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Wellen (eBook)

Roman | Über das Auf und Ab im Alltag eines jungen Vaters

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
284 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518773949 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wellen -  Heinz Helle
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Zum zweiten Mal ist er Vater geworden. In der einen Nacht will und will die kleine Tochter nicht aufhören zu schreien, und in der nächsten fragt er sich, ob sie noch atmet. Am Tag findet er sich zwischen Windeln und Fläschchen und dem Playmobil des ersten Kindes wieder. Und während seine Frau die Hauptverdienerin ist, träumt er von einem Leben in einem großen Haus am Meer oder von Sex mit anderen. Er ist überfordert als Vater, verunsichert als Mann. Wieso fällt es ihm so schwer, sich in seine Rolle einzufügen? Und welche dunklen Seiten hat sein Mann-Sein, welches Potenzial an Wut und Gewalt schlummert in ihm? Mit seinem Kind im Arm sucht er nach Antworten und findet Momente der Liebe, der Nähe und des Glücks.
Wellen ist ein Roman über das Auf und Ab im Alltag eines jungen Vaters, eine Auseinandersetzung mit dem Wunder des Lebens und der Liebe zum eigenen Kind. Er erzählt von einem modernen, um Gleichberechtigung bemühten Mann in einer Gesellschaft, in der immer noch alte Ideale und Geschlechterverhältnisse vorherrschen. Heinz Helles persönlichstes Buch und ein hochpoetischer Text von großer Kraft und Aktualität!

Heinz Helle, geboren 1978, studierte Philosophie in M&uuml;nchen und New York und arbeitete als Texter in Werbeagenturen, bevor er Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studierte. F&uuml;r seinen letzten Roman,<em> Die &Uuml;berwindung der Schwerkraft</em>, wurde er mit dem F&ouml;rderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Er lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Julia Weber, und den beiden gemeinsamen T&ouml;chtern in Z&uuml;rich.

Und auf der Rückfahrt


Und auf der Rückfahrt von Bremen wenige Tage später wird der Zug schneller und schneller, jagt mit erstaunlichem Lärm und Gerüttel über Bodenwellen und durch Kurven, beschleunigt so stark, dass ich auf meinem Weg vom Bordbistro zurück an meinen Platz erst wanke und dann zu stolpern beginne, ich taumle, ich tanze vorbei an den Sitzen und Toiletten und Koffern und Fahrrädern und verschiedenen Mülleimern für Glas und Verpackungen, an den anderen Fahrgästen, ihren Frisuren, Tätowierungen, Schmuck, vorbei an absichtlich oder unabsichtlich eng über Körperformen gespannten Stoffen oder lose herabhängenden, egal, all das interessiert mich nicht mehr so sehr wie früher, auch die Ausmaße der auf Gepäcknetzen oder zwischen den Sitzen verstauten Taschen sind mir egal, ich frage mich nicht mehr, ob sie möglicherweise Sturmgewehre enthalten könnten, mich verunsichert nicht einmal die angeblich marode Infrastruktur der Bundesrepublik, nein, ich wanke einfach durch einen schwankenden Zug zurück zu meinem Platz, und als wir kurz danach auf freier Strecke halten und eine Weile stehen, freue ich mich immer noch ebenso sehr auf das Heimkommen wie zuvor, und dann steht der Zug noch immer, und ich freue mich fast noch mehr, weil ich durch eine Verspätung auch mehr Gelegenheit haben werde, mich aufs Heimkommen zu freuen, und alle schon schlafen werden und ich mich ganz alleine in der Küche dann freuen kann, wieder bei ihnen zu sein, während sie schlafen, und ich nicht mit irgendwem reden muss, und der Zug steht weiter, und ich freue mich, und dann sagen sie durch, dass sich wegen eines Personenunfalls die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit verzögert, und der Junge neben mir, der gerade noch über den Film auf seinem Rechner gelacht hat, in dem ein Mann seine Bulldogge, kurz bevor sie eingeschläfert wird, aus einem Tierkrankenhaus entführt und ihr dann einen Hamburger serviert, ruft: Kannst du endlich mal aufhören zu nerven, verdammter Scheißzug?

Und als ich zwei Nächte später nicht schlafen kann, auch weil Z nach dem Füttern nur unruhig schläft, ständig den Schnuller verliert und ungehaltene Geräusche macht, stehe ich auf, hänge eine Decke über den Stuhl neben dem Babybett, zwischen sie und den Vollmond, gehe in die Küche, fülle ein Glas mit Wasser, trinke, kratze mich lange und ausgiebig mit dem Stoff meiner Unterhose am Darmausgang und gehe nach einer Weile ins Bad, um etwas Sulgan aufzutragen.

Ich mag es, die fettige Creme einzumassieren, manchmal läuft mir dabei sogar der Speichel im Mund zusammen, was mich früher nachdenklich gemacht hat, ich fragte mich, ob ich vielleicht in Wahrheit schwul wäre und mir eigentlich wünschte, anal penetriert zu werden, zum Beispiel von Lexington Steele, aber weil ich nie eine Erektion bekam bei diesem Gedanken, verwarf ich ihn wieder, aber dann kam er zurück, während der Schwangerschaft und den gut drei Monaten, die seit der Geburt unserer zweiten Tochter vergangen sind, und als ich die Salbe zurücklege in den Korb mit den Toilettenartikeln, fällt mein Blick auf die immer noch ungeöffnete Kondompackung, die ich kürzlich gekauft habe, Performa, Latex, mit einer dünnen Schicht Betäubungsmittel, nur innen, natürlich, damit es nicht ganz so schnell wieder vorbeigeht, wenn wir wieder beginnen, hatte ich dir gesagt, woraufhin du erwidert hattest, du hättest eigentlich nichts dagegen, wenn sich die Sache nicht allzu lang hinziehen würde, und im Übrigen hättest du neulich geträumt, du hättest Sex gehabt mit einer kleinen, sanften, zärtlichen Frau.

Und dann kommt B aus ihrem Zimmer und will Tigerbaby spielen, und Z ruft und will Milch, und ich setze mich dennoch kurz an den Küchentisch und versuche, ein paar Sätze festzuhalten, weil ich merke, dass mich eine nervöse Unruhe überkommt in dem Moment, in dem ich B ja sage auf ihre Frage, ob ich Lust habe, mit ihr zu spielen, und ich weiß, dass ich eigentlich keine Lust habe gerade, aber ich will Lust haben, verdammt, und wieso soll mein Ja zu ihrem Spiel dann eine Lüge sein, und plötzlich habe ich Angst, dass ich, wenn ich nicht sofort einen Satz auf das Blatt schreibe, vollkommen verschwinde, ein leerer, langer, ungelenkiger Körper, der auf dem Boden neben einem jungen Tiger kniet und Bewegungen, Geräusche und ein Gesicht macht, die Zuneigung, Vertrauen und Geborgenheit wecken sollen, und der dabei nichts empfindet, nur die Härte des hellen Holzbodens.

Und dann tappt das Tigerbaby mit der Pfote in den Napf und ist nass, und ich stehe auf und gehe ins Bad und hole ein Handtuch, ich werde es abtrocknen, das kann ich gut, ich weiß es, und dann werde ich Z füttern und Kaffee kochen für dich und für mich, und wir vier werden einen weiteren gemeinsamen Tag erleben, warm, satt und in Sicherheit, und wahrscheinlich wird niemand merken, was in mir passiert, außer dir vielleicht, aber in dir passiert ja das Gleiche, und ich denke, oh Gott, was können wir nur tun, wie kann es gelingen, dass in unseren Kindern so etwas nicht passiert?

Und als B gestern im Auto plötzlich zu husten begann und nicht mehr aufhörte, wünschte ich mir eine objektive Instanz, die einem sagt, wo die Grenze ist zwischen Gleichgültigkeit und Großzügigkeit und dann, als sie einfach nicht aufhörte, zwischen Genervtheit und Ablehnung, und ich war mir schon ganz oft sicher, dass sich meine Entspannung sofort auf sie überträgt und also auch meine Anspannung, aber was kann ich dagegen tun, dass es Tage gibt, an denen ich nicht denke, das wächst sich aus, das ist nichts, nur eine harmlose Reaktion auf alte Blütenstaubablagerungen und Gummiabrieb und Asphalt und Erde im Lüftungssystem unseres 97er Volvo V70 mit 301526 Kilometern, beinahe so weit wie von hier bis zum Mond?

Und dann sitze ich an einem unwahrscheinlich warmen Januartag auf dem Bullingerplatz vorm Café, die Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich merke, dass mich das schlagartige Verschwinden der Winterkälte gleichzeitig beruhigt und beunruhigt, weil es mich daran erinnert, was dieser Himmelskörper im Sommer hier anrichten wird; genau hier, wo ich mich jetzt befinde, wird es dann zu heiß sein, um ohne Sonnenschutz länger als eine Minute zu bleiben, die Helligkeit wird kaum auszuhalten sein, auch mit geschlossenen Augen und abgewendetem Gesicht nicht, und die Hitze wird mich daran hindern, eine angemessene Reaktion auf die Signale zu finden, die meine Haut sendet und die von der Lebensfeindlichkeit der Umgebung berichten auf eine ebenso nüchterne wie hilflose Art und Weise, weil das Einzige, was mein Körper könnte, weglaufen, bei Lufttemperaturen um die 40 Grad nicht wirklich möglich sein wird, nicht in die nächste Klimazone oder auch nur den nächsten Schatten, außer ich beginne die Flucht schon vorher, im Winter, und entscheide, in eine imaginierte Heimat zurückzukehren, von der ich nur weiß, dass sie im Norden liegt, dass es dort kühler ist und hoffentlich weniger hell.

