China Brain Project (eBook)
585 Seiten
Polarise (Verlag)
978-3-947619-67-2 (ISBN)
Stephan Becher ist Elektroingenieur und promovierter Volkswirt. Nach einigen Beiträgen für Fachzeitschriften über Mikrocomputertechnik erschienen in den 1990er Jahren der dBASE-Schnellkurs und der Ratgeber Schnell und erfolgreich studieren. Vor wenigen Jahren traf er den Entschluss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Elf seiner Science-Fiction-Kurzgeschichten wurden seither in der Zeitschrift c't Magazin für Computertechnik veröffentlicht. Die Kurzgeschichte Stromsperre aus der Anthologie Rebellion in Sirius City wurde für den Deutschen Science-Fiction Preis des Jahres 2021 nominiert.
Stephan Becher ist Elektroingenieur und promovierter Volkswirt. Nach einigen Beiträgen für Fachzeitschriften über Mikrocomputertechnik erschienen in den 1990er Jahren der dBASE-Schnellkurs und der Ratgeber Schnell und erfolgreich studieren. Vor wenigen Jahren traf er den Entschluss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Elf seiner Science-Fiction-Kurzgeschichten wurden seither in der Zeitschrift c't Magazin für Computertechnik veröffentlicht. Die Kurzgeschichte Stromsperre aus der Anthologie Rebellion in Sirius City wurde für den Deutschen Science-Fiction Preis des Jahres 2021 nominiert.
1
»Wegen der Höhe Ihres Gehalts brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Ich verspreche Ihnen, Sie werden vollauf zufrieden sein.«
Die junge Frau im Bildschirmfenster zauberte mit einem Lächeln Grübchen in ihr Gesicht. Das locker herabfallende schwarze Haar bildete zusammen mit den dunklen Augen und den grellrot geschminkten Lippen einen starken Kontrast zu ihrem blassen, schmalen Gesicht. Sie sah vollkommen anders aus als die chinesischen Nachrichtensprecherinnen, wenn sie ihre Propagandabotschaften über der Menschheit ausschütteten. Sū Yànméi hieß sie, wie Jesper von der neben dem Kamerabild eingeblendeten elektronischen Visitenkarte ablas. Ihr Englisch war nahezu akzentfrei, soweit er das beurteilen konnte.
»Außerdem gibt es in China seit achtzehn Jahren keine Einkommensteuer und keine Sozialabgaben mehr, wie Ihnen möglicherweise bekannt ist.«
Sie schien ihm direkt in die Augen zu sehen. Entweder hatte sie sich angewöhnt, stets die Kameralinse zu fixieren, oder sie saß einer 3D-Kamera gegenüber, die ihre Blickrichtung anpasste, damit dieser Eindruck entstand. War sie überhaupt echt? Ihr Bild konnte ebenso gut ein Avatar sein, der Gestik, Mimik, Ausdrucksweise und Betonung von Jespers wahrer Gesprächspartnerin nachahmte. Vielleicht saß am anderen Ende der Leitung auch gar keine junge Frau, sondern ein ergrauter Botschaftsangestellter, dem ein Stück Software ein ansprechenderes Äußeres und eine dazu passende Stimme verlieh. Oder redete er gar seit zehn Minuten mit einer KI, ohne es zu merken? So etwas war den Chinesen zuzutrauen. Doch was spielte das für eine Rolle? Für ihn ging es hauptsächlich darum, nach der Einstellung des Human Brain Projects, dem sich Norwegen erst vor wenigen Jahren angeschlossen hatte, eine neue Herausforderung zu finden.
»Herr Sandvik?«
»Soweit ich weiß, ist die Leitung verschlüsselt.«
»Wir möchten sichergehen, dass Sie an unserem Angebot interessiert sind, ehe wir Ihnen die genauen Konditionen nennen. Es soll nicht bekannt werden, wie viel uns Ihre Mitarbeit wert ist.«
Seit das Aus für das HBP feststand, hatte Jesper Dutzende von Bewerbungen an Forschungsinstitute und IT-Unternehmen zwischen Fredrikstad und Tromsø geschickt. Einige hatten es nicht für nötig erachtet, ihm eine Absage zu erteilen. Niemand hatte ihn zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Es schmeichelte ihm, auf einmal derart umworben zu werden, wenn auch von unerwarteter Seite.
