Hass nährt Hass (eBook)
279 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
9783754980620 (ISBN)
Karin Monteiro-Zwahlen stammt aus der Schweiz und wohnt heute an der galicischen Atlantikküste. Sie arbeitet freischaffend als Kultur- und Sozialanthropologin und Übersetzerin. Literaturblog: deutsch: www.monteirozwahlen.wordpress.com spanisch: www.mundiscript.wordpress.com
Karin Monteiro-Zwahlen stammt aus der Schweiz und wohnt heute an der galicischen Atlantikküste. Sie arbeitet freischaffend als Kultur- und Sozialanthropologin und Übersetzerin. Literaturblog: deutsch: www.monteirozwahlen.wordpress.com spanisch: www.mundiscript.wordpress.com
2. Villa Grimau
Die Ermittlungsgespräche im Haus zu führen, wo nicht nur die Tat begangen worden war, sondern wo alle Verdächtigen unter einem Dach wohnten, war ein großer Vorteil. Hu wusste aus Erfahrung, dass die meisten Menschen sich anders verhielten, wenn sie aufs Polizeikommissariat geladen wurden und in manchen Ermittlungen war das von Nutzen. Manchmal musste man die Menschen – ganz egal, ob sie als Täter, Zeugen oder Mitwisser in einen Kriminalfall verwickelt waren – aus ihren eigenen sicheren Wänden herauslocken. Man musste sie sozusagen in ein fremdes Territorium stellen, ins Niemandsland, da konnte man sie beobachten, wie ein Wissenschaftler, der ein Bakterium isoliert und es unters Mikroskop legt. Ein Polizeikommissariat eignete sich bestens zu dieser Art von Beobachtung. Oft lieferten die Befragten erst dann die richtigen Informationen, verschwatzten sich oder, im Gegenteil, fühlten sich freier, eine wichtige Aussage zu machen, ein Geheimnis preiszugeben. Umgekehrt gab es auch Fälle, bei denen es von Vorteil war, wenn man sich auf das Terrain der unbekannten Täterschaft begab, weil die ausschlaggebenden Informationen nur dort zu gewinnen waren. In solchen Fällen musste man sich in das Umfeld einfühlen können und einen Spürsinn für Unstimmigkeiten, Widersprüche und verdeckte Hinweise entwickeln. Der Mord an der Witwe Grimau gehörte mit aller Wahrscheinlichkeit in diese zweite Kategorie, vermutete der Polizeiinspektor.
Hu war instinktiv davon überzeugt, dass er das alte, große Haus auf sich wirken lassen musste, wollte er etwas über die Tatumstände erfahren. Er wollte seine Stille hören, seine Luft atmen und den Geräuschen lauschen. Häuser haben Geschichten. Je älter ein Haus ist, desto mehr Geschichten hat es erlebt. Die Geschichten stauen sich in seiner Atmosphäre, wirken auf die Art und Weise, wie Türen auf- und zugehen, wie das Holz knackt bei steigenden Temperaturen oder wie die Fensterläden antworten, wenn der Wind an ihnen rüttelt. Jedes Zimmer, jeder Treppenabsatz hat seine eigene Stimmung, die sich webt aus Farben des einfallenden Lichts, aus flüchtigen Aromen, aus längst verklungenen Wortfetzen, vergessenen Gedanken, verebbtem Gelächter. Vielleicht gab es zu Boden gefallene Tränen, Enttäuschungen, die sich zu Gespenstern verdichtet hatten, Widerstände, die die Realität beeinflussten. Hu ahnte, dass er alle Arten von Information brauchte, wollte er in diesem Fall vorwärtskommen. Aber nicht einmal zu seinen engsten Mitarbeitenden redete er über dieser Art von Information. Man hielt ihn auf dem Polizeikommissariat generell für einen intuitiven, manchmal etwas sonderbaren Menschen und das war ihm recht so. Alles andere hielt er für gefährlich. Er war sich sehr bewusst, dass die Grenzen von außergewöhnlich zu absonderlich fließend sind und immer wieder – den Umständen entsprechend – neu definiert werden. Die Einzige, mit der er sich frei über seine Intuitionen und Gedanken hätte austauschen wollen, war Anni. Aber mit Anni durfte er nicht mehr über seine berufliche Tätigkeit reden – er hatte es versprochen.
