Wo Himmel und Meer sich berühren (eBook)
304 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0372-6 (ISBN)
Eine Insel der Hoffnung in dunklen Zeiten
Rügen 1945: Der Krieg ist gerade erst vorbei, und nach einer langen, beschwerlichen Flucht aus den Ostgebieten hat Edith die Insel Rügen erreicht. Hier hofft sie, endlich wieder anzukommen und glücklich zu werden. Doch für Edith fühlt sich das unbekannte Eiland an wie ein Gefängnis, umschlossen vom Meer und so fern von ihrer Heimat - bis sie Alma kennenlernt, die auf Rügen geboren ist, und mit der Edith lernt, die Welt mit neuen Augen zu sehen.
<p>Kathleen Freitag, geboren in Berlin, arbeitete nach ihrem Studium der Germanistik, Geschichte und Politik als Dramaturgin, verfasste Drehbücher u.a. für die ARD-Erfolgsserie 'In aller Freundschaft' und war als Lektorin tätig. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg und schreibt mit Begeisterung als freiberufliche Autorin Geschichten für Kinder und Erwachsene. 'Die Seebadvilla' ist ihr erster Roman.</p>
Edith
Ende Juni 1945
Vorsichtig setzte Edith einen Fuß vor den anderen. Durch die Lücken im Boden der nur notdürftig reparierten Ziegelgrabenbrücke, die in den letzten Kriegstagen von zerstörungswütigen Wehrmachtsoffizieren gesprengt worden war, konnte sie das Wasser sehen. Beinahe geruhsam floss es an den breiten Betonpfeilern des Rügendamms vorbei. Nur hin und wieder bäumte sich eine vorwitzige Welle auf, kräuselte kurz ihr Haupt, bevor sie mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit ins tiefe Blau zurücktauchte, als wäre nichts gewesen. Dennoch flößte Edith der Anblick des Wassers unter ihren Füßen ein wenig Angst ein, konnte sie doch nicht schwimmen.
Obwohl die Sonne an diesem sommerlichen Tag hell schien, wurde es immer kühler, je weiter sie auf die beinahe endlos erscheinende Brücke trat. Ungeniert kroch der Wind unter Ediths Baumwollkleid, das befleckt und am Saum eingerissen nur noch wie ein alter Feudel an ihrem Körper hing. Kaum zu glauben, dass sie in diesem Kleid noch im letzten Jahr den Sonntagsgottesdienst besucht hatte. Doch den Glauben an Gott hatte sie längst verloren, genauso wie all ihre schönen Kleider, die sie so gemocht hatte. Lediglich einen kleinen Lederkoffer mit ein paar Fotos, Dokumenten, etwas Geld und wenigen Erinnerungsstücken, die sie und ihre Schwester Esther bei ihrem überstürzten Aufbruch in Groß Spiegel schnell noch zusammengepackt hatten, trug sie bei sich. An ein Stück Seife oder gar frische Unterwäsche hatte jedoch in der Eile keine von beiden gedacht, was Edith nun bitter bereute.
Sie sprang über ein besonders großes Loch im Boden. Dabei verlor sie beinahe ihren rechten Schuh, der ihr viel zu groß war. Die schwarzen, klobigen Stiefel hatte Edith noch in Hinterpommern einem Mann ausgezogen, der wie friedlich schlummernd am Straßenrand gelegen hatte, während der endlos wirkende Menschentreck an ihm vorbeigezogen war. Zumindest hatte sie sich eingeredet, dass der Mann sich nur mal eben kurz von der langen Reise ausruhte, als sie ihm das grobe Leder von den kalten Knöcheln gezogen hatte. Ihm waren die Schuhe ebenso zu groß gewesen. Vermutlich weil auch er die Stiefel nur jemandem von den Füßen geklaut hatte, der den Strapazen der Flucht zum Opfer gefallen war.
Jeder Meter, den sie sich in diesen Stiefeln von ihrer Heimat entfernt hatte, hatte nicht nur ihren Füßen Schmerzen bereitet, sondern auch ihrem Herzen. Wie viele Meter oder, besser gesagt, Kilometer es nun waren, konnte sie nicht mit Gewissheit sagen. Ihr Gefühl für Entfernungen hatte sie bereits kurz hinter der Kreisstadt Dramburg verloren.