»Ehrlich gesagt, ich bin von Ihrem Angebot überrascht.«
»Sie brauchen sich nicht sofort zu entscheiden. Es ist verständlich, dass Sie zunächst darüber nachdenken wollen.«
Wieder dieses zauberhafte Lächeln. Es stimmte, dass das HBP in eine Sackgasse geraten war. Die zum Simulieren eines menschlichen Gehirns erforderliche Rechenleistung war um Größenordnungen höher als diejenige, die gegenwärtig zur Verfügung stand. Ein Ausbau des Superrechners hier an der Technischen Universität Trondheim, der mit billigem Strom aus Wasserkraft betrieben und vom Europäischen Nordmeer gekühlt wurde, wäre kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Allein die Quantencomputer-Technologie hätte einen Ausweg geboten. Doch als sich abzeichnete, dass weder Europa noch die USA in absehbarer Zeit brauchbare Quantencomputer bauen würden, hatte die EU die Reißleine gezogen – fünf Jahre nachdem die Amerikaner ihrer BRAIN Initiative den Todesstoß versetzt und die im Projekt gebundene Rechenleistung anderen Zwecken zugeführt hatten.
Und nun kamen ausgerechnet die Chinesen auf ihn zu. Ihre Quantencomputer, so hieß es, würden klassische Superrechner auf einer wachsenden Zahl von Anwendungsgebieten verdrängen. Ärgerlicherweise behielten sie diese Schlüsseltechnologie für sich. Kein chinesischer Quantencomputer war jemals über die Landesgrenzen gebracht worden. Sie waren auch nicht bereit, die gewaltige Rechenleistung der Quantencomputer für wissenschaftliche Zwecke wie die des HBP zu vermieten. Von Patenten hielten sie traditionell nichts. Statt Lizenzgebühren einzustreichen, erklärten sie ihre Forschungsergebnisse zu Staatsgeheimnissen und verhängten Exportverbote.
Aufgrund ihres technologischen Vorsprungs besaßen chinesische Unternehmen uneinholbare Wettbewerbsvorteile. Mithilfe von Quantencomputern trieben sie die Leistung künstlicher Intelligenzen in bislang unerreichte Dimensionen. Dabei ging es nicht bloß um Klima- und Wettersimulationen, um Dolmetscher- und Übersetzerdienste oder um Überwachungsmaßnahmen. Sobald die Chinesen begannen, ihren KIs Kreativität zu verleihen und sie für Forschungsvorhaben einzusetzen, konnten die Wissenschaftler im Rest der Welt einpacken. Die Situation war so, als ob ein Marathonläufer unterwegs in einen Rennwagen umsteigen und den anderen Läufern davonbrausen würde, ohne disqualifiziert zu werden.
Die westliche KI-Forschung hinkte der chinesischen gleichfalls um Jahre hinterher. Lediglich auf dem Gebiet der Gehirnforschung waren Europa und die USA dank des HBP und der BRAIN Initiative führend. Aber das nur, weil die Chinesen daran kein Interesse zu haben schienen. Zumindest war Jesper davon nichts bekannt.
»Wie sind Sie auf mich gekommen?«, wollte er wissen.
»Selbstverständlich haben wir andere Kandidaten ebenso ins Auge gefasst. Aber wir sind überzeugt, dass gerade Sie die Simulation eines menschlichen Gehirns auf einem unserer Quantencomputer entscheidend voranbringen können.«
Offenbar hatten die Chinesen erfahren, dass er derjenige war, von dem die Quantenalgorithmen für die Simulation neuronaler Netzwerke stammten. In den Veröffentlichungen von Professor Ødegård hatte sein Name nie an erster Stelle gestanden. Nun gut, er hatte die Artikel ja auch nicht verfasst. Er hasste es, seine Algorithmen haarklein dokumentieren zu müssen. Was konnte er schon dafür, dass niemand seinen Erklärungen folgen konnte? Ødegård hatte sich immerhin bemüht, seine Gedankengänge nachzuvollziehen.