Hu ordnete an, dass die Neue mit ihm an der Nordmannstraße bleibe, während er seine beiden erfahrenen Männer, Dani und Zisco, aufs Kommissariat zurückschickte. Sie hatten noch mehr Fälle und viel Arbeit war zu erledigen.
Die junge Frau hatte sich am ersten Tag dem Team als Niki vorgestellt. Ein unmöglicher Name für einen erwachsenen Menschen und erst recht für eine Polizeibeamtin, dachte Hu im ersten Moment. Aber weil er wusste, dass sein direkter Vorgesetzte dasselbe über ihn und seinen Namen dachte, nahm er sich vor, seine neue Mitarbeiterin so zu akzeptieren, wie sie war, auch wenn es ihm nicht immer leichtfiel. Ihre offensichtliche und ausschließliche Vorliebe für Schwarz, Violett, Leder und ostentativen Silberschmuck befremdete ihn anfänglich sehr, ihre Lernbegier grenzte an Naivität und vor allem war sie irritierend jung und unerfahren.
Das Dienstmädchen Rosanna führte den Polizeiinspektor und seine Assistentin ins Studio. Es lag wie das Wohnzimmer im Erdgeschoss, aber auf der Westseite an einem kurzen Korridor, der links von der Eingangstüre wegführte. Das Zimmer war bei ihrem Eintreten völlig verdunkelt und Rosanna öffnete als Erstes die schweren Fensterläden und ließ das Fenster trotz der Kälte leicht offen stehen. Von draußen floss graues Licht in den Raum. Ein riesiger Baum stand vor dem Fenster. Wahrscheinlich ein Ahorn, vermutete Hu. Möglicherweise war dieser Raum auch im Sommer sehr dunkel; ein solcher Baumriese ließ kaum das Sonnenlicht bis zur Erde fallen. Es roch merkwürdig in dem Zimmer, ganz anders als im übrigen Wohnhaus, stellte Hu fest. Er versuchte, den Geruch zu definieren, aber das einzige Wort, das ihm dazu einfiel, war: Vergangenheit.
Das Studio war nur spärlich möbliert. In der rechten Zimmerhälfte stand ein großer, massiver Schreibtisch aus Eichenholz und ein dazugehöriger Stuhl mit einer hohen, aus Korb geflochtenen Rückenlehne. Auf dem Tisch lag einzig ein Brieföffner aus schwerem Messing, der in einem grünen Lederetui stak. In der Ecke zum Fenster hin stand eine hohe, antike Pendeluhr, vor der Niki staunend stehengeblieben war. Fasziniert betrachtete sie das golden schimmernde Pendel – ebenfalls Messing – hinter Glas und das große Zifferblatt mit den römischen Zahlen. Die Uhr stand still.
„Funktioniert sie nicht?“, fragte Niki mit Interesse das Dienstmädchen. Dieses zuckte nur gleichgültig die Schultern. In der anderen Zimmerecke, seitlich des Schreibtischs, stand eine Ständerlampe mit einem trichterförmigen seidenen Lampenschirm. Ein Schnürchen aus Glasperlen diente zum Anknipsen. Andere Möbel gab es nicht. Aber an der Wand im Rücken des Eichenpults hing eine große Kandinsky-Reproduktion unter Glas gefasst. Sie vergilbte leicht von den Rändern her. Merkwürdigerweise störte sie sich überhaupt nicht an den alten Möbeln; im Gegenteil, das Zimmer strahlte eine einzigartige Harmonie aus, gewirkt aus dem Verfallen der Zeit.
„Wir brauchen noch zwei Stühle“, sagte Hu und Rosanna entfernte sich dienstfertig.
„Wissen Sie, weshalb ich will, dass Sie hierbleiben?“, fragte Hu Niki.
„Ich nehme an, damit ich etwas lerne“, sagte sie und kam sich dabei zu ihrem eigenen Ärger wie ein Schulmädchen vor.
