Sonnenkönig, Pechrabe (eBook)
400 Seiten
Lago (Verlag)
978-3-95762-312-6 (ISBN)
N/A
N/A
LONDON, ENGLAND, 1816
Ein gar hübsches Nadelkissen
König George III. würdigte Edward keines Blickes. Stur sah der alte König an ihm vorbei. Die Jahre hatten seinen Zügen keinen Gefallen getan. Sie wirkten verwaschen, ähnlich einem Gemälde, das erbarmungslos in direktem Sonnenlicht gebadet und schon vor langer Zeit seine prächtigen Farben verloren hatte. Die hohe Stirn verfloss nahtlos mit der Nase, stolz nach oben gereckt. Sie tat jedoch nichts daran, das fliehende Kinn zu kaschieren. Doch waren es die Augen, die Edward von des Königs Wahnsinn überzeugten. In Schatten gehüllt, ruhten sie tief in ihren Höhlen, praktisch blind und voller Gram. Gedankenverloren fuhr Edward mit dem Finger über den Schilling in seiner Hand.
»Samuel, versprich mir eines«, begann er, »sollte die Zeit ähnlich grausam mit meinem Abbild umgehen, stecke den Künstlern ein ordentliches Trinkgeld zu. Ich möchte vermeiden, dass die Nachwelt mich als Trauerspiel in Erinnerung behält.«
Edward schnippte die Münze in seinen Fingern, und an des Königs Stelle traten bronzene Lettern, gerahmt von einem Kranz aus Eichenlaub.
»Wer sagt, dass dein Abbild überhaupt verewigt wird? In deinen Adern fließt weder blaues Blut, noch wiegen deine Taschen sonderlich schwer. Es besteht also kein Anlass, sich um ein wenig schmeichelhaftes Porträt zu sorgen.«
Samuel kauerte vornübergebeugt am Ende einer schweren Tafel, die fast die gesamte Länge des Raumes einnahm. Die mit unzähligen Narben versehene Holzplatte war kaum sichtbar unter den Massen an Seide und Spitze, Faden und Fingerhüten, welche Samuels Tage und Nächte gleichsam füllten.
Wie er bei all dem Chaos nicht den Kopf verlor, war Edward ein Rätsel, doch er sah keinen Grund, seine Arbeitsweise infrage zu stellen. Das Ergebnis war immer mehr als zufriedenstellend.
Stetig führte Samuel Nadel und Faden durch den Stoff – die Bewegung zielgerichtet, doch ohne Hast, gleich eines Flusses, der nicht anders wusste, als immerfort seinem Lauf zu folgen.
Eine einzige Kerze spendete ihm Licht, und mit jedem Stich erglomm die Nadel für einen flüchtigen Augenblick in den Flammen. Samuels Antlitz blieb verborgen hinter einem Vorhang aus Strähnen, die ihm sanft in die Stirn fielen. Edward warf ihm einen empörten Blick zu.
»Wenn mich das beruhigen soll, so haben deine Worte ihr Ziel verfehlt. Wer braucht schon Feinde, wenn man Freunde hat, die dich stets an deine Nichtigkeit erinnern?«
Gekränkt glitt er die Rückenlehne des Sofas hinab, bis er ganz in den abgenutzten Kissen versank.
»Edward«, sprach Samuel und sah resigniert von seiner Tätigkeit auf. »Zeit wird dich nicht entstellen können, und das weißt du sehr wohl. Ich sehe keinen Grund, dir noch mehr Honig ums Maul zu schmieren. Für diesen Zweck hast du einen Spiegel und einen endlosen Strom an Verehrern.« Samuels Aufmerksamkeit glitt von Edwards Schmollmund zu der Münze in seiner Hand. »Noch dazu gebührt seiner Majestät etwas mehr Mitleid. Keine Seele hat es verdient, besinnungslos und von allen Geistern verlassen vor sich hinzusiechen.«
»Mitleid?«
Edward schnaubte und warf die Münze in einem eleganten Bogen in die Luft, worauf sie lautlos wieder in seiner Handfläche landete.
»Wer mehr Paläste besitzt als ich Zehen, der braucht mein Mitleid nicht.«
Samuel seufzte.
»Lässt du mich deinen Frack nun säumen oder möchtest du ganz ohne aus dem Haus treten?«
Er neigte den Kopf und sah Edward mit der zerrinnenden Geduld eines müden Vaters an, dabei waren sie etwa im gleichen Mannesalter. Genau konnte Edward es nicht sagen, und er hatte die leise Vermutung, dass Samuel ähnlich wenig über seine exakten Geburtsumstände wusste wie er selbst. Wenn man Samuels Worten Glauben schenken konnte, so hatte sein Leben in dem Moment begonnen, als er zum ersten Mal einen Besen in die Hand gedrückt bekam und sein neuer Lehrmeister ihm gebot, den Hof vor dem Laden zu fegen. Jenen Lehrmeister hatte Edward nie kennengelernt. Er war verstoben, bevor Edward in das Dachzimmer über der Damenschneiderei gezogen war.
»Schon gut, ich bin still wie ein Henker am Schafott.«
Die Zweifel standen Samuel ins Gesicht geschrieben. Edward presste die Lippen aufeinander, bekreuzigte sich und kniff fest die Augen zusammen.
Ein weiterer Seufzer und das leise Rascheln von Stoff bedeuteten Edward, dass Samuel seine Arbeit wieder aufgenommen hatte.
