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Die Lüge (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
384 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01379-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Lüge -  Mikita Franko
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Ein virtuoser Roman über einen Jungen, der in Russland bei einem homosexuellen Paar aufwächst Mikita wird nach dem Tod seiner Mutter von ihrem Bruder adoptiert, er ist fünf Jahre alt. Mit Slawa und dessen Partner Lew genießt er eine fröhliche Kindheit. Aber mit der Einschulung beginnt das Versteckspiel, das Lügen. Wenn Besuch kommt, müssen Fotos weggeräumt, in Aufsätzen müssen Dinge verschwiegen oder erfunden werden, und Mikita schlagen Vorurteile entgegen. Er verliert seinen Frohsinn, wird wütend, aggressiv, depressiv. Erst die Freundschaft mit einem Jungen aus dem Waisenhaus beruhigt ihn. Und dann merkt er, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt. Ausgerechnet! Er beschuldigt sich, zum Beweis für die Propaganda geworden zu sein, die behauptet, gleichgeschlechtliche Paare würden homosexuelle Kinder großziehen. All seine Versuche, sich in Mädchen zu verlieben, scheitern. Es wird noch dauern, bis Mikita Frieden mit sich selbst und seiner Sexualität findet.  Die Lüge ist ein ausgesprochen unterhaltsames Debüt, schnörkellos und am Puls der Zeit.

Mikita Franko wurde 1997 in Pawlodar, Kasachstan, in eine Familie geboren, die seit Generationen Ärzte hervorbringt. Im Alter von drei Jahren hat er lesen gelernt, mit vier schreiben. Seither liest und schreibt er. Franko hat das Medizinstudium schnell an den Nagel gehängt und versteht sich als Akyn, als einen kasachischen Volksdichter, der politische Themen verhandelt. Er sagt von sich selbst, er ertrage keine Langeweile, was ihn zwinge, sich dauernd etwas einfallen zu lassen. Er schreibt über alles, was er sieht. Zurzeit lebt Mikita Franko in Moskau.

Mikita Franko wurde 1997 in Pawlodar, Kasachstan, in eine Familie geboren, die seit Generationen Ärzte hervorbringt. Im Alter von drei Jahren hat er lesen gelernt, mit vier schreiben. Seither liest und schreibt er. Franko hat das Medizinstudium schnell an den Nagel gehängt und versteht sich als Akyn, als einen kasachischen Volksdichter, der politische Themen verhandelt. Er sagt von sich selbst, er ertrage keine Langeweile, was ihn zwinge, sich dauernd etwas einfallen zu lassen. Er schreibt über alles, was er sieht. Zurzeit lebt Mikita Franko in Moskau.

Cover
Verlagslogo
Titelseite
Wie alles begann
Die Kunst, ein guter Mensch zu sein, und viele andere Künste
Ein ehrliches Gespräch
Superman
Erste Lektionen in Vorsicht
Fünfzig Tränen
Die Einschulung
Ein Aufsatz zum Thema »Meine Familie«
Draculie – der gruftstarke Vampir
Wie Anton auf das Eis gefallen ist
Valentinskärtchen, Panzer und Mädchen
Mister Achtjähriger
Ein echter Streit
Ein Spaziergang im Regen
Spannungen
»Ich hab dich lieb«
Der Sozialisierungsfachmann
Der Kuss in der Kirche
Wie Spongebob und Plankton aus dem Fernseher kamen
Familienfreundschaften
Drei ist einer zu viel
Die Blumen des Lebens
Dieses dumme Alter
Zehn Jahre
Vergeltung
Dreckskerl
Jarik
Klassenkonferenz
Idiot
In vino veritas
Starker Tee
Die beste Entscheidung
Wie ich den Sommer verbracht habe
Ein Messer und Aspirin
Nehmt mich mit
Jemandem geht's schlecht
Mausefalle
Erwachsene Entscheidungen
Probezeit
Ein Piano im Busch
Der Nanny
Stolz
It's okay
Luftleerer Raum
Unwürdig
Gebrandmarkt
Bluff
Heißes Wasser
Zuhause
Epilog
Biographien
Impressum

Die Kunst, ein guter Mensch zu sein, und viele andere Künste


Seitdem lebten wir zu dritt. Aber das klingt besser, als es tatsächlich war. Ich hatte mit Slawa zu tun, Lew hatte mit Slawa zu tun und Slawa mit uns beiden, während Lew und ich überhaupt nicht miteinander interagierten. Ich hatte nichts gegen Lew, ich wusste einfach nicht, worüber ich mit ihm reden sollte.

Als Grafikdesigner und Künstlernatur schlechthin konnte Slawa mir vieles zeigen und erzählen. Zum Beispiel brachte er mir bei, ein proportionales Gesicht zu zeichnen. Ich gliederte mein schiefes Oval nach allen Regeln der akademischen Zeichenkunst, nur wurde meine Kaulquappe einem Menschen dadurch auch nicht ähnlicher. Trotzdem lobte Slawa meine Zeichnungen enthusiastisch, obwohl klar war, dass es längst nicht nur daran scheiterte, dass das von mir gezeichnete Wesen zwei linke Hände hatte wie ich.

Außerdem hatte er ein altes Grammofon und einen Haufen Platten aus den Sechzigern bis Achtzigern. Er legte mir die Beatles, Queen, Led Zeppelin, David Bowie und seine heiß geliebte Montserrat Caballé auf. Die gefiel mir gar nicht, und ich nörgelte: »Leg die Platte nicht auf, die jault da so.«

»Na, werd hier mal nicht blasphemisch«, sagte Slawa.

Ich verstand zwar nicht, was ich nicht werden sollte, aber spürte, dass ich etwas Falsches gesagt hatte.

Slawa fragte: »Welche Songs magst du am liebsten?«

Ich zeigte auf die Queen-Platte, und mein Onkel grinste breit.

»Gleich wirst du auch Montserrat mögen, mein Freund.«

Er kramte eine Platte hervor, die er mir noch nie vorgespielt hatte. Barcelona stand darauf. Das erfuhr ich aber erst später, als ich Englisch lesen lernte, mit fünf konnte ich sie nur unverständig anstarren.

Der Anfang des Liedes klang weihnachtlich, aber bald wurde die einfache Musik erhaben, dann wieder leise. Und plötzlich: eine klare Männerstimme, die ich schon von anderen Schallplatten kannte: Queen. Erst danach erklang die Stimme dieser Frau, die mir auf einmal gar nicht mehr nervig vorkam. Ich hielt die Luft an, aber das war nur die Spitze des Eisbergs, nur die ersten schwachen Regungen von Gefühlen, die mir bis dahin völlig unbekannt gewesen waren. Die Explosion in meiner Brust kam etwas später, als ihre Stimmen sich vereinten. Ich verstand nicht, was mit mir passierte. Warum zitterte ich von einem Lied?

Ich hob den Blick zu Slawa.

»Was ist das?«

»Kunst.«

Von Slawa lernte ich, dass Kunst unendlich viele Formen haben kann. Und dass man nicht nur wegen Musik zittern konnte. Man konnte vor Bildern erstarren, bei Filmen weinen, bei Musicals lachen. Wir gingen zusammen in Museen, ins Theater, in die Oper, ins Ballett. Und überall wurden wir schief angeguckt.

Zum einen, weil die anderen Besucher (vor allem die im Theater) fanden, dass kleine Kinder in Vorstellungen wie Hühnchen Rjaba gehörten und ich ein Ballett wie Don Quichote nicht verstehen würde. Außerdem befürchteten sie, dass ich in den heiligen Minuten, wenn sie gerade in der Kunst aufgingen, Krach machen würde oder aufs Klo müsste. Aber ich hielt alle drei Akte durch, ohne einen Mucks.

Zum anderen wegen Slawa. Man liegt falsch, wenn man annimmt, dass Slawa bei unseren Veranstaltungen der Hochkultur auch hochkultiviert aussah. Jeder einzelnen ging eine Diskussion mit Lew voraus.

