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Susanna (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
288 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27556-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Susanna -  Alex Capus
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Der neue Roman vom Autor von 'Léone und Louise' - die faszinierende Geschichte einer Emanzipation
Alte Gewissheiten gelten nicht mehr, neue sind noch nicht zu haben. In New York wird die Brooklyn Bridge eröffnet, Edisons Glühbirnen erleuchten die Stadt. Mittendrin Susanna, eine Malerin aus Basel, die mit ihrer Mutter nach Amerika ausgewandert ist. Während Maschinen die Welt erobern, kämpfen im Westen die Ureinwohner ums Überleben. Falsche Propheten versprechen das Paradies, die Kavallerie steht mit entsicherten Gewehren bereit. Mit ihrem Sohn reist Susanna ins Dakota-Territorium. Sie will zu Sitting Bull, um ihn zu warnen. Ein Portrait, das sie von ihm malt, hängt heute im State Museum North Dakotas. Das ergreifende Abenteuer einer eigenwilligen und wagemutigen Frau, voller Schönheit und Mitgefühl erzählt.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Für sein literarisches Schaffen wurde er u.a. mit dem Solothurner Kunstpreis 2020 ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen Léon und Louise (Roman, 2011), Fast ein bisschen Frühling (Roman, 2012), Skidoo (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (Roman, 2013), Mein Nachbar Urs (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), Seiltänzer (Hanser Box, 2015), Reisen im Licht der Sterne (Roman, 2015), Das Leben ist gut (Roman, 2016), Königskinder (Roman, 2018) und Susanna (Roman, 2022).

Der Strafprozess


Vielleicht geschah es an jenem Tag, dass Susannas Mutter erstmals den Entschluss fasste, ihren Gatten für immer zu verlassen. Sie würde es ihm so leicht wie möglich machen und ihm sagen, dass sie einen anderen Mann liebe. Dann würde sie aus dem Haus gehen, die Tür hinter sich zuziehen und verschwinden.

Der Schmerzensschrei des Wilden Mannes war den Zuschauern durch Mark und Bein gegangen. Sogar Maria Faesch erwachte aus ihrem Tagtraum, wandte sich dem Ufer zu und sah gerade noch, wie ihre Tochter durch die Luft flog. Als der Wilde Mann in die Knie ging und sich die Maske vom Gesicht riss, kämpfte Maria sich schon durch die Menschenmenge vor.

Susanna lag reglos auf dem Kies wie eine weggeworfene Gliederpuppe. Maria hob das Kind hoch, das in ihren Armen nun endlich zu weinen anfing, und trug es, noch bevor der Tumult unter den Zuschauern ausbrechen konnte, eiligen Schrittes nach Hause.

Zum Mittagessen war die Familie im Blauen Salon versammelt. Vater und Mutter saßen an den Enden des Tisches, die Kinder an den Längsseiten. Neben dem Vater hatte ein blonder, noch junger Mann Platz genommen, der seit ein paar Monaten Gast der Familie war. Die Bediensteten nannten ihn den »Deutschen«, die Kinder nannten ihn den »Herrn Doktor«. Sein Name war Karl Valentiny. Er und der Vater waren Freunde, sie hatten vor Jahren gemeinsam in der Fremdenlegion in Algerien gedient; der Vater als erfahrener Lieutenant einer berittenen Kompanie, Valentiny als junger Regimentsarzt. Er hatte ein gutmütiges, fast mädchenhaft glattes Gesicht und einen akkuraten Seitenscheitel und in den Augenwinkeln feine Müdigkeitsfalten wie so viele, die lange Jahre in fernen Ländern gelebt hatten. Vor ein paar Monaten hatte er aus seiner Vaterstadt Dortmund fliehen müssen, nachdem die preußischen Besatzungstruppen die Revolution niedergeschlagen hatten. Die Kinder mochten ihn, weil er ihnen Geschichten erzählte.

Es gab Rindsragout mit Kartoffelpuffer. Das Dienstmädchen schöpfte. Leise klirrte das Besteck. Flüsternd bat man ums Salz. Leise wurde geschmatzt. An der blauen Tapete tickte die Wanduhr. Durchs Fenster drang Hufgeklapper. In der Ferne eine Schiffspfeife. Der Deutsche erzählte den Kindern eine Geschichte. Eine Geschichte über ihren Vater. Über ihren Vater in der Fremdenlegion.

Der Vater war auf dem Rückweg aus der Stadt, wo er einen Korb Datteln gekauft hatte, in einem ausgetrockneten Flussbett einer trächtigen Berglöwin begegnet. Er trug seine weiße Ausgehuniform und sein rotes Képi, aber keine Waffe bei sich. Also floh er vor dem Raubtier den Fluss entlang in eine Schlucht hinein. An beiden Seiten der Schlucht stiegen graue Felsen auf, ein paar zerzauste Zypressen wankten im Nachmittagswind. Die Berglöwin folgte ihm. Sie war mit ihrem dicken Bauch langsamer als er, blieb ihm aber hartnäckig auf den Fersen. Weiter oben wurde die Schlucht enger. Das Flussbett war dort nicht mehr trocken, sondern schlammig. Noch weiter oben wand sich ein träges Rinnsal durch den Schlamm. Ein Rudel Mufflons soff daraus. Sie nahmen Reißaus, als sie den Lieutenant und die Berglöwin sahen. Zuhinterst in der Schlucht kletterte der Lieutenant die Felsen hoch auf eine Hochebene, das Raubtier mühsam ihm nach. So liefen die beiden in die Wüste hinaus. Er mit seinem roten Képi und den Datteln voraus, sie mit ihrem dicken Bauch hinterher.

Die Kinder kicherten. Sie wussten, dass die Geschichte gut ausgehen würde. Die Geschichten des Deutschen waren immer lustig.

Ihre Mutter lächelte mit ihnen. Gleichzeitig beobachtete sie argwöhnisch ihren Mann, wie er der Geschichte lauschte und dazu seinen grau melierten Bart kraulte, bevor er wieder zu Messer und Gabel griff. Sie kannte ihn gut, sie ließ sich von seinem versonnenen Lächeln nicht täuschen. Sie sah ihm an, dass sich etwas in ihm zusammenbraute. Sie erkannte es an der Art, mit der er methodisch und beherrscht mundgerechte Portionen auf seine Gabel schob. Sie hoffte, dass die Geschichte des Deutschen noch lange anhielt. Solange er sprach, war alles gut.

Die Sonne war untergegangen. Der Lieutenant lief weiter dem Horizont entgegen. Als einzigen Proviant hatte er die Datteln dabei. Sie waren frisch, der Korb war aus Palmblättern geflochten. Seine Beine wurden schwer, die Füße schmerzten. Als er nicht mehr laufen konnte, blieb er stehen, stärkte sich mit ein paar Datteln und warf die Steine nach der Berglöwin. Sie fauchte und peitschte mit dem Schwanz, wich aber den Steinen nicht aus. Also rang er seine Müdigkeit nieder und lief weiter. Die Berglöwin hinterher.

Die Kinder lachten. Maria lächelte, aber sie war in Sorge. Sie ahnte, dass die Geschichte nicht mehr lange dauern würde.

Als die Nacht hereinbrach, war der Lieutenant mit seinen Kräften am Ende. Er blieb stehen und erwartete die Berglöwin, fest entschlossen, mit bloßen Händen gegen sie zu kämpfen. Er musste sie am Hals erwischen und zupacken und nicht mehr loslassen, was immer auch geschehen mochte. Den Korb mit den Datteln stellte er in den Sand. Dann kam die Berglöwin. Auch sie war müde. Sie schleifte ihren Bauch, der prall gefüllt war mit zappeligen Berglöwenbabys, über den Wüstenboden. Zehn Schritte vor dem Lieutenant blieb sie stehen und fauchte. Dann machte sie noch mal zwei Schritte. Und noch zwei. Gleich würde sie springen. Der Lieutenant hob die Hände wie ein Boxer. Noch mal zwei Schritte und noch zwei. Aber sie sprang nicht. Sie kroch auf dem Bauch weiter, bis sie mit ihrer feuchten Schnauze seine staubigen Wickelgamaschen berührte. Der Lieutenant war aufs Äußerste gespannt. Mit jeder Faser seines Körpers erwartete er ihren Biss oder einen ersten Prankenschlag. Die Berglöwin aber bedachte ihn von unten herauf mit einem langen, schmachtenden Blick aus ihren bernsteinfarbenen Augen, dann wandte sie den Kopf und öffnete langsam den Rachen, zog die Lefzen über die Reißzähne und nahm sachte, beinahe zärtlich den Henkel des Korbes ins Maul. Und dann verschwand sie, den Bauch über den Wüstensand schleifend, mit den Datteln hinaus in die Nacht.