Hu sah zu ihr auf. Niki war grösser und, obwohl sie schlank war, breiter gebaut als er. Sie wirkte sehr kräftig und Hu wusste aus ihren Unterlagen, dass sie über eine ausgedehnte Kampfsportausbildung verfügte. Er kam in ein Alter, in dem es in diesem Beruf von Vorteil sein konnte, eine Frau wie Niki zur Seite zu haben. Aber sie verhehlte ihre Unerfahrenheit schlecht, fand er. Manchmal schien sie nicht viel reifer als Anni. Aber Anni war natürlich speziell. Er verkniff sich ein Lächeln und sagte etwas forscher als beabsichtigt:
„Natürlich sollen Sie etwas lernen. Aber hier will ich konkret, dass Sie sich ganz auf die Personen konzentrieren. Nicht auf ihr Gerede, dazu haben wir das Aufnahmeband. Ich will, dass Sie sich auf die Menschen konzentrieren, auf ihre Mimik, auf ihre Gesten, auf ihre Ausstrahlung. Ich muss mich auf die Gesprächsführung konzentrieren können. Ich muss im richtigen Moment die richtigen Fragen stellen, Schwachstellen ausfindig machen. Ich muss die Befragten provozieren können, ihre Widersprüchlichkeiten konkret werden lassen. Ich muss sie dazu verführen, die Wahrheit zu sagen. Ich muss sozusagen das Schiff steuern, Sie hingegen sollen das Fahrwasser kontrollieren. Verstehen Sie das?“
Niki nickte beflissen, aber Hu nahm sich vor, das nächste Mal weniger bildhaft zu sprechen. Ihr Gesichtsausdruck überzeugte ihn wenig.
Der Polizeiinspektor hatte eigentlich beabsichtigt, am frühen Nachmittag zuerst die Haushälterin, die die Tote gefunden hatte, zu vernehmen, aber Stefan Grimau musste – wie er behauptete – dringend ins Büro und bat deshalb, als Erster seine Informationen zu Protokoll geben zu dürfen.
Vielleicht hatte Stefan tatsächlich Wichtiges im Büro zu erledigen, wenn es am Todestag der eigenen Mutter etwas geben kann, das so wichtig ist, dass es keinen Aufschub erträgt; auf jeden Fall wusste er es geschickt auszunützen, als Erster vor Hu auszusagen. Der erste Eindruck ist immer ein prägender und Stefan gab sich alle Mühe, für Hu ein harmonisches Bild der Familie Grimau zu zeichnen. Der Sohn der Bauherrin mochte um die Fünfzig sein, aber seine Bewegungen waren locker, seine Ausstrahlung voller Energie und Selbstsicherheit. Niki vermutete einen Sportler in ihm. Er hatte auf dem Stuhl dem Polizeiinspektor gegenüber Platz genommen, lehnte sich bequem zurück und verschränkte beim Reden die Arme vor der Brust.
Sein Vater Hannes Grimau, erzählte er bereitwillig, war vor vielen Jahren nach einer kurzen und heftigen Krankheit sehr plötzlich verstorben. Es sei ein schlimmer Schlag gewesen für die ganze Familie, der aber ihre Mitglieder nur noch enger zusammengeschmiedet habe. Frau Grimau sei eine außergewöhnlich tapfere Witwe gewesen, die zusammen mit ihrem damals noch sehr jungen Sohn die Führung des großen und florierenden Bauunternehmens übernommen hatte. Sie stand bis ins fortgeschrittene Alter aktiv im Geschäft, hatte sich aber vor ein paar Jahren zurückgezogen. Als Sohn, erklärte Stefan in seiner sachlichen Art, hielt er sie noch dauernd auf dem Laufenden; erstens, weil er das für eine effiziente Alterstherapie hielt und zweitens, weil er ihr damit gefällig war. Auch die beiden...
| Erscheint lt. Verlag | 10.10.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Enkel • Familie • Großvater • Hass • Missgunst • Mord • Neid • Reichtum • Sexismus • Spannung |
| ISBN-13 | 9783754980620 / 9783754980620 |
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