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Russisches Narrenschiff (eBook)

Ein Roman in neun Wellen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
324 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
9783841232649 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Russisches Narrenschiff - Olga Forsch
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In Olga Forschs Roman schlägt uns in neun 'Wellen' das Panorama einer Epoche entgegen.

Das russische Narrenschiff, das durch die Jahre fährt, ist das von Gorki ins Leben gerufene 'Haus der Künste', in dem Maler, Philosophen und Schriftsteller gemeinsam mit Arbeitern lebten und ihre Existenz in den Bürgerkriegsjahren sicherten. Dieses 'Narrenschiff' ist beseelt vom Wahn der Kunst: Seine Passagiere sind Menschen in den Jahren nach dem Oktoberumsturz und bis zur Auflösung des Hauses im Jahr 1923, die sich in Kühnheit und Fortschrittlichkeit zu überbieten versuchen.

Die ersten 'Wellen' kreisen um das Zeitgeschehen, führen uns das Personal des 'Silbernen Zeitalters' der russischen Poesie, Boris Pilnjak, Alexander Blok, Viktor Schklowskij und andere, verkleidet vor, die Dichtung Anna Achmatowas bildet die Hintergrundmusik dieser avantgardistischen Wettstreite. Die nachfolgenden Wellen erzählen von Autoren und ihren Werken.

In einem assoziativen und episodenhaften Erzählen setzt sich kaleidoskopartig die Zeit zusammen. Russisches Narrenschiff hat ein eigenes Schicksal. Olga Forsch war gewiss keine Dissidentin, doch der Roman verschwand nach der Veröffentlichung 1931: Er wurde weder in die später erschienene Gesamtausgabe der Werke von Olga Forsch aufgenommen noch zu ihren Lebzeiten veröffentlicht.



Olga Forsch (1873-1961) war Tochter eines Generals, die nach dem Tod ihrer Familie in eine Offiziersfamilie geheiratet hat. Nachdem sich ihr Gatte weigerte, bei der Erschießung von Dissidenten teilzunehmen und den Dienst quittierte, gingen sie in Ukraine und begannen ein Bauernleben. Dort begann sich Forsch mit der Morallehre Tolstois, der Theosophie und dem Leid der Landbevölkerung zu beschäftigen. Ihre ersten literarischen Arbeiten nahmen sowohl sozialistische Ideen als auch eine symbolistische Kunstauffassung auf. Nach der Oktoberrevolution ging sie nach Moskau, wurde zu einer der Reformerinnen des Schulwesens und erlangte in den 1920er-Jahren eine führende Rolle in der sowjetische Literatenszene. Ihre historischen Romane wurden seinerzeit in deutscher Übersetzung in der DDR veröffentlicht: In Stein gehüllt, 1957; Die Kaiserin und der Rebell, 10 Auflagen von 1957 bis 1976; Roman einer Verschwörung, 1966.

ZWEITE
WELLE


Eines Morgens zog der Verwalter mit dem Portier im Schlepptau durch die Flure, und nacheinander steckten beide den Kopf in jedes Zimmer, in dem ein Schriftsteller einquartiert worden war, um dann mit voller Verwalterstimme und gedämpftem Portierston, säuberlich den Unterschied einer Oktave wahrend, zu verkünden: »Schluss jetzt! Das utilisiert die Intelligenzija jetzt nicht länger! Das utilisiert jetzt das Proletariat!«

Was genau die Intelligenzija lange genug utilisiert hatte, brauchten sie gar nicht zu sagen, das wussten alle auch so: das Mobiliar.

Geschwungene Stücke aus karelischer Birke oder Mahagoni jeder nur denkbaren Machart, die Polster längst abmontiert und zum Stopfen aller möglichen Löcher verwendet, gab es in den Literatenstuben tatsächlich mehr als genug. Es hatte bereits des Öfteren geheißen, das Mobiliar werde konfisziert, doch diesmal machte man Ernst.

Kaum hatte der Hausverwalter seinen Schädel nämlich wieder aus der Tür gezogen, traten ein paar kräftige Kerle vom Holzsammellager ein und sorgten derart rasant für ein ratzekahl ausgeräumtes Zimmer, dass unsere Schriftsteller, die mit Sicherheit selbst in ihrer allerletzten Todesstunde noch Assoziationen haben, meinten, die Möbel würden ganz wie bei Maupassant11 auf eigenen Füßen aus dem Zimmer eilen.

Einige praktisch veranlagte Köpfe hatten immerhin rechtzeitig die Segeltuchbezüge von den davonrasenden Diwanen gezogen und überschlugen zum Neidwesen aller unpraktisch veranlagten Köpfe bereits, was sich aus ihnen zusammenschustern ließe.

