Max Barry, geboren am 18. März 1973, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Melbourne, Australien. Seine besten Jahre verbrachte er bei Hewlett-Packard, bevor er seine Festanstellung gegen das Schreiben von Romanen eintauschte. Mit »Logoland«, einer beißenden Satire über eine von Großkonzernen beherrschte Zukunft, feierte er seinen ersten großen internationalen Erfolg. Darüber hinaus entwickelte er das Onlinespiel »NationStates« und arbeitete an unterschiedlichen Software-Projekten mit. Max Barry lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Melbourne, Australien.
1
Sie hielt am Straßenrand und schaute durch das Autofenster zu dem Haus, das sie verkaufen sollte. Der Briefkasten lag in Einzelteilen auf dem Rasen, als hätte ihn jemand mit einem Baseballschläger bearbeitet. »O Mann!«, sagte Maddie. Das Haus war eine Bruchbude. Der Briefkasten war noch das Beste daran gewesen.
Sie nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz, stieg aus und zog ihr Kleid herunter. Es war über dreißig Grad warm und schwül. Das beste Stück an ihrem Haus war über den Boden verstreut worden. Aber sie hatte ihre Turnschuhe dabei, was bedeutete, dass sie das nicht in High Heels erledigen musste. Sie brachte die Bruchstücke des Briefkastens hinter das Haus und warf sie neben einen Haufen aus altem Holz und einem kaputten Fußball. Während sie den kleinen Rasen von den Resten säuberte, bemerkte sie zwei Jungen von etwa vierzehn Jahren, die vor dem Zaun auf Fahrrädern herumlungerten. Sie richtete sich auf und winkte ihnen zu.
»Bück dich noch mal!«, rief einer der beiden. Der andere lachte.
Sie ging ins Haus. Drinnen war es dunkel und eng. Hier herrschte ein muffiger, unverkennbarer Großmuttergeruch nach Vernachlässigung. Aber sie sollte es verkaufen, also zog sie die Vorhänge auf, spülte das Waschbecken aus und öffnete die Hintertür. An strategischen Positionen stellte sie Kerzen auf, im Flur, im Schlafzimmer und in einem seltsamen L-förmigen Raum, den sie als Arbeitszimmer zu bezeichnen beschloss. Es waren ihre speziellen Kerzen, die sie durch eine Onlinesuche nach Gestank kaschieren gefunden hatte. Sie blickte auf ihre Uhr. Die Kerzen waren gut, aber für Notfälle hatte sie eine weitere Geheimwaffe dabei, eine Sprühdose, auf der Wie Kekse stand. Das roch nicht so überzeugend wie die Kerzen, sondern eher nach Wie verbrannter Staub, aber es wirkte schneller. Sie ging durch alle Zimmer und besprühte sie in wohldosierten Schüben.
Sie starrte auf einen dunklen Fleck in einer Ecke des Wohnzimmers, als ein Auto in die rissige Betonauffahrt einbog. »Mist«, sagte sie. Rasch zog sie die Turnschuhe aus, stopfte sie in ihre Tasche und zwängte die Füße in die High Heels. Sie wischte über ihr Handy und wählte die Playlist Verkaufsmusik, hauptsächlich Klavier und wogende Streichinstrumente mit ein paar Bläsern. Stilvoll und gleichzeitig motivierend. Die Autotür knallte. Sie benutzte ihren Handspiegel, um sich zu vergewissern, dass nichts Furchtbares mit ihrem Gesicht passiert war, und konzentrierte sich dann darauf, die Vordertür zu erreichen, ohne mit einem Absatz zwischen die Dielenbretter zu geraten.
Der Interessent kam die Betontreppe vor dem Haus herauf, nahm seine Sonnenbrille ab und reckte den Hals, um etwas zu betrachten, das weiter oben war. Die Regenrinne, vermutete sie. Eigentlich war sie kaum noch irgendwo befestigt. Maddie hatte sich vorgenommen, etwas dagegen zu tun.
