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Der Tote vom Strand - Håkan Nesser

Der Tote vom Strand

Roman

(Autor)

Buch | Softcover
352 Seiten
2004
btb Verlag (TB)
978-3-442-73217-3 (ISBN)
CHF 13,30 inkl. MwSt
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Zu diesem Artikel existiert eine Nachauflage
Was geschah mit Mikaela Lijphart? Welches Geheimnis umgibt ihren Vater? Das junge Mädchen ist wie vom Erdboden verschluckt – kurz nachdem sie ihren Erzeuger zum ersten Mal seit sechzehn Jahren wieder getroffen hat. Ewa Moreno, Kriminalinspektorin aus Van Veeterens Maardamer Polizeiteam, wird während ihrer Ferien mit einem mysteriösen Fall konfrontiert, dessen Ursprünge bis weit in die Vergangenheit reichen.




Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der interessantesten und aufregendsten Krimiautoren Schwedens. Für seine Kriminalromane um Kommissar Van Veeteren erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in mehrere Sprachen übersetzt und wurden erfolgreich verfilmt. Daneben schreibt er Psychothriller. "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" oder "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" gelten inzwischen als Klassiker in Schweden, werden als Schullektüre eingesetzt, und haben seinen Ruf als großartiger Stilist nachhaltig begründet. Håkan Nesser lebt mit seiner Frau in London und auf Gotland. 2011 wurde er mit dem "Ripper Award", dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet.

Dr. Gabriele Haefs studierte in Bonn und Hamburg Sprachwissenschaft. Seit 25 Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen. Sie wurde dafür u.a. mit dem Gustav- Heinemann-Friedenspreis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. 2011 wurde Gabriele Haefs als Königlich Norwegische Ritterin des St.Olavs Ordens in der Norwegischen Botschaft in Berlin ausgezeichnet u.a. für ihre Übersetzungen, für die Vermittlung von norwegischen Büchern nach Deutschland sowie für das Knüpfen von Kontakten im Kulturbereich ganz allgemein.

21. Juli 1983 Winnie Maas musste sterben, weil sie ihre Pläne geändert hatte. Später meldeten sich auch Stimmen zu Wort, die behaupteten, sie habe sterben müssen, weil sie schön und dumm gewesen sei. Was anerkanntermaßen eine riskante Kombination ist. Oder weil sie zu gutgläubig war und sich den falschen Menschen anvertraute. Oder weil ihr Vater ein Mistkerl war, der die Familie bereits im Stich gelassen hatte, als Winnie noch ein Wickelkind war. Es war auch die Ansicht zu hören, Winnie Maas habe ein wenig zu kurze Kleider und ein wenig zu enge Blusen getragen und sei deshalb im Grunde an allem selber schuld. Keine dieser Erklärungen ließ sich wohl ganz und gar von der Hand weisen, aber der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war doch dieser: dass sie ihre Pläne geändert hatte. In der Sekunde, bevor sie auf den Boden auftraf und die erbarmungslose Stahlschiene ihren Schädel zerteilte, ging ihr das sogar selber auf. Sie wischte sich ein wenig überflüssigen Lippenstift ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Riss die Augen auf und spielte mit dem Gedanken, etwas mehr Kajal aufzutragen. Es war so anstrengend, die ganze Zeit die Augen aufzureißen. Viel einfacher wäre es doch, unten mehr Farbe zu haben. Das hatte den gleichen Effekt. Sie zog mit dem Stift eine dünne Linie, beugte sich zum Spiegel vor und überprüfte das Ergebnis. Klasse, dachte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf ihren Mund. Zeigte die Zähne. Die waren ebenmäßig und weiß, und das Zahnfleisch saß zum Glück ziemlich hoch – nicht wie bei Lisa Paaske, die mit ihren schräg stehenden grünen Augen und ihren hohen Wangenknochen zwar sehr gut aussah, ansonsten aber immer ein ernstes Gesicht machen musste oder höchstens ganz leicht und rätselhaft lachen durfte. Eben, weil