Die Schriftsteller sahen sich nunmehr also einer Parkettwüste gegenüber, in der sie fortan auf den eigenen vier oder mehr Buchstaben würden hocken müssen. Für jeden Protest fehlte ihnen der Schwung. Bei wem hätten sie ihn auch einlegen sollen? Nach dem Feuersturm an den Fronten mussten sich auf dem ganzen Planeten die Wogen erst einmal glätten, damit sich nach und nach der neue Alltag herausschälen konnte und sich wieder klar sagen ließ, welche Behörde welche Befugnisse besaß.

Bisher musste es – und dieser Vergleich mit dem Göttlichen sei erlaubt – bei allen Einrichtungen gewöhnlich heißen: Dein ist die Macht. Der Staatsverlag beispielsweise, eigentlich eine durch und durch unmilitärische Einrichtung, konnte aus heiterem Himmel Funktionen von Judikative und Exekutive übernehmen, ganz wie einst ein Semstwovorsitzender12 oder auch wie ein Standgericht, sodass er mitunter sogar Fälle bearbeitete, in denen es um Menschen ging, die nicht schriftstellerten.

An jenem Tage der unfreiwilligen Verwandlung der Schriftsteller in Wüstenbewohner erwies sich die altvertraute Irrationalität der Macht als wahrer Segen. Und gebenedeit sei Genosse Walow für sein entschlossenes und rasches Handeln, das sich um Vorschriften nicht scherte.

Die entmöbelten Schriftsteller, die sich kampflos geschlagen gegeben hatten, malten sich nämlich bereits aus, wie sie auf Gesamtausgaben von Klassikern nächtigen, an Enzyklopädien essen oder auf zeitgenössischer Prosa mit Autorenwidmung Platz nehmen würden.

Außer dem Sack mit der Lebensmittelration, den er eigenhändig trug, hatte nämlich ausnahmslos jeder Schriftsteller noch von einem Waisenkind oder einem Rikschakuli, rekrutiert aus den letzten Absolventen des Tenischew-Gymnasiums,13 einen gewaltigen Stapel Bücher in seine Unterkunft schleppen lassen. Sobald diese Bände in einer Ecke des Zimmers oder unter dem Bett des Schriftstellers gelandet waren, vermehrten sie sich durch eine Art Knospung: Die Passagiere der Narretei setzten nicht Fett, sondern Bücher an.

Mittlerweile hatte fast jeder Schriftsteller eine stattliche Sammlung unter sich. Da verbreitete sich die Kunde, der Liebling des Publikums Genja Kohlrab würde mit seiner Truppe auftreten. In jenen Hungerjahren sollte die Dominanz der Phantasie im geistigen Gepäck oft lebensrettend sein. Genja Kohlrab war ein Improvisator und Conférencier, ein Rattenfänger der Art wie jener legendäre Mann, der eine solche Macht über Kinder zu erlangen vermochte, dass er das kleine Volk samt den Ratten allein mit seinem Flötenspiel aus einer deutschen Stadt herauslocken konnte. Genja Kohlrab scharte sämtliche Knirpse männlichen und weiblichen Geschlechts aus allen Kajüten der Narretei um sich.

»Die Begegnung von Antonius’ Flotten mit der ägyptischen Kleopatra«, kommandierte er und reckte sein römisches Profil in die Höhe. »In Ermangelung von Schiffen und geeigneten Helden wird die Handlung auf einen einzigen Gedanken reduziert: das Spiel der begeisterten Delfine. Delfine, tollt!«

Schon allein mit seinem vorgereckten Profil stachelte Genja Kohlrab seine ehrgeizige Truppe an. Die Knirpse schlugen sich glatt die Nase blutig, um untereinander hinwegzutauchen. Diese Opfer führte der begeisterte Kohlrab einzeln vors Publikum.

»Zollen wir den Helden der Arbeit mit einem kräftigen Händeklatschen Beifall!«, verlangte er dramatisch.

Anschließend folgte die Spitzennummer der Truppe, das »Beladen der Arche Noah und kollektiver Aufbau eines Elefanten«.

Weniger vom göttlichen Plan überzeugt als einst sein Vorfahr Noah, erklärte Genja Kohlrab, auf die Arche würden nicht »Paare von Reinen und Unreinen« gebracht, wie es vor der Revolution üblich war, sondern ganz zeitgemäß zuallererst diverse militärische Einheiten, damit der Schutz der Arche gewährleistet sei.

Die Arche selbst könne leider nicht bewundert werden, da sie auf der Karpowka liege, am Pier unmittelbar vorm Haus der Literaten. Dafür kündigte er die Parade der zu verladenden Soldaten mit Trompetengeschmetter an.