»Hallo!«, sagte sie und lächelte. Bsss. Üblicherweise hieß es Lage, Lage, Lage, aber bei Henshaw Realty war es Zähne, Titten, Haar, zumindest wenn es nach Maddies Mentorin Susie ging, die seit dreißig Jahren Häuser verkaufte und vermutlich wusste, wovon sie redete. Bsss: Kopf hoch, Zähne raus, Schultern zurück, den Kopf leicht geneigt, damit das Haar zur Seite fiel. Ihr Haar war lang und rötlich, fast kastanienbraun, und sie hatte sich bislang geweigert, es zu blondieren. »Ich bin Maddie!«, sagte sie. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
Der Interessent schüttelte ihr die Hand. Er war etwa in ihrem Alter, Anfang zwanzig, mit Grübchen, etwas mager, aber irgendwie süß. Trotz der Hitze trug er ein langärmliges Kragenhemd über einer Chinohose. »Ich bin Clay«, sagte er. »Wow, Sie sind aber groß!«
»Das sind nur die Schuhe.«
Er senkte den Blick, und sie nutzte die Gelegenheit, ein Bein auszustellen und ein wenig zu posieren. Als er ihr wieder in die Augen schaute, machte sie Bsss.
»Sie sind wirklich hübsch«, sagte er.
Sie lachte und drehte sich um, damit er ihr in den Flur folgen konnte. Zu viel Bsss. Sie musste es abschwächen. »Sie haben Glück«, rief sie ihm über die Schulter zu, als sie in die Küche und den chemischen Dunst aus Keksen oder verbranntem Staub traten. »Für dieses Haus hatten wir sehr viele Anrufe. Sie sind der Erste, der es sieht.« Lügen. Schlimme Lügen.
»Wirklich?« Er hatte buschige Augenbrauen. Sein Haar war ein wenig struppig, eigentlich nicht so ihr Ding, aber ihr gefiel die Andeutung, dass er seinen eigenen Stil hatte. Dass er seinen eigenen Weg ging. Dass er sich möglicherweise auf ein heruntergekommenes, unrenoviertes Holzhaus aus den 1960ern mit zwei Schlafzimmern in Jamaica in Queens einließ.
Sie griff nach ihrem Handy, aus dem Klavierklänge klimperten. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie fotografiere?«
»Wozu?«
»Aus Sicherheitsgründen.«
Er wirkte verwirrt.
»Es ist idiotisch, aber wir treffen uns allein mit anderen Leuten, also erwartet man von uns, dass wir …«
»Oh, natürlich. Ich verstehe.«
Sie hob das Handy. Er richtete sich auf und lächelte, machte selbst ein wenig Bsss. Er war ein wenig ungelenk. Unter den Grübchen und dem struppigen Haar spürte sie einen Mann, der sich unter Menschen nicht ganz wohlfühlte.
Sie knipste ihn. »Erledigt«, sagte sie. »Das geht an unser Büro.« Wo man seine Daten aufgenommen hatte, als er den Termin vereinbart hatte. Er war Clayton Hors aus Ulysses in Pennsylvania und lebte derzeit bei seinen Eltern, nachdem er das Studium an der Carnegie Mellon University abgebrochen hatte. Jetzt wollte er mit einem Umzug in die Stadt ein neues Leben beginnen, vermutlich auf Drängen seiner Eltern, konnte sich Maddie denken. Sie legte das Handy weg. »Danke.«
»Kein Problem. Hier treiben sich ein paar üble Leute herum. Man sollte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«
»Ich kann auch Jiu-Jitsu.« Was nicht stimmte. »Also«, sagte sie, »dieses Fenster gefällt mir sehr. Es lässt viel Licht herein.«
Er nickte. »Wie lange verkaufen Sie schon Häuser?«
»Seit etwa einem Jahr.« Er schaute gar nicht zum Fenster. Obwohl das vielleicht gut so war, denn hinter dem Haus gab es nur kniehohes Unkraut und einen langsam vermodernden Schuppen.