Der leistungsfähigste Quantencomputer, mit dem er bisher hatte arbeiten dürfen, hatte gut zwei Millionen Qubits gehabt. Das hatte ausgereicht, um dreiunddreißigtausend kortikale Säulen parallel in Echtzeit zu simulieren. Sinnvolle Tests waren allerdings nicht möglich gewesen, weil die Kohärenz trotz Fehlerkorrektur spätestens nach sechzig Millisekunden zusammengebrochen war. Es war eben bloß ein Prototyp gewesen. Der klassische Superrechner in Trondheim schaffte in Echtzeit zweitausendfünfhundert kortikale Säulen. Um vollständige Gehirnareale auf ihm zu simulieren, musste man die Echtzeit-Forderung fallenlassen.
»Wie viele Qubits haben aktuelle chinesische Quantencomputer?«
Sū Yànméis Augenlider flatterten. »Qubits? Das sind diese Einheiten, mit denen die Leistung von Quantencomputern gemessen wird, nicht wahr?«
»Ja.« Ganz richtig war das nicht, aber wenigstens kannte sie den Begriff.
»Es tut mir leid. Ich glaube nicht, dass ich auf solche Informationen zugreifen darf. Ich weiß nur, dass ein moderner Quantencomputer genug Rechenleistung für die Simulation eines menschlichen Gehirns bereitstellt.«
Eine interessante Aussage. Ließ sich die benötigte Rechenleistung tatsächlich abschätzen? Oder waren die chinesischen Quantencomputer so leistungsstark, dass sich die Frage gar nicht stellte? Nach der Kohärenzzeit brauchte er seine Gesprächspartnerin nicht zu fragen. Von Konstruktionsdetails und Algorithmen dürfte sie erst recht nichts verstehen.
In den vergangenen Jahren hatte er immer wieder versucht, mehr über die chinesischen Quantencomputer herauszubekommen. Doch die Chinesen hielten alles unter Verschluss. Sich an den Firewalls vorbei ins Zhōngguówăng – die chinesische Variante des Internets – und weiter zu den interessanten Informationsquellen zu hacken, hatte er irgendwann aufgegeben. Er wusste ohnehin wenig darüber, was in China vor sich ging.
»China möchte also in die Gehirnforschung einsteigen«, fasste er zusammen. »Und die Erkenntnisse des Human Brain Projects sollen dafür die Grundlage bilden.«
»Fänden Sie es nicht auch bedauerlich, wenn diese Erkenntnisse ungenutzt blieben?« Sie neigte den Kopf zur Seite und deutete ein Lächeln an. »Bei uns könnten Sie sich gänzlich auf die Forschung konzentrieren. Sie brauchten nicht wochenlang auf die Genehmigung eines Antrags auf Überlassung eines Quantencomputer-Prototyps oder auf eine neue Tastatur zu warten. Alles, was Sie brauchen, wird unverzüglich beschafft.«
Woher wusste sie von der Tastatur-Geschichte? Jesper hatte volle zwei Wochen mit einer Tastatur arbeiten müssen, bei der die Kappe der Escape-Taste abgebrochen war. Das sei nicht weiter schlimm, hatte Professor Ødegård behauptet und ihm...
| Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | Hamburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | augmented reality • China • Forschung • Gehirnforschung • Google Glasses • Mindupload • MRT • Neuronales Netz • Sozialkreditsystem • Supercomputer • Überwachung |
| ISBN-10 | 3-947619-67-7 / 3947619677 |
| ISBN-13 | 978-3-947619-67-2 / 9783947619672 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich