Gesammelte Gedichte (eBook)
856 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518771594 (ISBN)
Der hier zum 80. Geburtstag der Autorin von ihrem Kollegen Marcel Beyer herausgegebene Band präsentiert neben sämtlichen bislang veröffentlichten Gedichten (in Buchform oder verstreut publiziert) auch alle unveröffentlichten Gedichte, die nach Durchsicht der Manuskripte von der Autorin für »gültig« befunden wurden, und zwar von 1939, als sie mit dem Schreiben begann, bis heute.
<p>Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren und starb am 4. Juni 2021 ebendort. Sie besuchte zunächst die Private Volksschule, ging dann auf die Hauptschule und besuchte schließlich die kaufmännische Wirtschaftsschule. Die Sommermonate verbrachte sie bis zu ihrem 11. Lebensjahr stets in Deinzendorf, welche einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterließen. Nach der Matura legte sie die Staatsprüfung auf Englisch ab und arbeitete zwischen 1946 bis 1969 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen. Bereits 1939 begann sie mit ersten literarischen Arbeiten, sieben Jahre später folgten kleinere Veröffentlichungen von Gedichten.<br /> <br /> Im Jahre 1954 lernte sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie zunächst eine enge Freundschaft verbindet, später wird sie zu seiner Lebensgefährtin. Nach ersten Gedichtveröffentlichungen in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift "Plan" erfolgte 1956 ihre erste Buchveröffentlichung. Seitdem folgten Lyrik und Prosa, Erzählungen und Hörspiele, Kinderbücher und Bühnentexte.</p>
August
metallisch klingt der Morgen auf
ein Sehnen faszt die Welt
da stürzen Lüfte sich zuhauf
von Silberseen umwellt
ein Frühkusz stürzt nachsommersüsz
wie eine Sonn’ herab
ein reifer Blütenleib den blies
der Wind ins Grab
Oktober
qualvoll hingehauchte Schleier
herbstvollkommen ruht die Welt
Laubblut sickert ins Gemäuer
Tod ist’s der das Leben stellt
Wehe Erde Nebelbäume
knorrig stülpt der Ast sich auf
sommerlich verbuhlte Träume..
Mond um Mond nimmt seinen Lauf
aus einer Mitternacht
du weiszt das Zugeständnis jenes Waldes an ein Violett
das wie gebraut erdampfte und zerflosz
und jene Birke die so brüchig stand
und seidenfädig sich bewegte –
o dasz du wüsztest jenes Rindenbraun
das schon oliven wird im Wintergrau
und alle Muldenweiche die ein später Schnee erschafft..
DER WANGENBLEICHE
Himmel haucht
die gebänderten Fluren an
und die Rosenberge ringsum
die vielen Rosenberge
sind abgeblüht
ein Trompetenstosz ins verstummende Licht :
eine riesige Föhre am Wiesenrand
ABENDROSEN
schlingen einen Kranz
um ein Dachstuhlgerippe
der Karfunkel im Westen
tropft langsam und rötlich
in die Wolken-Bälle
in mein hoffendes Herz gesunken
sind deine gestern grüszenden Augen
still wie Glocken im Meer
Erscheinung
kleiner Traum mit den
blauen Ohrgehängen mit dem
dunkelblonden Haar
das in lieblicher
Ergieszung knistert wie
die heimlich freie Locke
die die Violante Vecchios
schmückt
O Knospe
In ihr ist alles schon
da : jedes lockere
Lächeln und der bereite
Sturz in den schimmernden
Nacken und jener
Aufschwung im Aug
der entzückt
an meinem Morgenfenster
o Schwärme silberleibiger
Tauben über dem geborstenen
Helm meines Kirchturms o
gezähnte Kontur verwaschener
Mauern ins Stehende hin eines
Himmels der blendet in
flächiger Bläue o Zifferblatt
meiner Kirche stilles in
vielen Sonnen gebleichtes Gesicht
wie blickst du mich an – schau
drüben hängt noch der Mond
wie ein vergessener Gast im
verhaltenen Jubel des Lichts
und das Leuchten nimmt zu
Abends
Gepeitschtes helles
Zyklam übertönt
Königsblau meines
Himmels, unruhig
flattert der Staub
und die Pfütze starrt
violett : ferne in Fenstern
nicken im Licht Astern
weisz, weisz und verklärt
Vor Tag
Schrittweis Morgen in
flüchtigem Halbmond
silbern schimmern Schalen
aus Porzellan; düstere
steile Fahne aus Rauch
Stundenschlag klein und
verträumt und die
purpurnen Zungen alternder
Früchte vor weichen
versonnenen Himmeln
Neige
für H. B.
Traumlicht trunken
in Abendscheiben
und im erstarrenden Antlitz
der Kirche Maria vom Siege
o der köstliche Stern blüht
Park
im Kalklicht gähnt
die Balustrade und
schleierlüftend weht
der Tag ein Kind
geht dunkel über Farne
und über Wiesen die in Silber
stehn und träumt ins Laub
Maria am Gestade
Pilgerfahrt ins Licht der
Kathedrale, Hochaltar aus
spindeligen Spitzen, Anhall
einer Glocke, Gold und Erz;
schluchzend strebt Portal
in seine Scheitlung : Kerzenschimmer
glimmt im Schatten
der Gestühle, Scheiben
schwingen grün und violett,
Heilige beten an.
Und drauszen Glanz : wehend
regt sich hell am Kreuze
herbstliches Gespinst.
ICH LASSE DICH NICHT DU SEGNEST MICH DENN
Ich lobpreise ich lobsinge
Ich lobe Dich in Deinen Monden in Deinen
schmalen wiegenden messingfarbenen Monden
die meine Nacht klar machen
Ich lobe Dich ich preise Dich in Deinen
Sonnen die übereinanderwogen in Deinen
dürstenden Horizonten
Ich preise Dich in Deinen Wiesen in Deinen
süszen unberührten wehenden Wiesen in Deinen
purpurnen Augustwiesen
Ich lobsinge Dir in Deinem flammenden Wald
in Deinem Wald über ihm die wandernden
leichten damastenen Wolken
Ich bete Dich an in allen Deinen Geschöpfen
in Deinen flüchtigen hellen ängstlichen blinden
einsamen holden Geschöpfen
Impression
Wabengelber
blinder Falter
hängt an meinem
Morgenspiegel
wassergrüne
Orchideen stehn
ins aufgerauhte
Licht; weisze
Chrysantheme
trauert : drüben
schweben blaue
Himmel
Beweintes Sinnbild
für H. B.
Verjüngte Woge netzt
die kleine Versandung
der Stunde, immer sehr
entfernte halbbeschattete
Woge : siehe zu Dir
schrägt sich der kühle
glasblaue Kahn wie in
kindlicher Demut, leise.
Jenseits die Lohe der Nacht.
Andächtige Flucht
Himmel aus bleichen
Rosen haucht gebänderte
Fluren an; ungeborene
Berge ahnen sich violett;
alles Beschwingte der
Dörfer ist eingegangen
in ihre strahlenden
Kirchen die in klaren
Konturen frohlocken : o
eine einsame Föhre reiszt
sich dunkel empor wie
ein posaunender Gott
Lied im Oktober
für H. B.
Alle weiszgelockten
Wolken wiegen federnd
an die Wiese, kleine
Herbstzeitlose lichtet
mildeduftend durch den
Tag : irgendwo im Blauen
Klaren lächelt leise
eine Stirn
Clair de lune
für H. B.
Trauertanz ins
Geweihte knospender
Melodie; Violine
verfängt sich in
den weichen maschigen
Tönen wie verweinter nistender Schmerz :
leuchtend in Deiner
Erwartung wehst Du
mich königlich an
Szene
für H. B.
O wie Flachs
versponnen sich die Blicke
o wie Mohn
entblätterte Dein Mund
rotes Lächeln
O wie Wein
rankten Deine Hände nieder
tief in meinen Tag
und glänzten
Fest
für H. B.
Serenade
in den blonden Mond
weiche Nacht
ist wie ein blauer Traum
deine Hand
rührt leise meine
Piano
müde Kronen bluten an die Erde
o ein Mondstrahl sickert in die Birke
tief, smaragden schillert die Entblöszte
leise schleiert kleiner Nachtwind
Elegie
Lilienduft dampft
im gläsernen Oktober
blumenleer sparen
Vasen sich aus in
ertaubendem Glanz
wo ein besticktes
Fenster flügelt
wo Linden hängen
voll grünen Goldes
und Pappeln flirren
im letzten Taumel des Lichts
Studie
Flitternde Linde
ins hellste Zitron
o sehr harfender
Ahorn; ausgieszen
Girlanden ihr Blutrot wie
brennendes Fraunhaar :
seichte Fährte des
Lichts schweifend
im milchigen Mittag
Gnade bei Nacht
für H. B.
O die sanften Finsternisse
ziehen perlgraue Gewänder
nach, lehnen gegen atmende
Türme, sinken ins Knie vor
Deinem lautlosen Fenster
dasz Du die Schwelle läszt
aufblickst zu mondenthüllenden
Himmeln, anrührst in allen
Gossen das gefallene Gold
und betest, leise
Tag der Astern
Und wieder sind sie in
Scharen in den Arkaden
der Wehmut und die wippenden
Winde klirren Kränze ins
Gras und alle dämmernden
Vögel sind verzückt im
Gezweig das zittert in
kühler Verknotung und wie
Bräute duften die Nebel
leise ins Licht aus Blaugrau
und Grün und Orange und ich
habe mich ganz verfangen
in deinen Zenit kleiner
weiszer trauriger Tempel
vorwinterliche Vision
für H. B.
aus wolkigen Fächern
knistern elfenbeinfarbene
Schuppen reigen dich ein
tief über Braue und Blick
bis dein Angesicht weht
wie ein stiller silberner Stern
Sonate
für H. B.
allzuleise
fleischfarbene
Stunde
blutender
Glast
hochwehender
Wipfel
mürbe
vergrünen
die
bogigen
Firmamente
deine Augen schatten durch meinen...
| Erscheint lt. Verlag | 21.11.2022 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
| Schlagworte | 1939-2003 • Anthologie • Auswahl • Blütenlese • Bremer Literaturpreis 2011 • Bremer Literaturpreis 2015 • Friedrich-Hölderlin-Preis 2021 • Gedichtband • Gedichte • Georg-Büchner-Preis 2001 • Georg-Büchner-Preis 2016 • Heinrich-Böll-Preis 2001 • Heinrich-Böll-Preis 2001 • Kleist-Preis 2014 • Lyrik • Lyrisch • Österreichischer Buchpreis 2016 • Peter-Huchel-Preis 2021 • Poesie • poetisch • Sammlung • Thomas-Kling-Poetikdozentur 2019 • Zusammenstellung |
| ISBN-13 | 9783518771594 / 9783518771594 |
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