»Ist das Immobiliengeschäft« – er suchte nach Worten – »Ihr langfristiges Berufsziel?«
»Oh, ich liebe Häuser.« Streng genommen die Wahrheit. Häuser liebte sie wirklich. Immobiliengeschäfte, bei denen es, wie sich herausgestellt hatte, überwiegend darum ging, Leute zu Entscheidungen zu drängen, mochte sie nicht so sehr. In letzter Zeit hatte sie sich gefragt, ob sie vielleicht die falsche Berufslaufbahn eingeschlagen hatte. Lange Zeit hatte sie davon geträumt, Schauspielerin zu werden. Natürlich hatte sie es nie ernsthaft verfolgt, weil es so unpraktisch war, als würde man sagen, dass man Astronaut werden wollte. Aber wenn sie immer noch darüber nachdachte, hatte es dann vielleicht etwas zu bedeuten? Dass sie mutiger hätte sein sollen?
»Lieben Sie auch dieses Haus?«, fragte er und blickte auf die schiefen Schränke und die fleckigen Vorhänge.
»Jedes Haus hat etwas Liebenswertes. Man muss nur darauf achten.«
Er lächelte. Ein aufrichtiges Lächeln. Jetzt war er warm geworden. »Das ist gut für Sie.« Er ging ins Wohnzimmer hinüber, und sie folgte ihm. »Obwohl es mich etwas überrascht, dass Sie keine Schauspielerin sind.«
Sie blieb verdutzt stehen.
Er drehte sich zu ihr um. »Tut mir leid. Manchmal rutscht mir einfach raus, was ich denke. Ist es in Ordnung, wenn ich mich allein umschaue? Ich melde mich, wenn ich Fragen habe.«
»Klar«, sagte sie, als sie sich gefasst hatte. »Toben Sie sich aus.«
Er entfernte sich. Sie betrachtete eine Schranktür, die nur noch an einem Scharnier hing, und überlegte, ob sie den Schaden reparieren könnte. Susie, ihre Mentorin, würde sagen: Maddie, lass es. Das Haus ist eine Bruchbude. Daran kannst du nichts ändern. Wenn du versuchst, es aufzuhübschen, werden alle Käufer sofort sehen, dass du sie belügst. Das stimmte vermutlich, dachte sich Maddie. Aber hier ging es eigentlich gar nicht um die möglichen Käufer. Es störte sie ganz persönlich, wenn sie sah, dass etwas repariert werden musste, und sie es nicht reparierte.
Der Wie-Kekse-Duft ließ bereits nach, also ging sie durch das Haus, um die Sprühdose noch ein paarmal taktisch einzusetzen. Als sie durch die Küche kam, schaute sie auf ihr Handy, weil sie einen Freund hatte, Trent, der ihr Bescheid geben wollte, ob er heute Abend zu Hause sein oder mit Freunden ausgehen würde. Nichts.
Clay tauchte im Türrahmen auf. »Ich werde mir nur schnell etwas aus dem Auto holen.«
»Klar«, sagte sie.
Er hatte sich die Ärmel hochgeschoben. Am rechten Unterarm hatte er eine Verfärbung, einen Fleck in Blau, Rot und Gelb, eine Mischung aus allem, wie eine Verletzung, die nicht richtig verheilt war.
Er bemerkte ihren Blick. »Ich habe eine Hündin. Ab und zu dreht sie ein bisschen durch.«
»Oh«, sagte sie. Was machte sie da? Sie starrte wie eine Idiotin. »Tut mir leid.«
»Sie hat ein gutes Herz. Aber manchmal vergisst sie es. Ich bin gleich zurück.«
Er verschwand. Sie ärgerte sich über sich selbst. Sie ging ins Wohnzimmer und beobachtete, wie er den Kofferraum seines Autos öffnete. Ein netter Wagen, ein neuer schwarzer Chevrolet SUV. Mit dem Aufkleber einer Mietwagenfirma, also konnte sie keine Rückschlüsse auf seine finanzielle Situation ziehen....
| Erscheint lt. Verlag | 15.3.2023 |
|---|---|
| Übersetzer | Bernhard Kempen |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | The 22 Murders of Madison May |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | 2023 • Action-Thriller • Alternative Welt • diezukunft.de • eBooks • Neuerscheinung • Parallelwelt • Parallelwelten • Reporterin • science thriller • Serienmörder • Stalker |
| ISBN-13 | 9783641294441 / 9783641294441 |
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