E-Book 41-50 (eBook)
640 Seiten
Blattwerk Handel GmbH (Verlag)
9783740994655 (ISBN)
Wie jeden Tag bei schönem Wetter machten die Brunners mit Lump nach der Nachmittagssprechstunde einen Spaziergang.
Der Deutsche Drahthaar preschte mit ungezügelter Energie voran durch die Wiesen. Matthias und Ulrike schwiegen und genossen die gute Luft, während sie einmal untergehakt, dann wieder Hand in Hand hinter ihm her gingen. Ihr Schweigen war das zweier einander vertrauter Menschen, die sich schon lange kennen, die gegenseitig ihre Gedanken lesen könnten.
»Übrigens, ich habe heute im Dorf gehört, dass Britta Münster in ein paar Tagen zurückkommt, um die Bäckerei ihres Onkels zu übernehmen«, erzählte Ulrike ihrem Mann.
Der Landarzt blieb stehen. »Dann stimmt das Gerücht also doch. Eine Patientin hat schon davon gesprochen.«
»Ich möchte fast sagen, leider stimmt es.« Die Landarztgattin machte ein besorgtes Gesicht. »Die Bäckerei ist schon zu Lebzeiten ihres Onkels schlecht gelaufen. Sie liegt einfach zu abgelegen für die Älteren im Dorf.«
Matthias ging weiter und zog seine Frau mit sich. »Ich erinnere mich, dass Brittas Onkel sein Haus kurz vor seinem Tod verkaufen wollte. Dann ist es nicht mehr dazu gekommen.«
»Andererseits kenne ich Britta als tatkräftige junge Frau«, wandte Ulrike ein. »Vielleicht gelingt es ihr ja doch, das Geschäft wieder in Gang zu bringen.«
Der Landdoktor sah sie von der Seite an. »Wie lange war sie jetzt weg?«
»Vier Jahre? Damals ist sie doch mit ihrem Freund in die Schweiz gegangen. Und wie es hieß, hat sie nach ihrer Bäckerlehre dort noch eine Konditorlehre gemacht.«
»Na ja, ein schönes kleines Café in den Wiesen am Ende von Ruhweiler würde sich vielleicht halten können.«
»Bei der Martha Biechle im Laden erzählte man sich nur von der Wiedereröffnung der Bäckerei. Von der Eröffnung eines Cafés war nicht die Rede.« Ulrike hakte sich bei ihrem Mann wieder ein. »Wir werden ja sehen. Ich finde die Idee grundsätzlich gar nicht so schlecht. Die meisten hier wissen frische Brötchen direkt vom Bäcker zum Frühstück zu schätzen. Seit Brittas Onkel tot ist, kannst du die hier im Dorf nicht mehr kaufen.«
»Ich bin gespannt, ob Britta sich hier eine Existenz aufbauen kann«, meinte der Landdoktor mit immer noch skeptischer Miene.
»Das steht noch in den Sternen«, sagte seine Frau und zeigte hoch zum Himmel, an dessen gläsernem Blau sich der Abendstern zeigte. »Aber ich werde auf alle Fälle zu ihren ersten Kundinnen gehören und tüchtig die Werbetrommel rühren. Man sollte ihr zumindest die Chance geben und sie unterstützen.«
Nach ein paar Schritten beendete die Klingel des Notfallhandys das Gespräch der beiden. Sie sahen sich an, mit bedauernder Miene. Sie wussten, was das bedeutete. Der Spaziergang war zu Ende. Ein Patient aus dem Tal oder der Umgebung brauchte die Hilfe des Landdoktors.
*
Das Arztehepaar und ihr Notfallpatient kamen zeitgleich auf dem Praxishügel an. Als Matthias den jungen Mann aus dem Auto steigen sah, machte er große Augen.
»Mit dem Bein bist du noch Auto gefahren?«, fragte er entsetzt.
Sven Scheffler fiel das Gehen sichtlich schwer. Sein linkes Hosenbein war blutdurchtränkt und zerfetzt.