Und dann denke ich, dass es vielleicht auch eine andere Art Dunkelheit ist, die mich in den Norden zieht und deren Schatten sich erstaunlich schnell über mich zu legen beginnt am Nachmittag zwischen zwei und drei, in Zürich, Schweiz, wenn Z wieder schreit und ich mich gerade noch bremsen kann, nach drei Kniebeugen und zwei Luftsprüngen, und mich laut zu ihr sagen höre: Also wenn du auf meinem Arm genauso schreist wie in deinem Bett, gibt es keinen Grund, dich im Arm zu halten, und dann lege ich den sich aufbäumenden kleinen Körper vorsichtig ab und beginne, sie an der Stirn zu streicheln, lustlos und mechanisch, bis ich irgendwann merke, dass ich eigentlich vor allem ihre Augen abschirme, damit sie denkt, es sei Nacht, als ob sie denken könnte oder eine Vorstellung von Nacht hätte, und mit der anderen Hand fixiere ich den Schnuller über dem zum Schreien geöffneten Mund.

Und dann nehme ich sie irgendwann wieder auf den Arm, als ich mich zu fragen beginne, ob ich hier vielleicht doch nicht richtig bin, im falschen Leben, im falschen Beruf, mit den falschen Menschen im falschen Land, und dann sehne ich mich so sehr nach einem südschwedischen Sandstrand, als ob ein südschwedischer Sandstrand irgendeines meiner Probleme lösen würde oder ein großes Haus in der ersten Reihe oder ein kleines, eines, das mir gehört, und dann gehe ich mit Z zum Wickeltisch, und ich denke, dass eine größere Wohnung ja schon reichen würde, eine Wohnung, in der ich ein Zimmer hätte für mich alleine,...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuell • aktuelles Buch • Alltag • Alltag mit Kind • Alltagserfahrungen • Arbeitsteilung • Aufrichtigkeit • Aufteilung • Autobiografisch • Autofiktion • autofiktional • Baby • Beziehung • bücher neuerscheinungen • Buch für Mann • buch-geschenk • Buch über Vatersein • Care-Arbeit • Corona • Deutschland • Die Vermengung • Ehe • Eltern • Elternschaft • Enttäuschungen • Erinnerungen • Erziehung • Familie • Familienalltag • Familienmodell • Familienvater • Familie und Beruf • Fantasien • Feminismus • Fläschchen • Förderpreis des Kantons Zürich 2023 • Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 • Füttern • Geburt • Geburtstagsgeschenk • Gegenwart • gegenwärtig • Gemeinschaft • Geschenkbücher für Männer • Geschenk Freund • geschenk freund geburtstag • Geschenk-Idee • Geschenk Mann • Geschenk Vater • Geschlecht • Geschlechtergerechtigkeit • Geschlechterrollen • geschlechterungerechtigkeit • Geschlechterverhältnisse • Gesellschaft • Gewalt • Gleichberechtigung • Glück • Haushalt • Hoffnungen • Ideale • Journal • Julia Weber • Junger Vater • Kind • Kinder • Kindererziehung • Kinder kriegen • Leben • Lebenswerk • Liebe • Lieben • Mann • Männer • Männerbild • Männlich • Männlichkeit • Mitteleuropa • Modern • moderne Familie • moderner Vater • Momentaufnahmen • Nähe • Neuerscheinungen • neues Buch • Neugeboren • Neugeborene • Notizen • Pandemie • Papa • Partnerschaft • Patriarchat • persönlich • Philosophie • Playmobil • poetisch • Rachel Cusk • Regretting Motherhood • Rollenbilder • Roman Neuerscheinungen • Schreiben • Schriftsteller • Schweiz • Schweizerisches Literaturinstitut Biel • Sehnsüchte • Sex • Sexualität • Sorgen • Tagebuch • Tochter • Töchter • Überforderung • Ungeduld • Vater • Väter • Vaterbild • Vaterliebe • Vaterrolle • Vaterschaft • Vatertag • Vatertagsgeschenk • Vater-Tochter-Beziehung • Vater und Tochter • Verunsicherung • Werbeagentur • Werkjahr der Stadt Zürich 2024 • wickeln • Widersprüche • widersprüchlich • Windeln • Wut • wütend • ZKB Schillerpreis 2023 • Zürich • Zusammenleben
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