ihr Zahnfleisch so weit nach unten reichte. Igitt, dachte Winnie Maas. Wirklich ungeil. Sie schaute auf die Uhr. Viertel vor neun. Höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sie stand auf, öffnete ihre Kleiderschranktür und musterte sich von oben bis unten. Testete einige Posen aus und schob mal die Brüste und mal den Unterleib vor. Es sah gut aus, oben wie unten. Sie hatte eben erst vier Haare ausgezupft, die sich in gefährlicher Nähe der Bikinizone breit gemacht hatten. Helle Haare zwar, aber trotzdem. Perfekt, hatte Jürgen gesagt. Verdammt, du besitzt einen perfekten Körper, Winnie. Umwerfend, das war Janos’ Meinung gewesen. Du bist einfach umwerfend, Winnie, ich krieg schon einen Ständer, wenn ich nur an deinem Haus vorbeigehe. Sie lächelte, als sie an Janos dachte. Von allen, mit denen sie zusammen gewesen war, war Janos sicher der Beste gewesen. Er hatte alles genau richtig gemacht. Hatte Gefühl und Zärtlichkeit gezeigt, auf diese Weise, von der so oft in »Flash« und »Girl-Zone« die Rede war. Janos. Ja, eigentlich war es schon ein bisschen traurig, dass sie nicht mit Janos zusammengeblieben war. Aber egal, dachte sie und schlug sich auf die Hinterbacken. Bringt nichts, über vergossene Milch zu jammern. Sie fischte einen String-Tanga aus der Schublade, konnte aber keinen sauberen BH finden und verzichtete deshalb darauf. Sie brauchte ja auch keinen. Ihre Brüste waren ziemlich klein und straff genug, um sich aus eigener Kraft oben zu halten. Wenn sie an ihrem Körper überhaupt etwas auszusetzen hatte, dann hätte sie sich größere Brüste gewünscht. Nicht viel größer, nur eine Spur. Dick hatte zwar behauptet, sie habe die tollsten Titten der Welt, und er hatte so energisch daran gelutscht und herumgespielt, dass es noch Tage später wehgetan hatte – aber ein paar Gramm mehr hätten eben doch nicht geschadet. Aber das kommt schon noch, dachte sie. Zog das T-Shirt über den Kopf und zwängte sich in den engen Rock. Ja, bald würden die Gramme gleich dutzendweise angetanzt kommen, das war nur noch eine Frage der Zeit. Falls sie nicht ... Falls sie nicht. Verdammt, dachte sie und nahm sich eine Zigarette. Ich bin doch erst sechzehn. Mama war damals siebzehn, und was ist aus der bloß geworden! Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, leckte sich vorsichtig die Lippen und ging los. Halb zehn, Frieders Pier, hatte er gesagt. Er kam mit dem Zug um halb neun und wollte zuerst zum Duschen nach Hause. Wogegen sie natürlich nichts hatte, sie mochte Typen, die sich sauber hielten. Saubere Haare und kein Dreck unter den Nägeln, das brachte es einfach. Und sie trafen sich zum ersten Mal seit drei Wochen. Er war oben in Saaren bei einem Onkel gewesen. Hatte gejobbt und Ferien gemacht; sie hatten einige Male miteinander telefoniert, hatten den »Fall« diskutiert, aber sie hatte ihm noch nicht gesagt, dass sie ihre Pläne geändert hatte. Das hatte sie sich für diesen Abend aufgehoben. Besser, wir machen das von Angesicht zu Angesicht, hatte sie gedacht. Es war ein warmer Abend. Als sie zum Strand kam, war sie schon leicht verschwitzt, obwohl es doch nur ein kurzer Spaziergang gewesen war. Aber hier unten war es kühler. Eine leichte, angenehme Brise wehte vom Meer her, sie streifte ihre Stoffschuhe ab und ging barfuß durch den Sand. Es war ein angenehmes Gefühl, die kleinen Sandkörner zwischen den Zehen zu spüren. Sie kam sich fast wieder vor wie ein Kind. Für den Nagellack war das natürlich gar nicht gut, am Pier würde sie die Schuhe sofort wieder anziehen müssen. Ehe sie IHN traf. Sie dachte an ihn immer in Großbuchstaben. Das war er wert. Aber wenn er danach mit ihr schlafen wollte, wollte er sie sicher barfuß haben. Was aber vielleicht keine Rolle spielte, er war bei solchen Gelegenheiten eher weniger an ihren Zehennägeln interessiert. Und