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Kinder von Hoy (eBook)

Spiegel-Bestseller
Freiheit, Glück und Terror | Eine mitreißende Oral History der DDR-Musterstadt Hoyerswerda

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76988-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kinder von Hoy -  Grit Lemke
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Hoyerswerda - einst DDR-Musterstadt, in der morgens die Eltern in Schichtbussen davonrollten und die Kinder in einem Kollektiv aufwuchsen - erlangte durch die rassistischen Ausschreitungen 1991 traurige Berühmtheit. In ihrem dokumentarischen Roman verschränkt Grit Lemke die Stimmen der Kinder von Hoy zu einer mitreißenden Oral History und gibt einer Generation Gehör, für die Traum und Trauma dicht beieinanderlagen. Sie versammelt Gespräche mit Freunden und Familie und erzählt von ihrem eigenen Leben als Teil einer proletarischen Boheme um Gerhard Gundermann, die sich nachts im Kellerclub trifft und tagsüber malocht. Als nach der Wiedervereinigung Neonazis das erste Pogrom der Nachkriegszeit verüben, bleibt die Kulturszene tatenlos. Danach ist nichts mehr, wie es war ...



<p>Grit Lemke, geboren in Spremberg, aufgewachsen in Hoyerswerda, arbeitet als Dokumentarfilmregisseurin und Autorin. Ihr Film <em>Gundermann Revier</em> wurde 2020 für den Grimmepreis nominiert.</p>

Prolog


Nullte Stunde, Montagmorgen, Planetarium. Die haben sie extra für uns erfunden. Es gibt einfach zu viele Kinder in dieser Stadt. Man hat sie eigens für junge Arbeitskräfte errichtet, und wider Erwarten produzieren sie nicht nur Kohle, Gas und Energie, Schwarze Pumpe liefert sie im Akkord. Mit gleichem Fleiß machen sie Hoyerswerda zur kinderreichsten Stadt des Landes. So viele Schulen sie auch bauen – immer, wenn sie die nächste feierlich eröffnen, wird sie schon wieder zu klein sein. Die Zahl der Kinder steigt schneller, als sich die Kräne drehen. Ein ewiges Hase-und-Igel-Spiel. Da hilft nur List.

Für uns Kinder haben sie zuerst den Schichtunterricht erfunden. Kein Problem für Kinder von Bergarbeitern, leben doch auch wir im Rhythmus von Früh-, Spät- und Nachtschicht, die sich zur rollenden Woche vereinen. Schon bald gehen wir als Früh- oder Spätschicht zur Schule. So kehrt nur für wenige Stunden Ruhe in den Klassenräumen und auf den langen Schulfluren ein.

Selbst das aber scheint undenkbar an einem Ort, wo auch die Kohlebänder ohne Unterlass rollen. Und so hat man der Nacht noch ein Stück genommen und es an die Frühschicht rangepappt, die nun noch früher beginnt: nullte Stunde. Um sieme gilt hier als Ausschlafen, bringen doch die Schichtbusse der ersten Welle kurz vor fünf schon Arbeiter ins Gaskombinat, nach Pumpe.

Deshalb stehen wir jeden Montagmorgen müde im Planetarium. Gleich wird das Licht gnädig verlöschen, und Herr Scholze im blauen Kittel wird den knarrenden Mechanismus der Sternwarte in Bewegung setzen. Zuvor aber gilt es, den Tag mit einem Lied zu beginnen.

Weil wir in einer Stadt leben, wo man alles effektiviert, singen wir jeden Morgen dasselbe: Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Unser Heiligtum, das Planetarium, wurde für uns Kinder errichtet – im sechsten Wohnkomplex. Jeder hier sagt dazu nur Weka sechs oder schreibt »WK VI«. Als würden die römischen Zahlen dem, was woanders »Stadtviertel« hieße, mehr Gewicht verleihen.

