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Martin Walser (eBook)

Der Romantiker vom Bodensee

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
304 Seiten
wbg Theiss (Verlag)
9783806243758 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Martin Walser - Jochen Hieber
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Zeitgenosse, Essayist und Publizist: Lebenswerk eines deutschen Schriftstellers Martin Walsers schriftstellerische Tätigkeit begann 1949 mit Beiträgen in der Frankfurter Rundschau und der Mainzer Allgemeinen. Seither kamen etwa 14 000 Seiten an Texten aller Art hinzu. Der Sachbuchautor und Journalist Jochen Hieber, 1983-2016 Feuilleton-Redakteur der FAZ, zieht nach über siebzig Schriftstellerjahren Walsers ein Resümee zu Tätigkeit und Biografie des 'Romantikers vom Bodensee'. Er nimmt Gefährten, Freunde und Konkurrenten Walsers in den Blick und setzt sich mit seiner Wirkung auf die Literatur nach 1945 auseinander. Dabei ist ein sehr persönliches Buch entstanden: Ein Leseleben mit Martin Walser. - Beginn einer Karriere: Radiobeiträge und erste literarische Texte in der Nachkriegszeit - Beziehungen, die prägen: Katharina Neuner-Jehle und Ruth Klüger - Das schönste Arbeitszimmer am Bodensee: Einblicke in den Schreibprozess - Die Rede in der Paulskirche und 'Tod eines Kritikers': Moralisches Zwielicht? - Rückblick aus Leser-Sicht: Jochen Hiebers Verhältnis zum Werk Martin Walsers   Romane, die die deutsche Geschichte und Mentalität spiegeln Gemeinsam mit Grass, Enzensberger und Böll bildete er das Quartett der Nachkriegsliteratur. Doch auch wenn Werke wie 'Ein fliehendes Pferd' oder 'Ehen in Phillipsburg' unbestritten von Rang sind, musste Martin Walser sich im Lauf seiner Karriere zeitweise auch Vorwürfe gefallen lassen. Auf seine literarisch verpackte Kritik an Marcel Reich-Ranicki und die Paulskirchenrede folgten kontroverse Diskussionen. Jochen Hieber beschäftigt sich in seinem Buch zum runden Geburtstag des Autors mit Auszeichnungen, Werk und Arbeitsweise Martin Walsers und gibt Einblick in seine ganz persönlichen Lese-Erlebnisse mit dem großen Nachkriegsliteraten.

Der Kritiker und Sachbuchautor Jochen Hieber war von 1983 bis 2016 Feuilleton-Redakteur der FAZ. Als Lehrbeauftragter für Literaturkritik war er an den Universitäten Heidelberg, Frankfurt am Main und Gießen tätig. Mehrere Jahre moderierte er die Literatursendung Weimarer Salon im Fernsehen des MDR und arbeitete als Kulturbeauftragter für die Fußball-WM in Deutschland. 2010 wurde Hieber mit dem Hessischen Verdienstorden am Bande ausgezeichnet.

Der Kritiker und Sachbuchautor Jochen Hieber war von 1983 bis 2016 Feuilleton-Redakteur der FAZ. Als Lehrbeauftragter für Literaturkritik war er an den Universitäten Heidelberg, Frankfurt am Main und Gießen tätig. Mehrere Jahre moderierte er die Literatursendung Weimarer Salon im Fernsehen des MDR und arbeitete als Kulturbeauftragter für die Fußball-WM in Deutschland. 2010 wurde Hieber mit dem Hessischen Verdienstorden am Bande ausgezeichnet.