warum sollte er nicht mit ihr schlafen wollen? Sie hatten sich doch ewig nicht gesehen, zum Henker! Sie blieb stehen und nahm sich eine neue Zigarette. Ging dann ein wenig näher zum Wasser, wo der Boden fester war, was das Gehen erleichterte. Der Strand war um diese Zeit nicht überlaufen, aber noch lange nicht menschenleer. Ab und zu tauchte ein Jogger oder ein Hundehalter auf, und sie wusste, dass oben zwischen den Dünen Jugendliche auf ihren Decken lagen, das war im Sommer immer so. Sie machte das bisweilen auch, und vielleicht würde sie in einer Stunde ebenfalls dort liegen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es kam sicher auf seine Reaktion an. Sie versuchte, sie sich vorzustellen. Ob er wütend werden würde? Würde er sie packen und schütteln, wie damals in Horsens, als sie high vom Hasch erklärt hatte, wie toll sie Matti Freges Muskeln fand? Oder würde er sie verstehen und ihr Recht geben? Vielleicht würde er versuchen, sie zu überreden. Das war natürlich denkbar. Vielleicht würde seine gewaltige Liebe sie dazu bringen, ihre Meinung noch einmal zu ändern. Was das Geld betraf, natürlich. Wäre das denkbar? Nein, das glaubte sie nicht. Sie fühlte sich stark und sicher in ihrem Entschluss, wo immer der herstammen mochte. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie einige Wochen allein und in Ruhe hatte nachdenken können. Aber sie wusste, dass seine Liebe riesengroß war. Das sagte er oft, ja fast bei jeder Begegnung. Irgendwann würden sie zusammenziehen, das wussten sie schon seit langer Zeit. Zweifel gab es keine mehr. Sie brauchten nichts zu überstürzen. Was sie dagegen brauchten, war Geld. Geld für Essen. Für Zigaretten und Klamotten und eine Wohnung. Vor allem in der Zukunft würden sie natürlich Geld brauchen, und deshalb hatten sie doch ursprünglich ihren Entschluss gefasst ... Ihre Gedanken wanderten in ihrem Kopf hin und her, und sie spürte, dass sie sie nur schwer unter Kontrolle brachte. Oder darin Ordnung schaffen konnte. Sie musste auf so vieles Rücksicht nehmen, und am Ende wusste sie dann nicht mehr ein noch aus. Das war fast immer so. Es wäre schön gewesen, wenn ihr jemand die Entscheidungen abgenommen hätte. Das dachte sie oft. Wenn sich jemand um die wichtigen Angelegenheiten gekümmert hätte, damit sie über das nachdenken konnte, worüber sie gern nachdachte. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum ich mich in ihn verliebt habe, überlegte sie jetzt. In IHN. Er traf gern die Entscheidungen, wenn es sich um Zusammenhänge handelte, die ein bisschen größer und komplizierter waren. Wie in diesem Fall, um den es jetzt ging. Ja, sicher war das auch ein Grund, warum sie ihn liebte und mit ihm zusammen sein wollte. Wirklich. Obwohl der letzte Entschluss wohl doch nicht so gut gewesen war, weshalb sie sich gezwungen gefühlt hatte, ihre Pläne zu ändern. Wie gesagt. Sie hatte jetzt den Pier erreicht und schaute sich im letzten Abendlicht um. Noch war er nicht gekommen, sie war einige Minuten zu früh. Sie könnte weiter über den Strand gehen, ihm entgegen, er kam von der anderen Seite, wohnte draußen in Klimmerstoft, aber sie tat es dann doch nicht. Sie setzte sich auf einen der niedrigen Steinpfeiler, die zu beiden Seiten des Piers aufragten. Steckte sich noch eine Zigarette an, obwohl sie im Grunde gar keine wollte, und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Er traf eine Viertelstunde später ein. Ein wenig verspätet, aber nicht sehr. Sie sah sein weißes Hemd in der klaren Dunkelheit schon aus der Ferne, blieb aber sitzen, bis er sie erreicht hatte. Dann sprang sie auf. Legte ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an sich. Küsste ihn. Merkte, dass er ein wenig nach Schnaps schmeckte, aber wirklich nur ein wenig. »Da bist du wieder.« »Ja.« »War es schön?« »Toll.