Als sie die Hälfte der Brücke passiert hatte, drehte Edith sich noch einmal um. Stralsund war noch gut zu sehen, auch wenn die alte Hansestadt beinahe vollständig in Trümmern lag. Nur die Kirchtürme ragten wie Mahnmale eines an Barbarei seinesgleichen suchenden Krieges empor. Und obwohl so gut wie kein Ziegel mehr über dem anderen lag, platzte die Stadt aus allen Nähten. Flüchtende aus dem Osten, Frontrückkehrer, Überlebende der Konzentrationslager, von denen Edith gehört hatte, und Familien, die ihr Hab und Gut verloren hatten, strömten seit Wochen durch die sowjetisch besetzten Straßen auf der Suche nach einem neuen Zuhause oder wenigstens nach einem Stück Brot und einem halbwegs dichten Dach über dem Kopf.
Auch Edith hatte nach ihrem dreiwöchigen Fußmarsch dort ein paar Wochen in einem Aufnahmelager verbracht. Nun, nachdem sie offiziell als Vertriebene registriert, entlaust und etwas zu Kräften gekommen war, konnte sie weiterziehen. Weiter auf die Insel Rügen, wo sie nicht unbedingt auf einen Neuanfang hoffte. Aber vielleicht auf ein bisschen Frieden und ein kleines Wunder.
Sie wandte sich vom Festland ab und lief weiter, vorsichtig, um nicht doch noch zu stürzen. Am Horizont konnte sie bereits die ersten Häuser der Insel sehen.
Gut einen halben Tag lief Edith auf der Insel über schmale eichengesäumte Landstraßen, wurzeldurchzogene Waldwege und gepflasterte Dorfstraßen. Sie folgte der Wegbeschreibung, die man ihr im Lager auf einen kleinen Zettel gekritzelt hatte.
Während Edith jedoch beinahe stumpf einen Fuß vor den anderen setzte, begann die dicke Wundblase, die sie sich bei der Flucht zugezogen hatte und die im Lager fast verheilt gewesen war, wieder unangenehm unter ihrer linken Ferse zu pochen. Außerdem wurde sie immer hungriger. Die kleinen Pfifferlinge, die sie am Waldrand fand und die sie sich trotz ihres rohen Zustands sogleich hastig in ihren Mund steckte, vermochten das Loch in ihrem Bauch nicht zu stopfen.
Ohnehin wusste sie nicht mehr, wie sich ein gesättigter Magen anfühlte. Dass sie eine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatte, war Monate her. Damals war ihre Mutter noch am Leben gewesen, hatte mit Rosinen gefüllte Tollatschen gemacht, die sie mit Buttermilchkartoffeln fast feierlich serviert hatte. Edith hatte die getrockneten Früchte aus den aus Mehl und Schweineblut geformten Klößen herausgepickt. Nun würde sie alles dafür geben, wenn sie wenigstens die klebrig-süßen Schrumpelerbsen, wie ihre Schwester die Rosinen immer genannt hatte, zum Naschen dabeihätte.
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits weit überschritten, als sie Wrede an der östlichen Küste der Insel endlich erreichte. Sie war noch nie hier gewesen, und doch kam es ihr so vor, als kannte sie diesen Ort. Als Kind hatte ihre Mutter hier mehrere Sommer verbracht. Abends vor dem Zubettgehen hatte sie ihren Töchtern oft von ebendiesen Ferien erzählt. Und von der Insel. Von dem nach Sehnsucht duftenden Meer, den einfachen, aber freundlichen Menschen und der Landschaft, die so ebenmäßig und friedlich und doch gleichzeitig so rau, kantig und ungestüm war. Sie hatte immer versprochen, ihren Töchtern eines Tages den kleinen Küstenort sowie die Insel zu zeigen. Doch dann kam der Krieg und ohnehin alles anders.
Edith trat auf die grob gepflasterte Straße, die sich wie eine pulsierende Lebensader durch das Dorf zog. Sie war überrascht, wie belebt der kleine Ort war. Und wie unbeschwert die Menschen wirkten.
Auf den Gehweg waren mit weißer Kreide Hickelkästchen gemalt. Leichtfüßig hopsten Kinder von Feld zu Feld und lachten ausgelassen, wenn eines von ihnen auf einen Strich oder gar auf das zuvor mit einem Kieselstein markierte Feld trat. Ein paar Halbwüchsige kickten einen Lederball, der zwar nicht mehr ganz rund und prall war, aber dennoch mit Karacho quer über die Straße flog und beinahe eine Gruppe tratschender Frauen traf. Diese zogen wütend ihre mit Kopftüchern halb verdeckten Stirnen kraus und schimpften lautstark in Richtung der Flegel. Aus den Häusern lehnten sich die Alten auf den mit einem Kissen gepolsterten Fenstersimsen hinaus und schauten dem Treiben zu. Der ein oder andere paffte dabei sogar eine Pfeife, wie Edith verblüfft feststellte.
Der Krieg, dessen Ende gerade erst vor gut sieben Wochen durch die Kapitulation der Deutschen vor den vier Siegermächten besiegelt worden war, schien in Wrede kein allzu großes Unheil angerichtet zu haben. Zwar hatte der grau-braune Putz an den Fassaden der Häuser sicherlich schon bessere Tage gesehen, die Auslage des kleinen Kaufmannsladens war mehr als spärlich bestückt, und es waren so gut wie keine jungen Männer unterwegs. Doch von den Narben der Bombenangriffe und Frontbewegungen, die die Städte und Gemeinden andernorts zutiefst erschüttert hatten, war hier nichts zu sehen. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Zumindest auf den ersten Blick.
Edith sah sich aufmerksam um, während sie die Straße weiterging. Sie lief an einem Wirtshaus vorbei, einer Bäckerei, vor deren Tür einige Leute anstanden, einem Schusterladen und der kleinen Dorfschule, die noch geschlossen war. Edith passierte auch das Rathaus, aus dessen Fenstern die roten Sowjetfahnen mit dem Hammer, der Sichel und dem gelben Stern wehten.
Als Edith an einem kleinen gepflasterten Platz vorbeikam, fiel ihr Blick auf einen Springbrunnen, durch dessen entenförmigen Speier jedoch schon lange kein Wasser mehr gesprudelt war. Ein paar Kinder warfen Steine ins Wasserbecken, in dem nur noch eine grünlich getrübte Pfütze schwamm.
Auf den Stufen vor dem Brunnen saßen drei junge Frauen. Zwei von ihnen hatten blonde Haare, die dritte war dunkelhaarig und hatte auffällig grüne Augen. Ihre Kleider waren schlicht, aber sauber, die praktischen Flechtfrisuren ordentlich zurechtgemacht. Ihre Wangen hatten einen zarten roséfarbenen Ton.
Ediths Haut hingegen fühlte sich von der Sonne und vom Wetter ganz trocken an. In einen Spiegel hatte sie seit geraumer Zeit nicht mehr geblickt. Aber vermutlich wies sie keine so gesunde Gesichtsfarbe auf. Zudem waren die Hüften der Mädchen wesentlich properer als die ihrige. Ganz unwillkürlich strich Edith sich über ihr beschmutztes Kleid, das auch einmal enger gesessen hatte.
Sie spürte, wie die drei Augenpaare auf ihr ruhten, als sie am Brunnen vorbeiging. Das Gespräch verstummte kurz. Für einen Moment sah Edith auf. Die Blicke waren getränkt von Skepsis und Argwohn. Doch auch eine gewisse Spur schamlose Neugier war darin zu finden, was Edith als noch unangenehmer empfand.
Nur die Frau mit den grünen Augen wirkte irgendwie abwesend, folgte der Inaugenscheinnahme der Fremden nur halbherzig. Zügig ging Edith an ihnen vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Edith verließ den Ort und folgte der Dorfstraße noch ein gutes Stück, als hinter einer schmalen Biegung ein Haus auftauchte, das größer war als alle anderen Gebäude in Wrede. Die Mauern waren weiß verputzt, dunkle Holzbalken umrahmten die Fenster. An der linken Ecke des Hauses kletterte der Efeu hinauf, streckte seine langen,...
| Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
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| ISBN-10 | 3-7499-0372-7 / 3749903727 |
| ISBN-13 | 978-3-7499-0372-6 / 9783749903726 |
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