SELENA (eBook)
503 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
9783754986684 (ISBN)
Josephina Richardt, geboren 1997, studiert und lebt mit ihrer Familie und ihrem Hund Sammy in München. Mit sieben schrieb sie ihre erste Geschichte, mit 18 ihr erstes Buch. Daneben ist sie als Journalistin, Texterin, Lektorin und Layouterin tätig. Ihre Freizeit verbringt die junge Autorin mit Eiskunstlaufen, Lesen, Reiten und damit, die Welt zu entdecken.
Josephina Richardt, geboren 1997, studiert und lebt mit ihrer Familie und ihrem Hund Sammy in München. Mit sieben schrieb sie ihre erste Geschichte, mit 18 ihr erstes Buch. Daneben ist sie als Journalistin, Texterin, Lektorin und Layouterin tätig. Ihre Freizeit verbringt die junge Autorin mit Eiskunstlaufen, Lesen, Reiten und damit, die Welt zu entdecken.
We do not remember days,
12 Jahre zuvor
PART I
1988 - 1992
SCHLAFEN
We do not remember days, we remember moments.
∼ Cesare Pavese
Es war Nacht, als sie ihn das erste Mal sah. Der Mond schien groß und kugelrund über ihrem kleinen englischen Dörfchen und tauchte Snowy Meadows in ein unwirkliches Licht.
Das Erste, was sie sah, waren seine Augen. Sie waren riesig. Er hatte sie so weit aufgerissen, dass sie das gesamte Gesicht einzunehmen schienen. Viel zu groß waren sie im Vergleich zu dem kleinen dürren Körper. Aber vielleicht war das in Ordnung, denn sie waren schön. Sie hatten die Farbe von cremiger Vollmilchschokolade und die hatte sie am liebsten. Es waren warme Augen, die einem Sicherheit gaben, Trost spendeten.
Das Zweite, das sie wahrnahm, war der Ausdruck in diesen Augen. Er erinnerte sie an das Reh, das einmal in der Dunkelheit vor ihren Autoscheinwerfern aufgetaucht war. Wie versteinert hatte es in das Licht gestarrt.
Und das Dritte, das sie entdeckte, war der Grund, weshalb sie überhaupt hier unten im Keller gelandet war – ein Versteckspiel mit ihren auf mysteriöse Weise verschwunden Habseligkeiten.
„Das sind meine Spielsachen!“, rief sie erbost und stemmte die schmalen Arme in die Hüften. Der Junge zuckte bei ihrer Stimme zusammen. „Wieso hast du die? Wer bist du überhaupt, was machst du hier?“
Der kleine Mund klappte leicht auf und zu. Sie sah drei Zahnlücken oben vorne, drei aneinander liegende Höhlen. Aus einer brach sich ein kleiner weißer Eisberg nach unten durch.
Sie wippte von einem Fuß auf den anderen. Dabei gab sie sich alle Mühe, böse auszusehen, damit er ihre Unsicherheit nicht bemerkte.
„Adam“, kam es da aus dem kleinen Mund. Ganz leise, wie das erste Piepsen eines Babyvogels.
„Und was machst du nun hier mit meinen Sachen?“
Hilflos zog der Junge seine dünnen Schultern hoch. „Ich weiß nicht“, flüsterte er. „Du gehörst hier nicht her. Und diese Sachen gehören dir auch nicht!“, sagte das Mädchen mit Nachdruck.
„Gerrit hat sie mir gegeben“, stieß der Junge atemlos hervor. So als wüsste er nicht mehr, wie man in normaler Lautstärke und Geschwindigkeit sprach.
Gerrit hat sie mir gegeben. Es dauerte eine Weile, bis ihr Gehirn diese Information zuordnen konnte. Wer ist Gerrit, wollte sie fragen, doch die Worte blieben in ihrem Hals stecken. So dick und schwer waren diese Worte, dass sie auch nach mehrmaligem Schlucken weder heraus- noch hinunterwollten.