« Sie schwiegen einen Moment. Er umklammerte ihre beiden Oberarme. »Ich muss dir etwas sagen«, sagte sie dann. »Ach?« Sein Zugriff lockerte sich ein wenig. »Ich hab es mir anders überlegt.« »Anders überlegt?« »Ja.« »Was, zum Teufel, soll das heißen?«, fragte er. »Sag schon.« Sie sagte es ihm. Erklärte. Fand nur mit Mühe die richtigen Worte, aber nach und nach schien er zu begreifen. Zunächst schwieg er, und sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen. Er hatte sie jetzt losgelassen, ganz und gar. Eine halbe Minute verging, vielleicht auch eine ganze, und sie standen nur da. Standen da und atmeten im Takt von Meer und Wellen, so kam es ihr vor, und etwas daran war ein wenig unbehaglich. »Wir machen einen Spaziergang«, sagte er dann und legte ihr den Arm um die Schultern. »Und reden darüber. Ich habe eine Idee.« Juli 1999 Helmut war von Anfang an dagegen gewesen. Als sie später daran zurückdachte, musste sie ihm das immerhin zugestehen. »Blödsinn«, hatte er gesagt. »Verdammter Blödsinn.« Er hatte die Zeitung sinken lassen und sie einige Sekunden lang aus seinen blassen Augen angesehen, während er langsam die Kiefer hin und her rollte und den Kopf schräg legte. »Keine Ahnung, wozu das gut sein soll. Überflüssig.« Das war alles. Helmut war keiner, der mit Worten um sich warf. Er war überhaupt eher vom Stein gekommen als vom Staub und zweifellos schon jetzt wieder auf dem Weg dorthin. Vom Stein bist du gekommen und zum Stein sollst du werden. Das dachte sie nicht zum ersten Mal. Es hatte natürlich seine Vor- und Nachteile. Sie wusste ja, dass sie nicht Sturm und Feuer gesuchte hatte, als sie sich für ihn entschieden hatte – nicht Liebe und Leidenschaft –, sondern einen Felsen. Graues, festes Urgestein, auf dem sie fest stehen konnte und nicht fürchten musste, wieder im Nebel der Verzweiflung zu versinken. So ungefähr. So ungefähr hatte sie vor fünfzehn Jahren gedacht, als er an die Tür geklopft und erklärt hatte, er habe im Urlaub eine Flasche Burgunder gekauft, die er einfach nicht allein austrinken wolle. Und wenn sie es nicht schon im ersten Moment gedacht hatte, dann doch sehr bald danach. Als sie einander dann häufiger trafen. In der Waschküche. Auf der Straße. Im Laden. Oder wenn sie an den warmen Sommerabenden auf dem Balkon saß und versuchte, Mikaela in den Schlaf zu wiegen, und er drei Meter weiter auf dem Nachbarbalkon stand, seine Pfeife paffte und in die letzten Reste des Sonnenuntergangs hineinschaute, der sich auf dem gewaltigen offenen westlichen Himmel über der Polderlandschaft ausbreitete. Wand an Wand. Das war wie ein Gedanke. Ein Gott der Sicherheit, der seinen steinernen Finger auf sie richtete, während sie in einem gebrechlichen Fahrzeug über das Meer der Gefühle trieb. Auf sie und Mikaela. Ja, so war es wirklich gewesen, und im Nachhinein konnte sie manchmal darüber lachen und manchmal nicht. Fünfzehn Jahre war das jetzt alles her. Mikaela war damals drei gewesen. Jetzt war sie achtzehn. In diesem Sommer würde sie achtzehn werden. »Wie gesagt«, hatte er hinter seiner Zeitung wiederholt. »Glücklicher wird dieses Wissen sie nicht machen.« Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Wieder und wieder hatte sie sich später diese Frage gestellt. In den Tagen der Unruhe und der Verzweiflung. Wenn sie versuchte, ihre Kräfte zu sammeln und die einzelnen Glieder der Kette zu betrachten, die Ursache dafür zu finden, dass sie getan hatte, was sie getan hatte . . . oder einfach ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Sie hatte nicht genug Kraft, um über diese Zeit zu sprechen. Über diese grauenhaften Sommertage. Sie hatte einfach das Richtige getan, so hatte sie das gesehen. Sie hatte getan, was gut und richtig gewesen war. Hatte nicht gegen den Beschluss verstoßen, auf den all diese Jahre doch gegründet waren. Auch der war in