Vorwort9
Erstes Kapitel
Vom Dorf in die Stadt, von Kafka zu Beumann. Deutschland, einig Kleinbürgerland. In Harvard werden Leuchttürme errichtet. Für Nachkriegskinder ist die »Gruppe 47« ein Segen. Realismus wird Seelensprache. Rolls-Royce und Opel Kadett. Immer schon weiter gewesen. Warum es bei Martin Walser weder ein Alters- noch ein Hauptwerk gibt.17
Zweites Kapitel
Mein Walser. Dachboden, Auschwitz, Vietnam: Urtexte eines Vorbilds. Das produktive Poesieparadox oder Die Überlegenheit der Literatur entsteht beim Lesen. Von James Baldwins »Giovannis Zimmer« zu Friedrich Hölderlins »Heimkunft«. Enzensbergers »Kursbuch« und der kleinbürgerliche Großheld Xaver Zürn gehören zusammen.39
Drittes Kapitel
Das Romantische an Walser. Doch, die Aufklärung hat gesiegt. Von Ich-Philosophen und Ironie. Das Seelen-Testament eines Oberregierungsrats. Friedrich Schlegel, Hermann Hesse, auch das Gegenteil von allem. Blaue Blume: ja, Traumdeutung: nein. Mit Habermas und Reich-Ranicki durch die Nacht. Am Ende siegt das Geschichtsgefühl.56
Viertes Kapitel
Das Überleben der Ruth Klüger. Ein fahneschwingender Junge in der Landschaft. Urszene unserer Gegenwartsliteratur. Metallstift und Regensburger Verse. Über Polyamorie, über Kluft und Empathie. Martin Walsers romantische Geschichtspolitik. Tragisches Ende einer Freundschaft.104
Fünftes Kapitel
Walser-Werkstatt: Von »Ehen in Philippsburg« zum »Springenden Brunnen«. Am liebsten Lyriker. Die Roman-Maschine springt an. Gastfreundschaft und Tagebücher. Gegen Dürrenmatt und Kafka: Entscheidung für den Max-Frisch-Weg. Vierundvierzig Jahre lang zurück nach Wasserburg.118
Sechstes Kapitel
Kindheit und Jugend in Nationalsozialismus und Holocaust oder Zwei große Präsenz-Panoramen der deutschen Literatur: Eine Parallellektüre von Martin Walsers Roman »Ein springender Brunnen« und Ruth Klügers Erinnerungen »weiter leben«137
Siebtes Kapitel
Großdebatte, Großskandal: Friedenspreisrede und »Tod eines Kritikers«. Die Paulskirche beginnt im »Literarischen Quartett«. Wie wüste Wörter wirken. Walser, Reich-Ranicki, Schirrmacher: Phänomenologie eines Dreikampfs. Medialer Showdown um ein unveröffentlichtes Buch. Was der Antisemitismus-Vorwurf anrichtet.169
Achtes Kapitel
Das Erzählwerk des achten und neunten Lebensjahrzehnts. Zehn Romane passieren Revue. Die Kritiker kommen aufs Spielfeld. Der Literaturbetrieb wird besichtigt. Walser beschleunigt bergauf. Ein stupender Rhythmus und die Sehnsucht nach dem Schönem.Alles läuft auf ein Manifest des Romantischen hinaus.246
Epilog 314
Vom Danken 317
Literatur und Nachweise 318
Personenregister 332

Erstes Kapitel


Vom Dorf in die Stadt, von Kafka zu Beumann.

Deutschland, einig Kleinbürgerland.

In Harvard werden Leuchttürme errichtet.

Für Nachkriegskinder ist die »Gruppe 47« ein Segen.

Realismus wird Seelensprache. Rolls-Royce und Opel Kadett.
Immer schon weiter gewesen.

Warum es bei Martin Walser weder ein
Altersnoch ein Hauptwerk gibt.

Der allererste Held heißt Urleus und erinnert nicht von ungefähr an Odysseus, wahlweise Ulysses. Er steht, was er noch nicht wissen kann, am Beginn einer langen, langen Such-, Schönheits- und Schreckensfahrt. Seinen Auftritt hat der junge Mann am 29. September 1949 in der »Frankfurter Rundschau«, die bereits am 1. August 1945, keine drei Monate nach Kriegsende, als erste deutsche Zeitung der amerikanischen Zone eine Lizenz erhält. Walsers Werkchronist Andreas Meier nennt den kleinen Text eine groteske Erzählung, der vierzehnte Band der Tenschert-Ausgabe, die zum neunzigsten Geburtstag erscheint, ist der einzige Ort jenseits des »Rundschau«-Archivs, an dem sie zu finden ist. Titel: »Kleine Verwirrung«. Die ersten je veröffentlichten Walser-Sätze lauten: Urleus war noch nicht lange in der Stadt. Er kam mit der Stadt auch gar nicht zurecht. Er selbst merkte das allerdings nicht. Vertrauen flößt ihm der Verkehrspolizist ein, der ihn über die Straße winkt. Die Leute, denen er begegnet, lächelt er zur Vorsicht an. Der Hauptteil der kurzen Geschichte spielt in einer Tanzbar. Nein, Urleus hält sich nicht für einen herausragenden Tänzer. Aber die Dame, die er anspricht, tanzt tatsächlich mit ihm, sitzt mit ihm an der Bar. Wieder auf der Tanzfläche, verliert er sie nach und nach aus den Augen, dreht sich mehr und mehr um sich selbst – es ist, als tanze er um sein Leben. Er merkt nicht, dass sich die Menge der anderen Tanzlustigen ebenso gegen ihn verschwört wie die Kapelle. Plötzlich ist der Polizist von der Kreuzung wieder bei ihm – und dann waren sie auf der Straße. Dass er über Nacht in Polizeigewahrsam genommen wird, dass es dabei fast brutal zugeht, missdeutet er als freundschaftliche Geste, denn nur ganz gute Freunde, das kennt er vom Dorf, dürfen unter- und miteinander so grob verfahren wie jetzt der Polizist mit ihm. Die »kleine Verwirrung«, in die Urleus gerät, ist eine zumindest mittlere Fatalität.

