Wenn Wolken Wandern (eBook)
278 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7549-8785-8 (ISBN)
Carsten Freytag, geboren im Ruhrpott, jetzt in der Nähe Berlins lebend, ist erfolgreicher Lehrer an einem Berliner Oberstufenzentrum. Erfolgreich dahingehend, dass er leseunlustige Schüler zum Lesen bringt: Goethe, Schiller, Lessing, Kafka, Kehlmann usw. 'Erfolgreich' ebenso als Schriftsteller! 1996 - der erste Roman. Sein großartiges Debut. Titel: Nutten Küssen Nicht. Es folgte die fristlose Kündigung als Lehrer an einem katholischen Gymnasium. Wenn Wolken Wandern ist sein achter Roman.
Carsten Freytag, geboren im Ruhrpott, jetzt in der Nähe Berlins lebend, ist erfolgreicher Lehrer an einem Berliner Oberstufenzentrum. Erfolgreich dahingehend, dass er leseunlustige Schüler zum Lesen bringt: Goethe, Schiller, Lessing, Kafka, Kehlmann usw. "Erfolgreich" ebenso als Schriftsteller! 1996 – der erste Roman. Sein großartiges Debut. Titel: Nutten Küssen Nicht. Es folgte die fristlose Kündigung als Lehrer an einem katholischen Gymnasium. Wenn Wolken Wandern ist sein achter Roman.
Kapitel 4
Meine Mama kam auch nicht mehr in mein Zimmer, um zu schauen, wie es mir ging. Der Mann kam auch nicht mehr. Nur die Kinder, neugierig angezogen von dem Lärm, traten plötzlich leise ein und schreckten zurück, als sie mich blutend auf dem Teppich liegen sahen. Sie waren noch zu jung, um zu verstehen, was vorgefallen war. „Mama“, rief der fünfjährige Jakob, „Geraldine blutet.“ Doch der Hinweis Jakobs führte nicht zu einer medizinischen Versorgung meiner blutenden Wunde. Meine Mama kam nicht mehr.
Der Mann war der Ehemann meiner Mama und hieß Hans-Jürgen, aber ich nannte ihn, wenn ich alleine war oder wenn ich nachdenken musste oder wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen war, nur der Mann im Haus, weil er nicht mein Vater war. Und so konnte ich auch nicht Papa zu ihm sagen. Auch seinen Vornamen auszusprechen fiel mir schwer. Vielleicht hätte meine Mama mich früher nach Deutschland holen sollen. Ich war bereits zehn Jahre alt, als ich die Philippinen verlassen hatte, um mit meiner Mama in Deutschland zu leben. Vielleicht war ich schon zu alt, um mich an den Mann zu gewöhnen. Ich musste dem Mann im Haus allerdings zugestehen, dass er sich anfangs Mühe gegeben hatte, mich näher kennen zu lernen, um mit mir klar zu kommen. Im Winter kaufte er mir Schlittschuhe und lud mich mit seinen drei kleinen Söhnen zum Schlittschuhlaufen ein. Mein erster Winter in Deutschland. Der erste Schnee. Im Gegensatz zu den Kindern registrierte ich die tänzelnden Schneeflocken, die sich von Mal zu Mal dichter auf dem Boden versammelten, eher unaufgeregt und gleichmütig. Während ich in Negros nur ein Hemd besaß und eine zerfranste Jeans, trug ich nun dicke Wollsocken, Thermounterwäsche, darüber eine dicke, unbequeme Thermohose, dazu einen pinkfarbenen Pullover und darüber eine wattierte, voluminöse Winterjacke und dazu noch einen roten Schal und dazu noch die Wollhandschuhe und dazu noch die klobigen Winterschuhe, die ich nun gegen Schlittschuhe ersetzt hatte. Und nicht zu vergessen, meine Wollmütze, unter der mein Haar fürchterlich juckte. Und ich bibberte dennoch auf dem zugefrorenen See in der eisigen Kälte, während ich mich ständig beim Versuch, mich auf dem rutschigen Eis voran zu bewegen, auf den Hosenboden setzte, was äußerst schmerzhaft war. Die Antwort auf die Frage des Mannes im Haus, ob mir das Eislaufen Spaß bereitete, konnte er an meinem Gesichtsausdruck ablesen. Weitere Angebote zum Eislaufen lehnte ich dankend ab. Der Mann kaufte mir im Frühjahr ein Fahrrad und lud mich zum Fahrradfahren ein, doch ich hatte keine Lust, ewig in die Pedalen zu treten, um fünfzehn Kilometer zum See zu fahren und zurück. Zu anstrengend. Zu langweilig. Ich zog es vor, mit meinen neuen Freundinnen aus der Gesamtschule, durch die Innenstadt zu bummeln. Der Mann hatte sogar ein Segelboot und lud mich ein, mit seinen Kindern auf dem Kemnader See zu segeln. Ich kann nur sagen: einmal und nie wieder. Zu windig, zu wackelig, zu langweilig. Ständig musste gekreuzt werden, um in eine Richtung zu fahren, weil der Wind ungünstig wehte. Nie ging es gerade aus. Immer nur im Zickzack. Dann richtete sich das Boot plötzlich schräg zur Seite. Und ich hielt mich irgendwo fest, voller Panik, dass das Boot umkippen und wir im aufgewühlten Wasser landen würden. Ich konnte nicht verstehen, warum die Kinder so begeistert waren, wenn das Boot doch in Gefahr war, seitlich umzukippen. Nicht mein Ding. Segeln war für mich abgehakt. Und so kam der Mann im Haus auch nicht mehr in mein Zimmer, um zu sehen, wie es mir ging.
Meinen richtigen Vater habe ich nie kennengelernt. Ich weiß nicht einmal seinen richtigen Namen. Meine Mama hat ihn nie erwähnt, und zwar wohl aus tiefer Enttäuschung darüber, dass der Mann kurz vor der geplanten Hochzeit meine Mama verlassen hatte, weil er sich in eine andere Frau verliebt hatte. Das habe ich von Noel, dem Bruder meiner Mama, gehört. Und meine Mama war da schon schwanger mit mir. Und so erblickte ich am 4. Juli 1995 das Licht der Welt. In Manila. Als ich geboren wurde, war meine Mama ganz allein, ohne Ehemann und ohne Unterstützung ihrer Eltern, die es sich nicht leisten konnten, von unserer Insel Negros aus eine Fähre nach Manila zu buchen, um bei der Geburt dabei zu sein. So musste meine Mama nur mit Hilfe einer Hebamme austragen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte mich weggemacht, und ich wäre gar nicht zur Welt gekommen. Vieles wäre mir und ihr erspart geblieben. Doch die strenge katholische Erziehung durch die Eltern, deren Einfluss bis nach Manila reichte, machte es für meine Mama unmöglich, mich wegzumachen. Mit so einer Sünde, sich über Gott hinwegzusetzen, indem das neue Leben als Geschenk Gottes nicht angenommen wird, hätte meine Mama nie wieder ihre Familie in Victorias City auf der Insel Negros besuchen können. Das hat mir meine Mama gesagt, als sie mich irgendwann einmal bei meiner Oma besucht hatte.
Mama war wirklich sehr wütend auf mich. Es musste aber auch irgendwann passieren. Vielleicht hatte ich es auch verdient, von meiner Mama so verprügelt zu werden. Lügen hatte keinen Sinn mehr gehabt. Ein Polizist hatte mich nach Hause begleitet. Die Nachbarn guckten neugierig, als der Polizist an der Haustür klingelte. Meine Mama guckte überrascht, ihr Blick drückte Verwunderung aus, der sich schnell in Wut verwandelte, als sie erfuhr, dass ich beim Klauen vom Ladenbesitzer erwischt worden war. „Na warte ab, das wirst du noch bereuen!“, hatte sie auf Tagalog zu mir gesprochen. Immer, wenn sie wütend war und wenn sie nicht wollte, dass andere ihre Gespräche mit mir verfolgen sollen, sprach sie Tagalog mit mir. Manchmal auch Ilonggo. Ich flüchtete in mein Zimmer, obwohl das Zimmer keinen Schutz vor ihren Schlägen bot, froh für den Moment, ihrem strafenden Blick ausweichen zu können. Der Polizist blieb noch eine kurze Weile. Vorsichtig hatte ich die Zimmertür geöffnet, um mithören zu können, was der Polizist meiner Mama mitzuteilen hatte. Vorwiegend sprach er von den Konsequenzen meiner Straftat. Zugleich versuchte er, meine Mama zu beruhigen, die zusammengesackt kraftlos auf dem Sofa saß und ihren Kopf mit ihren beiden Händen abstützte. Nach vier Jahren in Deutschland verstand ich so gut Deutsch, dass ich dem Gespräch gut folgen konnte. Überhaupt fiel es mir leicht, eine neue Sprache zu lernen. Ilonggo zu Hause in Victorias City ist meine Muttersprache. Tagalog und Englisch kamen in der Grundschule und später in der High School dazu. Auch meine Mama sagte, dass sie schnell eine neue Sprache lerne. „Wenn du viel singst und ein Gefühl für Melodien hast, dann lernst du eine neue Sprache viel schneller“, hatte sie mir einmal gesagt, als sie einmal Zeit für mich hatte. Nur hatte ich niemals Grund zum Singen.