Die Geschichte war zu Ende. Die Kinder jubelten und klatschten in die Hände, der Deutsche nahm den Applaus bescheiden lächelnd entgegen. Der Vater wiegte den Kopf und drohte mit dem Finger, bestätigte aber mit einem Nicken und gleichzeitigem Kopfwackeln, dass die Episode sich mehr oder weniger so zugetragen habe. Dann legte er akkurat sein Besteck auf den leeren Teller, faltete die Serviette und strich sich über den Bart.

Maria schlug die Augen nieder. Nun war es so weit, das Unvermeidliche nahm seinen Lauf. Ihr Mann hatte strenge vertikale Furchen in den Wangen und einen schwarzgrauen Bart, und seine Hände waren spindeldürr. Für die Hände konnte er nichts und für die Wangenfurchen vielleicht auch nicht, für den Bart aber schon. Wie sehr hatte Maria sich früher gewünscht, dass er diesen Bart abschnitt. Gesagt hatte sie es ihm nie. Jetzt war es zu spät. Es machte keinen Unterschied mehr. Schon lange nicht mehr.

Er stützte die Ellbogen auf, legte alle zehn Fingerkuppen aneinander und räusperte sich. Das Gelächter, Geklapper und Gemurmel am Tisch verstummte. Die Kinder legten die Hände in den Schoß. Es war, als hätte eine Wolke sich vor die Sonne geschoben. Der Deutsche spitzte die Lippen und warf Maria einen Blick zu. Sie erwiderte ihn nicht.

Als niemand sich mehr rührte, schob der Vater seinen Stuhl zurück und erhob sich, verschränkte die Hände auf dem Rücken und fing an zu reden. Er ging auf dem zweifarbigen Parkett hin und her und redete. Maria war seiner Reden überdrüssig, seit vielen Jahren schon. Seine Reden hingen ihr zum Hals heraus. Sie hasste ihren Mann dafür, dass er so reden und reden konnte ohne jede Scham, ohne Rücksicht und Erbarmen, frei von Zweifeln und von Neugier für die anderen. Zwar hatte sie bereits im ersten Ehejahr verstanden, dass diese Reden nicht aus seiner Seele kamen, sondern bloßer Widerhall der Reden seines Vaters waren, der sie wiederum von seinem Vater und dessen Vorvätern erlernt hatte. Trotzdem hasste sie ihn für seine selbstgefälligen Denkpausen und sein bigottes Lächeln, das er ebenfalls dem Vater abgeschaut hatte. Sie hasste seine langen, bedeutungsvollen Blicke zum Fenster hinaus. Am meisten hasste sie dieses ekelhafte Zwitschern, mit dem er sich Speisereste zwischen den Zähnen heraussaugte.

Maria kannte seine endlosen Monologe. Sie kannte sie alle. Ihre Rache...

Erscheint lt. Verlag 25.7.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Basel • Brooklyn Bridge • Caroline Weldon • Frauenschicksal • Historischer Roman • Königskinder • Lebensgeschichte • Léon und Louise • New York • Porträtmalerei • Sioux • Sitting Bull • Susanna Carolina Faesch • Wahre Begebenheit
ISBN-10 3-446-27556-8 / 3446275568
ISBN-13 978-3-446-27556-0 / 9783446275560
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