Bevor dein Licht erlischt (eBook)
284 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783756282142 (ISBN)
DIENSTAG
Mit sanftem Rhythmus züngelten die Wellen unablässig am Bug des Wracks, labten sich geschmeidig am zerfurchten Holz und schlichen sich scheinheilig zurück in die Dunkelheit. Niemand in der Stadt wusste mit Sicherheit, wann es hier gestrandet war, oder wem es gehört hatte. Fest stand bloß, dass es seit Jahrzehnten den Elementen des Pazifiks ausgesetzt gewesen und nur durch sehr viel Widerspenstigkeit nicht zerfallen war.
Kaum jemand traute sich noch auf das schiefe Deck, und genau dieser Umstand machte es zum perfekten Versteck. In klaren Nächten legte sich Andrea Fletcher auf die verwitterten Bretter und verlor sich stundenlang in den Gemälden am Firmament. In den großen Städten hatten die Menschen die Sterne auf die Erde geholt, weswegen es dort keine mehr am Himmel gab. Doch hier, im kleinen Emery an der Westküste von Vancouver Island, achtzig Kilometer nördlich der Hauptstadt Victoria, erschienen sie jede Nacht und funkelten so weit das Auge reichte. In diesen Konstellationen zu schwelgen, diesem Ozean voller glimmender Punkte, von denen viele längst erloschen und zu Geistern der Vergangenheit geworden waren, ja dies erfüllte Andrea mit einem Gefühl tiefer Genugtuung.
Denn es kam überhaupt nicht darauf an, ob sie Großes vollbringen oder überhaupt eine Spur auf dem Planeten hinterlassen würde. Sie brauchte nicht danach zu streben, wichtig zu werden – so wie der Rest der Welt es tat. Dafür hätte ihr ohnehin jegliches Talent gefehlt. Sie konnte zwar gut Skateboard fahren, hatte einen grünen Daumen, lachte viel und gerne. Ja, lachen tat sie überhaupt am liebsten. Darin war sie wirklich gut. Doch darauf ließ sich keine Karriere begründen.
Karriere.
Das Wort lag ihr schwer auf dem Magen. Ihr Bruder Jake hatte davon tonnenweise in die Wiege gelegt bekommen, sich gar jahrelang wie ein Irrer abgestrampelt. Und was war daraus geworden? Was hatte es mit ihm angestellt?
Dieser Träumer. Ihr Lächeln verblasste. Träumen war was für Spinner. Besonders hier in Emery, wo die Mehrheit der Einwohner in der Vollzugsanstalt Little Haven im Norden Victorias schuftete oder mit kleinen Läden und ein bisschen Fischfang irgendwie über die Runden kam. Nichts davon war eine Lebensart, unter der sie sich ihre berufliche Zukunft vorstellen wollte. Wobei sie sich gerade darüber allmählich Gedanken machen musste. Nun, da ihr letztes Semester am Emery College Institute angebrochen war.
Hier in Emery hatte sie alles, was sie sich je wünschen konnte. Sogar auf Jahre hinaus, wenn sie wollte. Sie wohnte bei ihrer Mum, die oft monatelang auf Geschäftsreise war, und zu deren Häuschen ein Kräuter- und Gemüsegarten gehörte, um welchen sie sich liebevoll kümmerte. Wenn sie es geschickt anstellte, und sich endlich das Fischen beibrachte, würde sie sich bald komplett selbst versorgen können und sich nicht um einen Job zu bemühen brauchen.
Da ihr Vater vor zehn Jahren bei einem schweren Arbeitsunfall im Nahen Osten ums Leben gekommen war, würde sie in ein paar Monaten, bei Vollendung ihres neunzehnten Lebensjahres, Zugriff auf den Treuhandfond erlangen, den er noch im Kindeshalter für sie hatte einrichten lassen. In weiser Voraussicht.
Der Nebel ließ nach. Sie hauchte den Lichtkegel an, um seine Ränder zu schärfen. Dass sie sich finanziell, zumindest auf einen gewissen Zeitraum hinaus, abgesichert wusste, war allerdings ein zweischneidiges Schwert. Ihre beste Freundin Chental hatte mal gelästert, dass ihr Leben im Grunde schon ausgehandelt sei.
Doch was war schlimm daran, an einem so schönen Ort wie diesem zu bleiben? Mehrere Generationen ihrer Familie hatten bereits hier gelebt, wie konnte es da verkehrt sein, wenn sie es ihnen gleichtat? Es hatte schließlich seine Zeit gedauert, sich nach der Umsiedlung von Montreal in der Küstenstadt einzuleben.
Ein zweiter, weit schwächerer Lichtkegel schnitt durch den Nebel. Hastig knipste sie die Taschenlampe aus und presste sich das Gerät an die Brust.
«Andrea», rief eine Männerstimme.
Sie erwiderte nichts, ließ ihrem Mund bloß stille Atemluft entweichen.
Der Strahl züngelte weiter durch die Nebelwand. «Zu spät, junge Dame. Ich habe das Licht längst gesehen.»
So ein Mist! Sie rappelte sich auf und spähte über die Bordwand hinab auf den Strand. Vom Lichtstrahl geblendet konnte sie den Mann zwar nicht sehen, doch seine Stimme hatte sie längst erkannt. «Pres», lachte sie. «Hi… Was tust du denn hier?»