Ein Zentralthema des frühen Walser ist der undurchsichtige, verworrene, unaufrichtige, verlogene Gang der Dinge. Grundmuster: Leute vom Land wollen aufbrechen, sich im Urbanen zurechtfinden, machen sich Illusionen, kommen aber nie wirklich an. Die Zentralfigur des frühen Lesens und Schreibens ist Franz Kafka. 1955 das erste Buch: »Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten«. Bereits im Klappentext weist der Verlag auf den starken Kafka-Bezug dieses jungen Autors hin, die ersten Kritiken nennen ihn wahlweise Kafka-Schüler oder Kafka-Epigone. Die »Kleine Verwirrung« hat es erst gar nicht in den Debüt-Band geschafft, aber immerhin ist Urleus die früheste Figur im Kafka-Bann – und die namenlose Stadt, in der er sich bewegt, einigen realistischen Momenten zum Trotz, ein abstrakter Raum. Wie Walser vom Gleichniserfinder Kafka’scher Provenienz zum realistischen Erzähler eigener Prägung wird, schauen wir uns im fünften, dem »Werkstatt«-Kapitel an. Jedenfalls ist Hans Beumann, der erste Romanheld, bereits höchst konkret geschildert und situiert: »Ehen in Philippsburg« erscheint 1957, zwei Jahre vor der »Blechtrommel« von Günter Grass – und acht Jahre nach der »Kleinen Verwirrung« des jungen Urleus. Wie Urleus stammt Beumann, ein Vierundzwanzigjähriger, vom Dorf, genau: aus dem wie ein Sinnbild des Geducktseins wirkenden Flecken Kümmertshausen – im realen Kümmertsweiler am Bodensee ist Walsers Mutter Augusta an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert geboren und aufgewachsen.

Hans hat bäuerliche Wurzeln, ist das uneheliche Kind einer Schankkellnerin und Bedienerin, nun aber ein studierter Mann, ausgebildet am Zeitungswissenschaftlichen Institut der Landesuniversität, bereit und begierig, an den Verfeinerungen des gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben, teilzunehmen. Dabei ist er, wie Urleus, nach wie vor ganz unsicher und nicht selten verzagt: Am besten wäre es, sagt der Erzähler des Romans, er würde heimfahren nach Kümmertshausen zu seiner Mutter, würde ihr eingestehen, daß die Studiengelder umsonst ausgegeben waren, daß der Sprung von Kümmertshausen nach Philippsburg zu groß war, um innerhalb einer Generation bewältigt zu werden. Beumann wird in der Großstadt bleiben – und er wird Karriere machen, allerdings um den Preis des Sich-Verbiegens, der beruflichen Anpassung und der seelischen Deformation. Seine soziale Lage aber wird stabil bleiben und dabei der seines Autors bis aufs Haar gleichen: Es ist die Situation, in der sich viele junge Leute des sogenannten unteren Mittelstandes in der Nachkriegszeit befinden. Beumann und ein paar Studienfreunde, heißt es, seien Kleinbürgersöhne und Proletarier …, hungrige Lesewölfe, die ihr Studium selbst hatten finanzieren oder fünfmal im Jahr um Stipendien bitten müssen, während die Stipendiengewährer mit Nadelaugen auf sie herabschauen.

