Ich konnte nicht ins Haus, um einen Beutel mit Sachen zu füllen, damit ich bis nach Australien kam.

Ich sah die riesige Tanne. Dahinter konnte ich mich verstecken. Es war nicht Australien, aber wenigstens konnte Mama mich dann nicht sehen, und sie würde vom Fenster weggehen, ich würde warten, Zeit würde verstreichen, und ich würde wieder ins Haus gehen und lügen, ich hätte mit anderen Kindern gespielt.

Wie die anderen Kinder mit Namen hießen, musste ich mir noch einfallen lassen. Auf dem Weg zur Tanne kam es mir einfach vor. Dahinter gestaltete es sich schon schwieriger. Mir fielen keine Namen ein.

Regen und Wind zusammengenommen bedeuteten Kälte, auch wenn es nur ein Nieselregen war und kein Sturmwind, nichts in der Richtung, nur der ganz normale Berlinwind. Ich wartete eine Ewigkeit, bis die Finger taub waren, dann ging ich zum Haus zurück.

Mama fragte mich nicht, mit welchen Kindern ich gespielt habe. Stattdessen machte sie mir heißen Kakao, und während ich ihn schlürfte und mir allmählich warm wurde, hatte ich das Gefühl, ein Abenteuer erlebt zu haben.

Das war kein schlechtes Gefühl. Australien konnte warten. Zum Abendessen gab es Würste mit Kartoffelbrei und Rotkohl.


So gerne mich Mama draußen sah, so wenig ging sie selbst dorthin. In den Schrebergarten an den Gleisen schon, da gab es Kartoffeln, Möhren, Erbsen, Bohnen, Walnüsse, Äpfel, im Spätsommer Mirabellen. Rüber in die Werkstatt hingegen, über die Osdorfer Straße und durch die Passage, ging sie nicht gerne, zumindest nicht, als mein Vater noch in der Werkstatt war, dann doch, als Papa in der Klapse war oder zur Umschulung und Heinrich bei uns anfing.

Mama kam in die Werkstatt, und sie lächelte. Zuerst dachte ich, sie würde mich anlächeln, dann merkte ich, dass sie mich kaum beachtete, Karola auch nicht, obwohl die auffällig geschäftig mit einem leeren Holzeimer hantierte.

Heinrich saß auf einem Schemel, hobelte mit langezogenen Bewegungen an einem Brett, zupfte die Späne fort und blickte ab und zu an der Holzkante entlang, und während der ganzen Zeit unterhielt er sich mit Mama, die gegen die Fräse lehnte.

Sie unterhielten sich ganz anders, als Mama und Papa sich unterhalten hatten. Sie lächelten ständig, manchmal lachte Mama sogar, und obwohl Heinrich durch die Arbeit in der Tätigkeit seiner Hände eingeschränkt war, machten die beiden jede Menge mit ihren Händen, während sie sprachen, sie gestikulierten, sie unterstrichen ihre Worte, ihre Witze, ihren Schabernack.

Die Witze kamen von Heinrich, und nicht nur Mama brachte er zum Lachen, sondern auch Karola und mich. Karola hörte auf, mit dem Eimer zu hantieren, und gelegentlich ahmte sie die Handbewegungen der beiden Erwachsenen nach, während sie lachte, und ebenso gelegentlich sah ich an mir hinab und erwischte mich dabei, ebenfalls mit den Händen zu fuchteln, und ich lachte noch lauter, weil ich mich selbst so komisch fand, weil das Leben in diesem Moment so unfassbar reich und schön war.

Mama und Heinrich beachteten uns kaum, sie hatten nur Augen füreinander - und in Heinrichs Fall auch für die Späne, die er mit großem Feingefühl zur Seite zupfte.

Es war abends oder frühmorgens, wenn Mama in die Werkstatt kam, und durch die Fenster schien kaum Licht, die Scheiben waren voller Holzstaub, und in den Ecken herrschte Dunkelheit. Erhellt war die Mitte des Raumes nur durch den Schein von drei nackten Glühbirnen, gelb...

Erscheint lt. Verlag 6.2.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Gewalt • Liebe
ISBN-10 3-7549-8997-9 / 3754989979
ISBN-13 978-3-7549-8997-5 / 9783754989975
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
E-Book Endkundennutzungsbedinungen des Verlages

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser (Verlag)
CHF 18,55