Edward öffnete die Augen und starrte an die niedrige Decke, welche im Kerzenlicht ein seltsam lebhaftes Bild annahm. Für eine Minute war Edwards Aufmerksamkeit gebannt von der wabernden Dunkelheit, dann hatte er sich auch an ihr sattgesehen und ließ den Blick zu dem Fenster über dem Sofa gleiten. Wer sich sittlich auf dem Möbelstück positionierte, dem gebührte die Aussicht auf eine breite Gasse, gesäumt von dicht aneinandergereihten Geschäften, deren Türen um diese Zeit fest verschlossen waren. Eine einsame Straßenlaterne am Ende der Gasse tauchte die Gebäude in ein schwaches Licht, sodass die Schriftzüge über den Geschäften sich nur äußerst scharfen Augen zu erkennen gaben. Tagsüber säumten Händler und Kauftüchtige die Wege, doch auch nachts kehrte nie gänzlich Ruhe ein. Eine Stadt von der Größe und Fülle Londons litt an immerwährender Schlaflosigkeit.
Edward rekelte sich auf dem Sofa, Beine über die Lehne gefaltet, ein Schuh baumelte gefährlich an einem der weiß-bestrumpften Füße. Aus diesem Winkel erkannte er nur die hohen Dächer der anderen Straßenseite und einen Schornstein, der träge Rauchschwaden in den Londoner Nachthimmel schleuste. Ein leises, doch eindeutiges Kratzen ließ Edward aufhorchen. Er schlüpfte in den Schuh, setzte sich auf und ging auf leisen Sohlen, um Samuel ja nicht zu belästigen, zum anderen Ende des Raumes. Eine schmale Treppe führte hinab in den Ladenbereich, doch Edward betrachtete die Tür daneben mit scharfem Blick und gespitzten Ohren. Wenige Sekunden später vernahm er das Kratzen erneut.
»Samuel …«, setzte Edward zögernd an.
»Nein.«
»Aber …«
»Die Leute schmücken sich gern mit Pfauenfedern und Hermelinfell, doch Katzenhaar wäre mir neu. Außerdem zerstört die Katze meine Stoffe. Sie bleibt, wo sie ist.«
»Ist ein Kater«, grummelte Edward, doch er entfernte sich brav von der Tür.
Sir Pembroke war ein Streuner mit schmuddelig-schwarzem Fell und treuen Augen. Eines Tages war er vom Dach nebenan in Edwards Zimmer gehüpft, hatte sich ein Stück Käse stibitzt und danach prompt ein Nickerchen auf der Fensterbank gemacht. Seitdem gehörte er zum Inventar, auch wenn Samuel ihn strikt ins Dachgeschoss verbannte. Edward hätte den Kater gerne in die Stube gelassen, doch Samuel hatte recht. Ein Damenschneider und ein Stubentiger vertrugen sich nicht. Mit hängenden Schultern schlurfte Edward zum Sofa zurück, nur um mit dem Gesicht voran draufzufallen.
»Langeweile steht dir nicht«, sagte Samuel. »Sie macht dich vollkommen unerträglich.«
»Da liegst du ganz und gar falsch«, erwiderte Edward entschieden. »Sie steht mir ausgezeichnet. Es ist eine wahre Kunst, im Angesicht schockierendster Tatsachen vollkommen desinteressiert auszusehen.«
Samuel widmete sich noch immer seiner Nadel, doch ein sanftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
»Das ist wohl wahr, aber ich möchte behaupten, dass es nicht weniger anspruchsvoll ist, im Angesicht gähnender Tristesse wahre Aufmerksamkeit zu beweisen.«
Edward schnalzte mit der Zunge.
»Zum Glück habe ich beides längst gemeistert, sonst wäre ich arm wie eine Kirchenmaus. Versuch du einmal, mehrere Nächte mit einem angehenden Barrister zu verbringen, der das englische Eherecht für eine anregende Abendunterhaltung hält.«
»Lieber nicht«, antwortete Samuel tonlos. »Aber wo wir schon dabei sind: Was trägt der Mann von fragwürdiger Gesinnung und hohem Rang heutzutage?«
Edward konnte sich ein schmutziges Grinsen nicht verkneifen. »Wer hätte gedacht, dass du so unanständig bist?«
Edward konnte nicht behaupten, dass Samuel jemals in seiner Anwesenheit über Freundschaft hinausgehende, tiefe Gefühle für eine andere Person eingestanden hätte. Oder auch nicht so tiefgehende Gefühle der eher triebgesteuerten Art. Er behandelte all seine Mitmenschen mit gebührendem Respekt und beneidenswerter Geduld, selbst wenn diese in Edwards Augen nichts dergleichen verdienten. Falls hinter der streng gebundenen Krawatte, dem eng anliegenden Frack und der höflichen Fassade leidenschaftliche Emotionen tobten, so wusste Samuel diese gut zu verstecken. Im Gegenzug hatte Edward schon oft beobachtet, wie Samuels Kundinnen...
| Erscheint lt. Verlag | 20.3.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Schlagworte | Das Pinke Sofa • Gay Bücher • gay Bücher deutsch • gay romance deutsch • gay Romane • Homosexuelle Literatur • homosexuelle Romane • LGBTQ Bücher • queer Bücher • queere historische Romane • Queere Literatur • queer Roman • queer romance Buch |
| ISBN-10 | 3-95762-312-X / 395762312X |
| ISBN-13 | 978-3-95762-312-6 / 9783957623126 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich