Der Tod des Carlos Gardel (eBook)
416 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-30265-8 (ISBN)
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.
Álvaro
Der Gnom kam, die Sportzeitung schwenkend, aus dem Kabäuschen neben der Toreinfahrt. Er wies uns an, hinter dem Krankenwagen zu halten, auf dessen Dach blaue Lampen blinkten, trat, indem er mit den Fingerknöcheln gegen die Zeitung schlug, zum Fahrer und fragte, von Wutkoliken verzerrt
– Rat mal, was wir für diesen Rachitiker vom Belenense gezahlt haben!
Die Bäume des Universitätsstadions (Pappeln, Weiden, Birken, vor allem aber Pappeln) bewegten ihre Zweige gegen den Himmel, eine Schlange Taxis summte an der Mauer, ein Ellenbogen tauchte mit einem Nichtwissen ausdrückenden Winken unter den Lampen des Krankenwagens auf, und der Gnom stopfte empört die Zeitung in die Tasche:
– Sag irgendeine Zahl, Mann, sag irgendeine Zahl: Rat mal, was wir für einen Krüppel hingelegt haben, der nicht mal für die Reservebank taugt.
Gestutzter Rasen und gestutzte Büsche glänzten im Licht, Gärtner schlossen kreisende Gartenschläuche an, Spatzen, Parkesstille, auf einem Mast ein roter Pfeil mit dem Wort Notaufnahme in metallischen Großbuchstaben, und plötzlich bemerkte ich das Krankenhaus. Meine Schwester hupte, und der an der Tür des Krankenwagens hängende Gnom bedeutete ihr mit Gesten, daß sie warten solle:
– Einen kleinen Augenblick, Madame, einen kleinen Augenblick. Erklär mir mal, wie man mit so ’ner Mannschaft einen Pokal gewinnen soll, Alfredo!
Das neunstöckige, ebenfalls von Pappeln, Weiden und Birken umringte Krankenhaus mit seinen Dutzenden von Fenstern. Die Fontänen der Rasensprenger ließen Glasstückchen in der Luft schweben. Der Ellenbogen streckte sich zum Gnom aus, der beleidigt zurücksprang:
– Na, ich möchte gern dein fröhliches Gesicht sehen, wenn die Meisterschaft losgeht.
Die Blätter zeichneten Flecke auf den Fußweg wie in der Avenida Gomes Pereira in meiner Kindheit (mein Großvater, mit Spazierstock, führte den Hund von Baumstamm zu Baumstamm), ich bemerkte das Krankenhaus, bemerkte plötzlich das Krankenhaus, und mein Herz welkte vor Entsetzen. Meine Schwester hupte noch einmal, und der Zwerg kam wütend angesegelt, dachte an leichengleiche Nachmittage auf der Fantribüne, auf den Knien die eingerollte Fahne:
– Zweihundert Millionen Escudos für einen Krüppel ohne linken Fuß, zweihundert Millionen Escudos für einen Lahmen aus Alcoitão. Dieser Eingang ist nur für das Personal des Hauses und für Notfallwagen, Madame, Sie müssen den Wagen auf der Straße abstellen.
Mein Großvater schloß das Tier in der Küche ein, zog den Bademantel über die Jacke, setzte sich mit den Patiencekarten ins Wohnzimmer, und Akazienpollen regneten auf seine Augenlider:
– Ich bin Ärztin, informierte ihn meine Schwester.
Bäume, dachte ich, seit Ewigkeiten hatte ich die Bäume nicht so angeschaut, und der Zwerg, der der Nachricht in der Zeitung keinen Glauben schenkte:
– Ärztin? Mein lieber Verein, der letzte Platz ist uns sicher. Ich kann mich nicht an Ihr Gesicht erinnern, haben Sie zufällig Ihren Ausweis dabei?
Das Krankenhaus heute wie im Jahre neunzehnhundertsiebenundfünfzig, als sie mir sagten, Wir werden dir die Aortaklappe austauschen, mein Junge. In dieser Nacht kam der Anästhesist in mein Zimmer, hörte mich ab und wollte wissen, ob ich rauche, auf dem gebohnerten Korridor hörte man Schritte, und ich, So, nun werde ich aufhören zu atmen, und das war’s dann. Der Ellenbogen munterte den Zwerg auf:
– Wir haben einen Holländer oder einen Bulgaren gekauft, beim UEFA-Cup werden wir sie alle abbügeln, und nun mach die Schranke hoch, der auf der Trage hatte einen Infarkt und dürfte jetzt sicher schon den Löffel abgegeben haben: Seit Olivais gibt er keinen Mucks mehr von sich.
Ich hörte die Schritte des Anästhesisten, wie damals, wenn ich als Kind im Bett die Schritte der Erwachsenen zwischen Wohnzimmer und Arbeitszimmer und Arbeitszimmer und Wohnzimmer in dem Haus hörte, in dem ich geboren wurde, und der Kanarienvogel im zugedeckten Käfig trillerte, der Kanarienvogel, der nur auf der Sitzstange herumtanzte und trillerte, wenn man ihn vor uns verbarg. Der Gnom hatte die Hände an die Schläfen gelegt wie einen Mützenschirm, drückte die Nase am Fenster des Krankenwagens platt und teilte dem Ellenbogen mit:
– Der sieht ziemlich tot aus, der rührt kein Härchen mehr.
Das Geräusch der Schuhe und das Geräusch des Oleanders, der Anästhesist notierte meine Antworten, und mein Großvater kämpfte gegen die Patience der Abendstunden, beide dem Hund gegenüber taub, der die Fliesen in der Küche mit seinen Krallen abschabte, gegenüber dem Hund, der nach dem Tod des Alten die Nahrung verweigerte und mit eingeknickten Beinen von Vorhang zu Vorhang jaulte. Der Veterinär hat ihn schließlich in einem Korb zur Kaliumspritze weggetragen, und der Gnom zu meiner Schwester, indem er ihr den Ausweis zurückgab:
– Entschuldigen Sie bitte, Frau Doktor, aber ich habe meine Anweisungen.
Hinter dem Pförtnerhäuschen nahm das Krankenhaus an Umfang zu und umringte uns mit Fenstern, als würden sich die Wände verneigen, um uns zu empfangen. Die Rasensprenger stellten Wasserpalmen auf, der Krankenwagen verschwand bei dem Pfeil, der Notaufnahme anzeigte. Keiner von uns sagte etwas, und ich dachte, Wer von uns beiden wird zuerst seinen Schmerz herausschreien? Am höchsten Punkt der Auffahrt weitete sich der Asphalt zu einem Rechteck, und da war ein Viertel mit Zigeunern, Bettlern und Leuten aus Afrika oben am Hang, eine Zufahrtsschleife der Autobahn nach Norden, eine Tür, die Pädiatrie angab, ein Windschutz, Plakate, auf denen junge Mädchen mit Tildenaugenbrauen einem rieten, leise zu sein. Wir gingen einen überdachten, von Studenten mit Kohlestreifen geschwärzten Gang hinunter, durchquerten einen Hof, in dem sich Kisten, Flaschenkästen und Kesselskelette häuften, im sechsten Stock die Station der ansteckenden Infektionskrankheiten mit den in der schattenlosen, wolkenlosen, vogellosen Elfuhrhelligkeit einbalsamierten Kranken, und in der zu den Boulevards und den Statuen Lissabons zugewandten Intensivstation drei Matratzen rechts, Sauerstoffflaschen, Infusionsflaschen, Elektrokardiographen, Apparate mit pulsierenden Zifferblättern. Auf der ersten Matratze links ein Kind, das mich starr wie eine Kröte oder eine Katze anblickte. Auf der zweiten ein Mann mit Schläuchen in den Nasenlöchern, dessen blaue Finger bis auf den Boden flossen. Eine Frau mit Kittel suchte ein Stethoskop unter Papieren und Laborergebnissen auf einem lackierten Tisch, und meine Schwester zu niemandem:
– Guten Tag
und die Frau, die sich das Stethoskop an den Hals klemmte und mit dem Fingernagel auf die Membran klopfte
– Guten Tag
und als sie sich zum Kind hinunterbeugte, dachte ich, während ich dabei zu einem Gärtner und einer Reihe Magnolien spähte, Ich will die Matratzen auf der rechten Seite nicht sehen. Ich will sie nicht sehen. Ich will sie nicht sehen. Die Sonne überholte das Gebäude in Richtung Tejo, und ich war mir sicher, daß auch meine Schwester sie nicht sehen wollte, die jetzt zum Kind ging, um nicht hinzuschauen, um sich am Hinschauen zu hindern
– Enzephalitis, sagte die Frau im Kittel und nahm das Stethoskop wieder ab. Seit mindestens einer Woche sagt es kein Wort.
Dies in jenem Zimmer des Schweigens, in dem es keinen Platz für Stimmen gab, die blauen Finger verkrampften sich, lockerten sich, verkrampften sich wieder, und die Frau, die dem Kind die Überdecke richtete
– Tetanus. Mit dem Tetanus ist das eine wahre Plage, ich habe im Nebenraum noch einen, der an die Maschine angeschlossen ist
und sie zeigte auf die Wand, die meine Schwester und ich uns zu sehen weigerten, und ich stellte mir einen weiteren Mann vor, dessen Fingerknöchel den Boden berührten und der durch elektrische Kiemen atmete, die ihm Luft in die toten Lungen bliesen. Meine Schwester wiederholte, um nicht mit mir zu sprechen, nicht den Schrecken mit mir zu teilen, den wir beide fühlten
– Tetanus?
und die Frau zeigte die Pappmappen, während sich die Helligkeit mit dem Herannahen der Mittagsstunde veränderte und mit purpurnen und lila und grünen Streifen durchzog, die von den nunmehr bis zum sechsten Stock sich erhebenden Birken hervorgerufen wurden:
– Tetanus. Sieben auf der normalen Station und hier nur zwei, denn die anderen sind ein Typhus und eine Hepati
und sie unterbrach sich, weil sie etwas Augenfälliges bemerkte, das ihr bislang entgangen war, und murmelte
– Verzeihen Sie
eine Frau im Kittel, keine Ärztin, eine Krankenschwester, obwohl sie kein Häubchen trug und keine runde Uhr wie ein Orden an ihrer Brust hing, eine Krankenschwester, die nach Vorstadt aussah, die man sich leicht ohne Begleitung in einem Programmkino vorstellen konnte, ein Wesen, das einsam die Abenddämmerung in einer kleinen Wohnung über einer Arbeiterkneipe erlebte
(ach, das Klirren der Flaschenhälse, ach, das Seufzen der Bierfässer, ach, der Klang der Karambolagen auf dem Tuch des Billardtisches gleich hinter der Theke)
eine Frau, die fünfzig Jahre Enttäuschungen verwittert hatten, die nicht mehr menstruierte, nicht mehr Frau war, die es aufgegeben hatte, mit Cremes und Make-up gegen das Alter zu kämpfen, ein Wesen, das der Agonie so nah oder genauso in ihr befangen war wie der Mann oder das Kind auf der linken Seite des Saals, denn auf der anderen Seite, dachte ich, gab es niemanden, keine Matratze, keinen Kranken, nur Putz, womöglich einen Schreibtisch oder einen Schrank mit Urinflaschen und Spritzen, da war niemand
da war niemand, versicherte ich
und merkte, daß ich laut gesprochen hatte, weil meine Schwester und die Frau sich mir...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2023 |
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Übersetzer | Maralde Meyer-Minnemann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A morte de Carlos Gardel |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Argentinischer Tango • Besessenheit • Drogensucht • eBooks • Familienleben • Leidenschaft • Lissabon • Neuerscheinung • Portugal • Roman • Romane • Schalk • Sehnsucht • Tango • Tangosänger • Tod • Trennung |
ISBN-10 | 3-641-30265-X / 364130265X |
ISBN-13 | 978-3-641-30265-8 / 9783641302658 |
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