»Guten Abend, Herr Doktor.« Der junge Mann sah ihn mit sichtlich gequältem Lächeln an. »Da ich ein Automatikgetriebe habe, brauchte ich nur mit dem gesunden Bein Gas zu geben.«
»Wie ist das denn passiert?«
»Beim Werkeln am Haus ist mir die Elektrosäge aus der Hand gerutscht. Gott sei Dank ist das Bein noch dran«, scherzte er halbherzig.
»Dann wollen wir mal schauen. Komm mit in die Praxis.«
Derweil hatte Ulrike schon aufgeschlossen und im Behandlungszimmer alles vorbereitet.
»Setz dich bitte dort auf die Liege«, wies Matthias seinen Patienten an.
Vorsichtig legte er die Wunde frei. Die Stofffetzen hatten den tiefen Schnitt überdeckt.
»Da hast du ja ganze Arbeit geleistet«, murmelte er. »Das muss wehtun.«
Benjamin lächelte tapfer. »Sie wissen doch: Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Dort gehören ein paar Schrammen zum Alltagsgeschehen.«
»Ich werde die Wunde jetzt säubern, desinfizieren und dann nähen.«
»Hm.« Der junge Mann nickte. Unter der sportlichen Bräune war er jedoch deutlich blasser geworden. Wahrscheinlich wurde ihm jetzt erst bewusst, was nun auf ihn zukommen würde.
»Das muss ich nähen. Natürlich gebe ich dir vor der Behandlung eine lokale Betäubung«, beruhigte Matthias ihn.
Er zog die Spritze auf und sah seinen Patienten aufmunternd an. »Bereit für die große Operation?«
Sven nickte stumm, wandte den Kopf zur Seite und presste die Lippen aufeinander.
Dieses Verhalten kannte der Landdoktor von seinen anderen Patienten. Nur wenige konnten zuschauen, wenn die Nadelspitze in ihr Fleisch drang.
Mit ruhiger Hand spritzte er das Betäubungsmittel. Sven zuckte dabei noch nicht einmal zusammen.
»So, das hätten wir erst einmal«, sagte er zufrieden. »Eine Minute noch und wir können beginnen. Wie läuft es beruflich?«, erkundigte er sich.
Durch die Unterhaltung wollte er nicht nur die Wartezeit bis zur Wirkung des Medikamentes überbrücken. Vielmehr interessierte er sich für das Leben seiner Patienten. Die meisten kannte er seit vielen Jahren oder, wie Sven Scheffler, sogar seit der Kindheit. Svens Mutter stammte aus dem Ruhweiler Tal.
»Meine Ein-Mann-Werbeagentur ist bestens angelaufen«, erzählte Sven ihm nun mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. »Inzwischen bekomme ich Aufträge aus Karlsruhe, Frankfurt und sogar aus der Schweiz.« Er lächelte verlegen. »Natürlich profitiere ich auch sehr von Mutters gutem Namen in dieser Branche.«
»Das freut mich für dich. Zumal es in der heutigen Zeit nicht leicht ist, sich eine solide Geschäftsbasis zu schaffen.«
»Wenn ich Mutters Büro in der Stadt übernommen hätte, würde es vielleicht noch besser laufen, aber Sie wissen ja, mein Traum war immer, hier im Tal zu leben. Im Haus meiner Großeltern.«
»Welches du dir auch sehr schön umgebaut hast. Es ist wirklich ein Paradebeispiel dafür, was man aus einem alten Schwarzwaldhaus machen kann«, bestätigte Matthias ihm, während er nun die weit auseinander klaffende Wunde desinfizierte.
Obwohl er sich ausschließlich auf seine Arbeit konzentrierte, führte er die Unterhaltung fort. Mit ein bisschen Plaudern ließen sich die meisten Patienten von der Behandlung ablenken und waren dann ganz überrascht, wenn sie beendet war.