Und was ich dann hörte, verursachte ein breites Grinsen in meinem Gesicht. Ich huschte so leise wie eine Schlange in mein Zimmer zurück, wo ich mich schmunzelnd aufs Bett fallen ließ. Ich würde sicherlich, so hatte der Polizist meiner Mama erklärt, glimpflich davonkommen, da ich bisher nur einmal geklaut hatte und vorher nicht auffällig geworden bin. Das Wort glimpflich kannte ich schon. Meine Klassenlehrerin hatte es mir erklärt, als ich gemeinsam mit meiner Mama zu einer Klassenkonferenz vor einem Jahr eingeladen worden war, weil ich einem Arschloch in die Eier getreten hatte, der mich blöd angemacht hatte. Auch damals sollte ich glimpflich davonkommen. Zwei Wochen den Schulhof fegen und die Kippen entfernen. Und nun sollte ich wieder glimpflich davonkommen. Der Polizist hatte keine Ahnung. Der Mann im Haus hatte keine Ahnung. „Oh, hat deine Mutter dir wieder etwas Neues gekauft?“, fragte er mich, wenn er mich in den neuen Klamotten sah. Seine drei Söhne hatten ebenfalls keine Ahnung. Meine neuen Klamotten interessierten sie aber auch nicht. Und meine Mama hatte auch keine Ahnung. Zum Glück.
Pech war nur, dass ich an jenem Freitagnachmittag, Anfang Juni, erwischt wurde. Auf der anderen Seite war dies doch nur die Konsequenz einer logischen Betrachtung: je öfter ich klaute, desto höher die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden. Und wenn ich die Anzahl meiner Diebstähle in Vergleich zu der Anzahl meiner Verhaftungen setzte, dann war das Ergebnis durchweg positiv. Anders ausgedrückt. Ich war erfolgreich. Nicht in der Schule, aber in der Mitnahme von unbezahlten Gegenständen. Alles, was ich trug, war gestohlen. Meine Schuhe. Meine Jeans, meine Bluse, ja auch der Kunstschmuck, den ich trug, wurde unrechtmäßig erworben. Anders ausgedrückt. Alles war umsonst. Es war leicht, meine Mama anzulügen, weil sie sich keine großen Gedanken um mich machte. „Du hast neue Schuhe?“, fragte meine Mama. „Von meinem ersparten Taschengeld gekauft“, log ich sie an, „und die Bluse hat mir eine Freundin geschenkt, die die Bluse nicht mag.“ Und so weiter. Und so weiter. War ich erfolgreich im Klauen, so war ich auch erfolgreich beim Lügen. Und je mehr ich log, desto stärker glaubte ich an die Lüge, die zu einer unumstößlichen Wahrheit wurde. Ich war so erfolgreich, dass ich die Anführerin eine Diebesbande wurde. Und das nach nur drei Jahren in Deutschland. Ich glaube nicht, dass meine Englischlehrerein an meiner Gesamtschule diesen Weg gemeint hat, den ich eingeschlagen habe, als sie mich in der ersten Schulstunde in Englisch darauf hinwies, dass ich meine Chance, in so einem reichen Land wie Deutschland leben zu können, nutzen muss.
Sicherlich war ich nicht intelligent, aber ich war clever. Einen Dreisatz zu berechnen fiel mir schwer, die mechanische Arbeit mit den ganzen Formeln zu berechnen, bereitetet mir größte Kopfanstrengungen, aber eine Verkäuferin in einem Gespräch so abzulenken, dass sie nicht merkt, wie ich mit flinken Händen die Ohrringe in den Oberteil meiner...
| Erscheint lt. Verlag | 10.1.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Märchen / Sagen |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Deutschland • Flucht • Gewalt • Immigration • Jugendkriminalität • liebeshoffnung • Philippinen • Prostitution |
| ISBN-10 | 3-7549-8785-2 / 3754987852 |
| ISBN-13 | 978-3-7549-8785-8 / 9783754987858 |
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