Proletarier ist der Wasserburger Gastwirtssohn Walser nicht. Der Kleinbürger freilich wird der soziologische Schlüssel schlechthin sein – für ihn selbst, aber auch für die aufstrebende Bundesrepublik, die sich zum erfolgreichen Kleinbürgerstaat entwickelt, nicht zuletzt auch für die bald stagnierende DDR, in der sich die Herrschenden Kommunisten nennen und als Proletarier geben, aber wie Kleinbürger wirken und es meist auch sind. 1984, in einem substantiellen Gespräch mit dem Berkeley-Germanisten Anton Kaes, erzählt Walser anekdotisch, wie ihn die SED- und DKP-Funktionäre abkanzeln: Ich wurde dort auch immer als der störrische Kleinbürger geführt, der nichts lernen will beim proletarischen Internationalismus. Dass Kleinbürger keine Kleinbürger sein wollen, dafür andere Kleinbürger als Kleinbürger beschimpfen, ist eine Konstante, der wir wiederholt begegnen werden – damit auch eine Konstante in und für Walsers Vita.

Noch als Großschriftsteller, der er von Mitte der 1960er Jahre an zu werden beginnt, versteht sich Walser als Angehöriger des Kleinbürgertums. Nicht anders als der Danziger Altersgenosse Günter Grass, mit dem ihn bis zu dessen Tod im Jahr 2015 ein Konkurrenz- und Antipodenverhältnis, temporär auch Freundschaft verbindet. Gleiches gilt für den zwei Jahre jüngeren Hans Magnus Enzensberger, den im Allgäu geborenen Sohn eines Nürnberger Postbeamten und stets die Komplementär- wie die Kontrastfigur zu Walser. 1965 gründet Enzensberger die Zeitschrift »Kursbuch«. Jahrzehntelang prägt sie den intellektuellen Zeitgeist, bringt ihn als jeweils neue Modelinie auf den Laufsteg, reflektiert ihn im Geist einer alt-neuen Aufklärung jedoch auch kritisch und selbstironisch. 1976 erhält des Gründers merkwürdige Sozialschicht ein eigenes Heft mit zwölf Beiträgen: »Wir Kleinbürger«, seltsamerweise – es muss zwischen beiden wieder einmal Funkstille geherrscht haben – keinen von Walser. Enzensberger selbst eröffnet mit dem fulminanten Essay »Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums«, der nichts weniger ist als die Mental-Vermessung der alten Bundesrepublik. Der Kleinbürger will alles, nur nicht Kleinbürger sein, ist, wie zu erwarten, eine der Schlüsselsentenzen, schon um den Lesern die Sorge zu nehmen, auch auf sie könne das verächtliche Synonym Spießer zutreffen. Für Enzensberger schrumpft die eigentlich herrschende Klasse, das Großbürgertum, mehr und mehr, die Proletarier wollen sich verbürgerlichen, womit das nach wie vor ökonomisch weitgehend machtlose Kleinbürgertum nicht nur quantitativ gewinnt, sondern auch die neue Gesellschaftshierarchie dominiert, indem es der herrschenden Klasse das herrschende Denken entwindet. Die analytische Kernpassage über die modernen Angestellten-, Beamten-, Manager-, Freiberufler- und Akademikerschichten kann also resümieren: Das Kleinbürgertum verfügt in allen hochindustrialisierten Gesellschaften heute über die kulturelle Hegemonie. Es ist zur vorbildlichen Klasse geworden. Es erfinde Ideologien, Wissenschaften und Technologien, diktiere, was Moral bedeute, erzeuge Kunst, Mode, Philosophie, Architektur, Kritik und Design.

Wie stabil die Sozialverortung ist, zeigt ein Gespräch, das Günter Grass und Martin Walser gemeinsam im Sommer 2007, mehr als dreißig Jahre nach dem Kleinbürger-»Kursbuch«, mit Iris Radisch und Christof Siemes führen, den Feuilletonredakteuren der...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 75 Jahre • 95. Geburtstag • authentisches Porträt • Biografie • Biographie • Ehen in Philippsburg • Ein fliehendes Pferd • Essayist • Gesellschaftspublizist • Lebensbilanz • Lebensgeschichte • Leseleben • Literatur nach 45 • Martin Walser • Medienkarriere • Nachkriegsliteratur • Patriarch vom Bodensee • Paulskirchenrede • Quartett der Nachkriegsliteratur • Reich-Ranicki-Satire • Schriftsteller • Schriftstellerbiografie • Schriftsteller-Biografie • Schriftstellerleben • Skandal • Tod eines Kritikers • Walser
ISBN-13 9783806243758 / 9783806243758
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