»Falls keine Komplikationen auftreten, werde ich in einer Woche die Fäden ziehen«, sagte er, als er den Verband anlegte. Mahnend erhob er die Stimme. »In den nächsten Tagen keine allzu langen Wanderungen mit Bosco. Die Haut über dem Schienbein ist dünn. Die Naht könnte bei zu viel Bewegung schnell wieder reißen.« Dann lächelte er den jungen Mann väterlich an. »Ich begleite dich noch hinaus. Du kannst dich auf mich stützen.«
*
Endlich hatte sie Freiburg hinter sich gelassen. Je höher sie in den Schwarzwald hinauffuhr, desto ruhiger wurde der Verkehr.
Britta Münster kannte die Gegend seit ihrer Kindheit. Wie oft hatte sie bei ihrem Onkel und dessen Frau die Schulferien verbracht. Eine warme Woge durchflutete sie beim Anblick der Landschaft, die sich vor ihr ausbreitete. Wie glänzende grüne Teppiche bedeckten saftige Wiesen die Hänge zu beiden Seiten des Ruhweiler Tales. Eingebettet in ihnen lagen stattliche Höfe mit den für den Schwarzwald so typischen tief gezogenen Schindeldächern. Sauber und aufgeräumt sahen sie aus und zeugten mit ihrer Blumenpracht von der Liebe ihrer Bewohner zur Heimat. Über ihnen erstreckten sich schwarze Wälder. Im Licht der Spätnachmittagssonne wirkten deren Wipfel wie von Gold übergossen.
Die junge Frau lächelte versonnen.
Ja, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, als sie das Erbe angenommen hatte, zu dem leider auch ein Kredit gehörte, den ihr Onkel im letzten Jahr vor seinem Tod noch aufgenommen hatte. Nun gut, den würde sie abzahlen müssen, aber das mussten andere auch, die sich mit Mitte Zwanzig selbstständig machen wollten. Wer hatte in diesem Alter schon so viel Geld auf dem Konto? Ihre Eltern konnten ihr nichts leihen. Sie hatten ihre Ersparnisse in ein Häuschen in Österreich investiert, wo sie sich vor zwei Jahren niedergelassen hatten.
Britta warf einen Blick in den Rückspiegel. Im Kofferraum ihres alten Kombis stapelten sich Farbeimer, Laminat und Tüten mit Zubehör und Werkzeugen. Sie hatte im Baumarkt in Freiburg einen Großeinkauf getätigt. Vor der Wiedereröffnung der Bäckerei standen erst einmal ein paar Renovierungsarbeiten an. In der Schweiz hatte sie vor einigen Wochen einen Handwerkerkursus gemacht. Selbst war die Frau. Das wusste sie seit langem schon. Die Männer, die sie bis jetzt kennengelernt hatte, hatten allesamt zwei linke Hände besessen.
Britta fuhr nach Ruhweiler hinein.
Die Sonne stand schon tief und ließ die Farben noch intensiver wirken, das Schwarzgrün der Tannen, das Gold des Löwenzahns, der die Wiesen wie ein Teppich bedeckte. Sie hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt, sodass die Sommerluft ins Wageninnere drang. All diese Eindrücke gaben der jungen Frau ein tiefes Glücksgefühl und die Gewissheit, dass sie genau hierhin gehörte.
*
Britta hielt vor dem Tante-Emma-Laden an, gerade noch rechtzeitig vor dessen Schließung. Von früher wusste sie jedoch, dass die alte Martha Biechle bei Verhungerten auch Ausnahmen machte oder gar noch einmal die geschnitzte Holztür aufschloss.
Die Klingel klang vertraut. Es war noch die gleiche wie früher, als sie sich als kleines Mädchen hier Süßigkeiten gekauft hatte, und immer ein süßes Extra...
| Erscheint lt. Verlag | 27.4.2022 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Der Landdoktor | Der Landdoktor |
| Verlagsort | Hamburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | Bergmann • Bergpfarrer • Bundle • Dr. Brunner • Dr. Daniel • Dr. Laurin • Dr. Norden • Landarzt • Martin Kelter Verlag • Matthias Brunner • Schwarzwald • Sonnenwinkel • Teschner |
| ISBN-13 | 9783740994655 / 9783740994655 |
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