Ein Frösteln überfiel sie und auf einmal kamen ihr der Junge und der Keller bedrohlich und viel zu eng vor. Sie stolperte rückwärts, schmiss die Tür hinter sich zu und schob all die Kartons, die sie zuvor mühsam entfernt hatte, wieder davor. Dann lief sie so schnell und leise sie konnte die Kellerstufen empor und noch mehr Treppen in den ersten Stock, huschte in ihr Zimmer, ins Bett, wo sie die Decke bis an die Nase zog. Ihr kleines Herz hämmerte heftig gegen ihre Brust. Es war so laut, sie glaubte, ihre Eltern müssten es im Zimmer nebenan hören.
Vom Fenster neben ihrem Bett drang das Mondlicht herein. Sie schlief nie mit zugezogenen Vorhängen. Sie mochte das natürliche Licht eines Tagesablaufes. In völliger Dunkelheit war sie orientierungslos. Während Sonne und Mond andere beim Schlafen störten, war bei ihr das Gegenteil der Fall. Besonders, was den Mond betraf.
Der Mond, das mystische Himmelsgewölbe, nach dem sie benannt worden war. Selena.
Silber strahlend hatte er in der Neujahrsnacht von 1987 auf 1988 geschienen, in der sie auf die Welt gekommen war. Ein Mondmädchen. So hatten es ihre Mummy und ihr Daddy ihr erzählt.
Jetzt leistete er ihr wieder Gesellschaft, dieser sanfte Riese. Er ließ sie nie im Stich.
Ihr Herz beruhigte sich langsam, während sie zu seinem Antlitz emporsah. Vielleicht träumte sie bloß...
Eines der vielen Gespinste der Nacht. Sie lockten einen, versprachen, schenkten, nahmen, verführten.
Als sie ihn das zweite Mal sah, hatte sie gerade ihren ersten Schultag hinter sich gebracht. Ihre Zähne waren klebrig von den Süßigkeiten aus ihrer Schultüte, ein Brauch aus Deutschland, den ihre Mutter importiert hatte. Sie hatte als Jugendliche einige Monate dort verbracht und die Dinge, die ihr dort gut oder sogar besser gefielen, schlichtweg übernommen. Somit war Selena auch erst mit sechs Jahren in die nach deutschem Vorbild geführte Dover Canaries Primary School eingeschult worden.
Besonders feierlich fühlte sie sich allerdings nicht, denn die Stimmung in ihrer Familie war schon länger nicht mehr ausgelassen und fröhlich. Früher hätte es vielleicht ein Essen gegeben, ein lustiges Spiel, einen Ausflug. Früher hatten sie viel zu dritt unternommen. Dann kamen die Veränderungen. Langsam und schleichend, vielleicht aber auch plötzlich. Sie konnte die zähe Masse an Zeit später nicht mehr auseinanderhalten.
„Schaut, wie ich tanze“, rief sie einmal und drehte sich so wild im Kreis, dass sie beinahe nach hinten umfiel. Sie hielt ihren imaginären Rock fest und drehte sich und drehte sich. So wie ihre Mutter das früher getan hatte, wenn ihr Vater sie gepackt und in der Küche herumgewirbelt hatte.
Doch jetzt wirbelte niemand mehr herum und niemand hatte Selena wirklich angesehen. Niemand hatte mit ihr getanzt. Da war nur sie und ihr Schwindel, alles drehte sich und ihr aufgesetztes Gekicher war ihr auf einmal viel zu schrill vorgekommen.
Sie alle waren unsichtbar geworden. Niemand sah sie mehr richtig an und auch ihre Eltern sahen sich nicht mehr an. Ein Dieb hatte das Lachen mit sich genommen, den Spaß und die Leichtigkeit. Einfach so. Zurück ließ er eine dunkle, giftige Wolke.
So saß Selena heute alleine in ihrem Zimmer und futterte ihre Süßigkeiten. Sie sortierte die Brausedrops, die Gummibärchen, die Schokolade und summte dabei vor sich hin.
„Ich habe das S, ich bin Selena“, verkündete sie laut, so wie sie das heute vor ihrer neuen Klasse getan hatte. „Ich habe das C, ich heiße Colin“, ahmte sie die tiefe Stimme des Jungen mit den hellbraunen Locken und kieselgrauen Augen nach. „Ich habe auch ein C, ich bin die Claire“, trällerte sie und hopste dabei auf ihrem Stuhl auf und ab. Alles an Claire war lustig und lebhaft und Selena freute sich, dass dieses Mädchen neben ihr saß.
Alles an Colin war irgendwie nervig, aber auch beeindruckend, so selbstsicher war er vor der Klasse gestanden, die dunkelblau-graue Schuluniform wie ihm extra auf den Leib geschneidert. Wahrscheinlich war sie das auch, denn seine Eltern waren ziemlich reich.
Sie steckte sich ein weiteres Brausebonbon in den Mund. Es prickelte schön sauer.
Aber auch Colin, ihre neue Schule, ihre Lehrerin Ms. Loray oder Claire konnten ihre Gedanken nicht lange von dem Jungen in ihrem Keller abhalten. Adam.
Immer wieder sah sie diese großen Augen vor sich. Hörte das Echo in sich: Gerrit hat sie mir gegeben. Bis sie die Hände auf die Ohren presste, aber auch das brachte nichts.
Vielleicht war Adam eine Überraschung für sie, dachte sie manchmal. Eigentlich hatte sie sich, wenn überhaupt, eine Schwester gewünscht, eine Zwillingsschwester. Aber vielleicht waren alle Zwillingsschwestern schon vergeben und nur dieser Junge war noch übrig geblieben und jetzt hatten ihre Eltern ihr eben einen Zwillingsbruder besorgt. Sie hatte sich ausgemalt, sie würde ihn zur Einschulung bekommen, aber die war nun vorbei und niemand hatte etwas von Adam gesagt oder überhaupt von einer Überraschung.
Wie ein Zwilling sah er außerdem auch nicht gerade aus mit den dunklen Haaren und Augen.
Sie selber hatte helles Haar und blaue Augen.
In anderen Nächten grübelte sie, ob es sich bei Adam wohl um ein Geheimnis handelte, von dem die Erwachsenen nichts wissen durften. Ein Abenteuer. Vielleicht kam er gar aus einer anderen Welt! Dann wurde sie ganz hibbelig und es kitzelte sie in ihrem ganzen sechsjährigen Körper. Vielleicht hatte er ja Superkräfte?
Im Anschluss an solche Gedanken wagte sie es manchmal, ihr Bett erneut zu nächtlicher Stunde zu verlassen. Doch nie kam sie weiter als bis zur Kellertreppe. Sie schlich auf Zehenspitzen um sie herum, kaute auf ihren Fingernägeln und trippelte nervös auf und ab. Was war, wenn der Junge aus einer anderen Welt kam, aber gefährlich war?
Was war, wenn er tatsächlich noch dort unten saß? Und was, wenn er es nicht mehr tat?
Gerrit hat sie mir gegeben.
Dann lief sie schnell wieder zurück in ihr sicheres Zimmer und nur ihre kalten Füße zeugten von ihrem kleinen Ausflug.
Sie betrachtete ihre klebrigen Finger und den großen Haufen an Süßem. „Wenn Adam wirklich noch da unten sitzt, dann sitzt er vielleicht schon eine ziemlich lange Weile da unten“, überlegte sie laut. „Was meinst du, Teddy, meinst du, er würde vielleicht auch ein bisschen was Süßes haben wollen?“ Sie beäugte den Bären und zog eine Schnute. „Möglicherweise gibt es in seiner Welt gar keine Schokolade... wie furchtbar.“ Da schüttelte es sie gleich bei der Vorstellung.
Mit Zustimmung ihres Bären steckte sie eine Auswahl aus ihrer Schultüte in die Tasche ihres Jäckchens und machte sich auf den langen Weg ins Unbekannte.
Je näher sie der Treppe kam, desto stärker wurde ein Zug in ihr. Vorsichtig schielte sie in Küche und Wohnzimmer, aber weder ihre Mutter noch ihr Vater...
| Erscheint lt. Verlag | 16.12.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Comingofage • Drama • düster • England • Entführung • Familie • mentalhealth • psychologisch • Verbrechen |
| ISBN-13 | 9783754986684 / 9783754986684 |
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