Die Infanterie stapfte schwer heran, die Kavallerie war da schon flotter, den Abschluss bildete die Artillerie, welche die eigene Waffengattung ein wenig schamlos zur Schau stellte. Das Publikum amüsierte sich prächtig. So wonnevoll auf Enzyklopädien sitzend, als wären es die vertrauten weichen Sessel, fieberten die Schriftsteller wie kleine Kinder dem Moment entgegen, da Genja Kohlrab den im Kollektivbau errichteten, bereits laut trompetenden Elefanten durch die schmale Flügeltür bringen würde: Ob er das schaffte, ohne dass das Tier auseinanderpurzelte …?

Doch an jenem stürmischen Tag sollten die Schriftsteller nicht mehr erleben, wie der Elefant an Bord ging, denn die wunderbare, unbändige Ariosta fegte wie ein Wirbelwind in den Raum.

Sie war schrecklich klug und kam ganz entschieden von Goethe, aus der Phase seiner östlichen Passion und viel besungenen Diwane. Kaum hatte sie vom Auszug des Mobiliars gehört, platzte sie mit ihrem Tribunentemperament wie eine Bombe herein, fragte gar nicht erst nach Schuldigen, sondern polterte los: »Euch fehlt jede Initiative! … Ihr seid Tschechowsche Relikte! … Aber der Empiriokritizismus! … Und Faust II

Kurz und gut, Ariosta, die gern eine gewisse Harthörigkeit nutzte, um sich gegen jedweden Widerspruch immun zu zeigen, spie allen ihre exaltierte Empörung angesichts des Vorfalls entgegen.

Der Gerechtigkeit halber muss jedoch gesagt werden, dass Ariosta anschließend den Gegenangriff der Geschmähten über sich ergehen ließ und, als sie erst einmal begriffen hatte, was eigentlich vorgefallen war, als wackere Genossin handelte, sich zur entschiedenen Verteidigerin der Schriftsteller erklärte und – ein wenig unlogisch, aber doch ganz den allen bekannten Schriftstellerreflexen treu – die Rückgabe von Manuskripten sowie die Zahlung von Vorschüssen verlangte. Ferner … Um es kurz zu machen: Die unbändige Ariosta fiel mit ihrer geballten Redseligkeit im Staatsverlag ein.

Noch ehe jener welcher, noch ehe also Genosse Walow wusste, wie ihm geschah, scheuchte ihn Ariosta offenbar in ein Flugzeug, denn die beiden waren im Nu wieder auf der Narretei.

Mindestens ebenso unlogisch wie Ariosta und mit einem Charakter, der, wie bereits gesagt, nicht vom Militär, sondern vom Hirn des Landes14 geprägt war, erteilte Genosse Walow in Anbetracht der Bücherexklusivität den Befehl, die Jerofejew’schen Möbel wieder im ursprünglichen Zustande herbeizubringen, wobei er sich jener Worte aus der Zarenzeit bediente, mit denen nach Dienstende Soldaten in die Heimat zurückgeschickt wurden.

Noch während er sich in Rage redete, riss Genosse Walow den flaumhaarigen Kopf hoch und schrie den Entführer der Möbel an: »Wann hat es dergleichen je gegeben? … Wie geht das an?«

»Alles nummeriert … ins Buch eingetragen …«, stotterte der Hausverwalter, der seine Macht wohl doch etwas überschätzt hatte.

»Wie kann das angehen? Wie geht das?«

Ariosta hielt sich zwar eine Hand ans linke Ohr, verstand aber selbstverständlich statt »Wie geht das?« nur »Wie Goethe«, woraufhin auf ihrem Gesicht ein glückseliger Ausdruck erschien.

»Wenn er noch weiß, wer Goethe ist«, hielt sie mit einem Stoßseufzer fest, »dann wird alles gut.«

Und tatsächlich. Nach einem letzten »Zurück mit den Möbeln!« des Genossen Walow schrumpfte der schändliche Hausratsentführer vor aller Augen und leistete den Eid: »Unverzüglich!«

Genosse Walow machte auf dem Absatz kehrt, riss den Kopf hoch, ließ das Flaumhaar flattern – und war flugs verschwunden.

Am Abend beobachteten die Wüstenbewohner voller Begeisterung, wie die Türen ihrer Zimmer sperrangelweit aufgerissen wurden und das Mobiliar, unter seiner Massivität die Menschen glatt verbergend, erneut gleichsam auf...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2023
Reihe/Serie Die Andere Bibliothek
Die Andere Bibliothek
Die Andere Bibliothek
Übersetzer Christiane Pöhlmann
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Haus der Kunst • Kommunismus • Künstlerkolonie • Maxim Gorki • Parodie • Satire • Sowjetunion • Sozialismus • UdSSR
ISBN-13 9783841232649 / 9783841232649
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