»Kannst du nicht wenigstens irgendwas ohne Löcher anziehen?«, fragte Lew.

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Wir gehen ins Theater.«

»Darin sehe ich noch keinen Grund, mich umzuziehen.«

Sie stritten, bis die Zeit knapp wurde. Lew verdrehte die Augen, Slawa blieb stur wie ein Esel. Ich langweilte mich im Flur – übrigens angezogen »wie es sich gehört«.

Lew sah jeden Tag so aus, als wollte er ins Theater. Immer schneeweiße Hemden, im Alltag mit Krawatte, bei festlichen Anlässen mit Fliege. Ein Theaterbesuch fiel in die zweite Kategorie. Und immer Anzug: schwarz oder dunkelgrau (»bloß keine Streifen, Karos oder Muster«). Lews Aussehen passte perfekt zu seinem Namen, wie ich fand. Fehlten nur noch Stock, Bart und Schriftstellerberuf.

Obwohl sein echter Beruf auch kaum ernster sein konnte: Lew war Intensivmediziner.

Damals hörte ich die beiden oft hinter der Tür streiten (liebe Erwachsene, ihr solltet Türen nicht überbewerten).

»Du versuchst gar nicht, ein Verhältnis zu ihm aufzubauen«, sagte Slawa in gereiztem Flüsterton.

»Tut mir leid, ich Banause habe keinen Zugang zu eurer hohen Welt der Kunst.«

»Was hat das mit Kunst zu tun? Sprich über irgendwas mit ihm, womit du dich auskennst.«

»Worüber? Kardiopulmonale Reanimation?«

»Von mir aus, hör nur mit dem Schweigen auf.«

Lew sprach nicht über kardiopulmonale Reanimation mit mir, weder an diesem noch am nächsten Tag. Und ich hatte auch nichts, worüber ich mit ihm reden wollte, aber Slawa machte sich Sorgen – das konnte sogar ich sehen.

Als Lew bei der Arbeit war und wir allein zu Mittag aßen, fragte ich ihn: »Warum willst du unbedingt, dass ich mich mit deinem Freund verstehe?«

Slawa war sichtlich irritiert, und seine Antwort klang nicht sehr überzeugend: »Weil wir zu dritt in einer Wohnung leben, da wäre es gut, wenn alle miteinander auskommen.«

»Ist das etwa für immer?«

Ich war enttäuscht. Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, das Ganze wäre ein vorübergehender Zustand, früher war da auch kein Lew gewesen in Slawas Wohnung.

»Ja, für immer.«

»Wieso? Hat der kein eigenes Zuhause?«

»Das ist sein Zuhause.«

»Das ist dein …«

»Das ist sein Zuhause«, unterbrach mich Slawa scharf.

So einen eisernen Ton kannte ich von ihm nicht, komischerweise wollte ich davon weinen. Mir traten sogar schon Tränen in die Augen, aber Slawa ließ sich davon nicht beeindrucken, er beharrte auf seiner Position: »Das ist unser Zuhause. Meins, deins und seins. Unsers.«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Außerdem hatte ich Angst, dass dieser eiserne Ton wiederkommen würde, sobald ich etwas sagte.

Ich schluckte meine Tränen runter und presste trotzdem hervor: »Früher hast nur du hier gewohnt.«

»Das stimmt nicht, er hat früher auch schon hier gewohnt.«

»Gar nicht wahr«, sagte ich beleidigt. »Wenn ich hier war, war er nie da. Nie.«

Slawa hörte auf zu essen, legte die Gabel weg. Eine Weile schwieg er, dann sagte er ruhig, gefasster als zuvor: »Ich wollte dich nicht zusätzlich stressen, weißt du? Du warst auch so schon aus deinem gewohnten Umfeld rausgerissen und hast dir Sorgen gemacht wegen Mama.«

»Hab ich gar nicht.«

»Doch, hast du, Miki, auch wenn es dir heute vielleicht anders vorkommt.«

In Wirklichkeit wusste ich nicht, ob ich mir Sorgen gemacht hatte oder nicht. Es fiel mir schwer, meine Gefühle von damals eindeutig zu benennen. Aber einfach weil ich nicht wollte, dass er das letzte Wort behält, sagte ich noch mal: »Hab ich nicht …«

Slawa seufzte schwer. Bis wir mit dem Mittagessen fertig waren, schwiegen wir.

Ich kann nicht behaupten, dass ich grundsätzlich etwas gegen Lew gehabt hätte. Heute würde ich sagen, dass ich mich unwohl gefühlt habe, so eng mit einem fremden Menschen zusammenzuwohnen. Das kennt vermutlich jeder, der seinen engsten Raum einmal mit Außenstehenden oder entfernten Verwandten teilen musste.

Außerdem hatten wir überhaupt keine Berührungspunkte. Höchstens, dass wir beide gerne lasen. Aber ich las Cipollino und er Bulgakow.

Zu allem Überfluss war es auch noch Lew, der einführte, was ich am meisten hasste: einen festen Tagesablauf. Ich musste immer zur selben Zeit aufstehen, essen und schlafen. Um zehn ins Bett zu gehen war das Allerschlimmste, aber Slawa meinte: »Das ist noch human.« Als wir zu zweit gewohnt hatten, haben wir bis in die Morgenstunden Die Simpsons und South Park geschaut – da war nichts von wegen Tagesablauf. Aber seit wir so zusammenlebten, war alles anders, ernster. Keine Trickfilme, in denen geflucht wurde, keine durchgemachten Nächte und keine Cornflakes zum Abendessen.

Ich fragte mich, ob ich meine Entscheidung nicht noch mal überdenken und doch zu Großmutter ziehen sollte. Aber die würde sicher auch keine Cornflakes mit mir essen oder Die Simpsons schauen, es hatte also keinen Sinn.

Ein paarmal las Lew mir abends vor, absolut talentfrei. Ich schlief nur vor Langeweile ein, und Slawa im Nebenzimmer gleich mit. Am Morgen zog er Lew damit auf: »Wie schaffst du es nur, Buratino vorzulesen, dass es wie ein Lehrbuch über Quantenphysik klingt …«

Lew reagierte genervt: »Ich hab dir doch gesagt, ich kann das nicht.«

Ich spürte damals schon, dass sich dieses »nicht können« auf mehr als das Märchenvorlesen bezog.

Mit Slawa war alles einfacher: Er erzählte mir Sachen über Künstler, Musiker und Schriftsteller, brachte mir Zeichnen bei, legte Platten auf, und ich mochte alles davon.

An einem dieser Tage, als wir neben dem Grammofon auf dem Boden lagen, fragte ich ihn, wie diese Menschen solche Meisterwerke schaffen konnten.

»Sie haben Talent«, erklärte Slawa.

»Hab ich auch Talent?«

»Ich denke, jeder Mensch hat irgendein Talent.«

»Und was hab ich für eins?«

»Das weiß ich noch nicht.« Slawa tippte mir auf die Nase. »Aber mach dir keine Sorgen. Ein Talent zeigt sich immer irgendwann.«

»Hast du auch eins?«, ließ ich nicht locker.

»Ja. Ich zeichne.«

»Und hat Lew auch eins?«, ich grinste selbstzufrieden, weil ich mir sicher war, Slawa erwischt zu haben. Lew war...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2022
Übersetzer Maria Rajer
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufwachsen • Autofiktion • Booktok • BookTok Germany • Coming-of-age • Coming-out • Debütroman • Depression • Ehe • Entwicklungsroman • Familie • Familiengeschichte • Familienroman • Familienromane • Freundschaft • gay • Gegenwartsroman • Homosexualität • Jugend • Jugendroman • Jungsfreundschaft • Kindheit • LGBTQ • Liebesgeschichte • Moskau • Provinz • Russland • Schwul • Selbstbefreiung • TikTok • TikTokBooks • TikTok Germany • Vater • Vaterschaft • Vater-Sohn • Verzweiflung
ISBN-10 3-455-01379-1 / 3455013791
ISBN-13 978-3-455-01379-5 / 9783455013795
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