Chief Sheriff Stuart Prescott senkte die Taschenlampe. «Das Versprechen halten, das ich deiner Mum gegeben habe», knurrte er. «Jemand muss ja auf dich aufpassen.»
Sie hatte ihn tatsächlich nicht kommen hören. «Du bist doch nicht etwa wegen mir hier raufgefahren, oder?»
«Ne, wo denkst du hin?», brummte er. «Mir gefällt die verlassene Landschaft hier oben. Besonders im Dunkeln.» Er wies mit dem Lichtkegel nordwärts. «War grad auf dem Rückweg vom Naturschutzgebiet. Diese Tage erwische ich ständig welche, die dort Zelte aufstellen.»
«Verirrte Wikinger?»
«Sogar falsche Wikinger hätten mehr Respekt vor der Natur. Und jetzt komm endlich da runter. Sogar mir ist kalt, und ich hab’ eine Heizung im Wagen.»
Sie tat ihm den Gefallen, kletterte ins Gebälk und kraxelte durch ein großes Loch an der Bordwand hinaus auf den mit faustgroßen Steinen übersäten Strand der Bucht. Prescott legte ihr die Hand auf die Schulter und geleitete sie sanft aber bestimmt zum Streifenwagen.
Während er wortlos südwärts entlang der Küste steuerte, musterte sie ihn. Seine schwarze Uniform saß ihm wie frisch gebügelt am Oberkörper und die braunen Locken waren trotz der späten Stunde perfekt gekämmt. Nur seine angespannten Gesichtszüge, die alle paar Meter von vorbeigleitenden Straßenlaternen ausgeleuchtet wurden, verrieten, wie lange er schon im Dienst sein musste.
Wie sie ihn so betrachtete, geschah es wieder. Immer, wenn sie einer Person einen Augenblick lang ihre Aufmerksamkeit schenkte, war ihr, als ob sie Teile von deren Aura erkennen konnte. Nicht dass sie sich auch nur das Geringste aus Esoterik gemacht hätte, aber sie konnte jeweils schwören, ein rötliches Leuchten in der Brustgegend wahrzunehmen. Ein Licht, das ihr - so vermutete sie stark – verriet, wie viel Liebe jemand in sich trug. Das war jedenfalls die plausibelste Erklärung, die sie sich denken konnte. Bei Menschen, mit denen sie eine engere emotionale Bindung teilte, funktionierte es sogar besonders gut. Meist aber verbuchte sie es als kuriose Sehstörung, denn sie hatte gelesen, dass es sogar Menschen gab, die Klänge sehen konnten. Prescotts Licht strahlte gerade nicht allzu weit aus, sondern sammelte sich als helle Sphäre.
Er wurde ihrer Aufmerksamkeit gewahr und strich sich nervös übers Hemd. «Was ist los? Stimmt was mit meiner Krawatte nicht? Sitzt sie schief? Verdammt.»
Sie rettete sich mit einem Lächeln aus der Situation. «Verzeih. War was los heute Abend?»
Prescott schielte feindselig herüber. «Machst du Witze? Dieses dämliche Festival. Es drängen immer mehr Verrückte in die Stadt. Das Seaside Inn und das Old Mortimer sind schon rappelvoll. Wenn das so weitergeht, müssen wir bald eine Camping-Zone im Naturschutzgebiet freigeben.»
Sie passierten eine kleine Gruppe junger Erwachsener, die gehörnte Helme, protzigen Holzschmuck um die Hälse und Felle auf den Schultern trugen. «Valla-Valla», plärrte einer herüber und stemmte sein Plastikschild. «Valla-Valla», bekräftigten seine Freunde und fuchtelten aufgekratzt mit ihren Schwertern.
Prescotts finsterer Blick in den Rückspiegel verriet Andrea, dass er bestimmt gewendet hätte, wäre sie nicht im Auto gesessen. «Warum treibst du dich eigentlich immer wieder auf dem alten Kahn herum?»
Andrea lehnte den Kopf ans Fenster und blickte zum Himmel. «Ich will doch bloß die Sterne sehen», erwiderte sie verträumt.
«Glaub mir. Von denen wirst du jede Menge sehen, wenn das morsche Gebälk unter deinem Hintern kollabiert. Versprichst du mir, dass du nicht mehr auf dem Kasten kletterst?»
Ein sorgloses Lächeln umspielte ihre Lippen. «Vermutlich nicht.» Sie lachte.
Prescott schlug gegen das Lenkrad. «Du bist genauso störrisch wie Catherine.»
Warum auch ein Versprechen abgeben? Ihr gefiel, wie sehr er sich um sie sorgte, und außerdem würde sie damit durchkommen. Er und ihre Mum hatten im letzten Herbst eine dreijährige Affäre beendet. Seither fühlte er sich für sie verantwortlich, wann immer Mum im Ausland weilte. Und das war eigentlich ständig der Fall.
«Störrische Weiber», wetterte Prescott verhalten und kratzte sich umständlich an der großen Nase. «Es ist immer dasselbe. Frauen wollen Männer ändern, aber sie hören nicht hin. Männer versuchen Frauen in Ordnung zu bringen, aber sie bleiben...
| Erscheint lt. Verlag | 8.11.2022 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
| ISBN-13 | 9783756282142 / 9783756282142 |
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