gewisser Hinsicht wie ein Stein gewesen. Ein düsterer Stein, den sie ganz tief versenkt hatte, in den schlammigen Grund ihres Vergessens, doch den sie heraufzuziehen versprochen hatte, wenn die Zeit gekommen wäre. Behutsam und respektvoll natürlich, aber er musste eben ans Licht. Musste Mikaelas zwingendem Blick vorgelegt werden. Es ging nicht anders. Egal, wie sie es auch drehten und wendeten – es war eine Art Ungleichgewicht, das nun seit vielen Jahren darauf wartete, wieder in Balance gebracht zu werden, und jetzt war es so weit. Der achtzehnte Geburtstag. Obwohl sie nicht darüber gesprochen hatten, hatte auch Helmut es gewusst. Er war sich die ganze Zeit über die Situation im Klaren gewesen, hatte sie aber nicht wahrhaben wollen . . . dass ein Tag kommen musste, an dem Mikaela die Wahrheit aufgetischt wurde. Niemand hatte das Recht, einem Kind seinen Ursprung vorzuenthalten. Seine Wurzeln unter Bagatellen und Alltäglichkeiten zu verstecken. Es beim Eintritt ins Leben auf einen falschen Weg zu locken. »Recht«? »Leben«? »Wahrheit«? Später begriff sie nicht, wie sie mit dermaßen großartigen Worten hatte jonglieren können. War das nicht gerade die Art von Hochmut, die zurückgeschlagen und sich gegen sie gekehrt hatte? War das nicht so? Wer war sie denn, dass sie von falsch und richtig redete? Wer war sie, dass sie so leichtfertig ihre Entscheidung traf und Helmuts übellaunige Einwände abschüttelte, ohne ihnen mehr als eine Dreiviertelsekunde des Nachdenkens zu widmen? Damals jedenfalls. Damals, als ihr das alles noch übertrieben vorgekommen war. Dann kamen diese Tage und Nächte, als alles auch den letzten Rest von Bedeutung und Wert zu verlieren schien, als sie zum Roboter wurde und diese früheren Gedanken nicht einmal mehr sah, die wie zerfetzte Wolkenreste am bleigrauen Nachthimmel des Todes an ihr vorüberzogen. Sie ließ sie einfach dahingleiten, auf ihrer trostlosen Reise von Horizont zu Horizont. Von der Vergessenheit in die Vergessenheit. Von der Nacht zur Nacht, von der Finsternis zur Finsternis. Vom Stein bist du gekommen. Aus deiner klaffenden Wunde steigt dein stummer Schrei zu einem toten Himmel empor. Der Schmerz des Steins. Härter als alles. Und der Wahnsinn, ja, der Wahnsinn, wartete gleich hinter der nächsten Ecke. Der achtzehnte Geburtstag. Ein Freitag. Ein Juli, so heiß wie die Hölle. »Ich mache es, wenn sie vom Training nach Hause kommt«, hatte sie gesagt. »Dann brauchst du nicht dabei zu sein. Danach essen wir dann in aller Ruhe. Sie wird es gelassen aufnehmen, das spüre ich.« Zuerst nur beleidigtes Schweigen. »Wenn es unbedingt sein muss«, hatte er dann endlich gesagt. Als er schon am Spülbecken stand und seine Tasse auswusch. »Du trägst die Verantwortung. Nicht ich.« »Ich muss es tun«, verteidigte sie sich. »Vergiss nicht, dass ich es ihr an ihrem fünfzehnten Geburtstag versprochen habe. Vergiss nicht, dass ein Leerraum gefüllt werden muss. Sie wartet doch darauf.« »Sie hat es aber nie erwähnt«, sagte er. Aus dem Mundwinkel. Abgewandt. Das stimmte. Auch das musste sie zugeben. »Blödsinn, aber mach, was du willst. Wozu soll das eigentlich gut sein?« So viele Wörter. Genauso viele. Dann ging er. Blödsinn? Tue ich es für sie oder für mich?, fragte sie sich dann. Ursachen? Beweggründe? Undurchdringlich wie das Grenzland zwischen Traum und Wirklichkeit. Unergründlich wie der Stein selber. Floskeln, Wortpflaster. Das wusste sie jetzt.

Reihe/Serie Die Van-Veeteren-Krimis ; 8
Übersetzer Gabriele Haefs
Sprache deutsch
Original-Titel Ewa Morenos fall
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 340 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Krimis/Thriller • Skandinavische Krimis
ISBN-10 3-442-73217-4 / 3442732174
ISBN-13 978-3-442-73217-3 / 9783442732173
Zustand Neuware
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