Zahlen sind hier wichtig, denn auf WK VI folgen schon bald Nummer VII und VIII. Erst bei X wird das stetige Wachstum der Stadt wider Erwarten ein jähes Ende finden. Aber das ahnen wir noch nicht, und es wäre uns auch egal an diesem Montagmorgen. Wir wollen uns nur setzen dürfen, zur Stunde der toten Augen. Denn dann öffnet sich der bestirnte Himmel über uns.

Die Sternwarte ist in den Sechzigern errichtet worden – für uns, die Kinder der neuen Stadt. Auf Bildern sieht man, wie die ersten Bewohner mit Fleiß und nach Feierabend bei der Sache sind. 680 Einwohner der Stadt errichten es in 24000 Stunden, wird später in der Zeitung stehen. Die Frauen tragen Kopftuch. Die Kinder Baumwolltrainingshosen, deren Bund knapp über der Brust sitzt, weil man den stets ausgeleierten Gummi vorn raus- und über den Kopf ziehen muss (so passt’se gut, nur untern Achseln drückt’se bissl). Man sieht, wie sie Ziegel weiterreichen von Hand zu Hand und Mörteleimer auf das Gerüst schleppen. In karierten Hemden die Männer, verwegene Hüte auf den Köpfen. Wie sie die Kellen schwingen, wie das runde Gebäude Stück für Stück wächst. Ungeheuerlich in unserer sonst so quadratischen Stadt, die doch als erste der Welt aus vorgefertigten Elementen montiert wird (»Wo ein Bauhaus ist, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen haben keine Quadrate«, werden wir viel später dichten). Ganz altmodisch, Stein für Stein von Hand gemauert, wuchs das Haus, das uns doch einmal in die Zukunft katapultieren sollte.

Auf der Suche nach Zukunft waren auch die, die in den Fünfzigern hierherkamen, um das neue Hoyerswerda zu bauen. Maurer und Zimmerleute, auch ungelernte Bauhelfer. Die einfach auf der Suche waren nach einer Arbeit und einem Dach überm Kopf. Viele von ihnen hatte man woanders rausgeschmissen, oder sie kamen aus dem Knast. Glücksucher und Goldgräber. Heimatlose, für die es sonst auf der Welt keinen Platz gab. Man hatte sie gerufen, um hier – mitten in der Kiefernheide – ein riesiges neues Werk und eine Stadt für die Arbeiter zu bauen. Eine »sozialistische Wohnstadt« sollte es werden.

Als die Erbauer ankamen, war Hoyerswerda noch eine verschlafene Kleinstadt inmitten sorbischer Dörfer. An ihrem Rand hatten sie eilig ein paar Baracken zusammengezimmert. Dort hausten sie zu mehreren in kleinen Räumen mit Doppelstockbetten, im ewigen Gedudel der Kofferradios und dem Lärm vom Gang durch die dünnen Bretterwände.

Von jetzt ab zählte alles in großen Einheiten: »1000-Mann-Lager« hieß ihre erste Unterkunft. Auch die war bald zu klein, und mitten im Wald entstand die nächste, »Wohnlager I«. Deren Name bald schon geändert wurde in: »Wohnstadt Frohe Zukunft«. Anfangs nicht mehr als ein Versprechen. Mit ihm beginnt unsere Geschichte.

Denn nichts weniger als eine frohe Zukunft verhieß das neu erbaute Gaskombinat »Schwarze Pumpe«, das alle schon bald nur Pumpe nannten. Arbeit sollte es hier geben und Wohnungen dazu. Den Bauarbeitern folgten jene Scharen junger Leute von überall aus dem ganzen kleinen Land, und sie schickten sich an, »Berg- und Energiearbeiter« zu werden. Massen ungelernter Arbeitskräfte, die generalstabsmäßig ausgebildet wurden zu Maschinisten, die man schon bald nur Maschis nannte. Sie würden hier Familien gründen oder ihre Kinder – die sie in ihren Dörfern zurückgelassen hatten – in die neue Stadt holen.

»31. August 1955« steht nun auf einem verwitterten Schild, das an die Grundsteinlegung der neuen Stadt erinnert. Dabei entstanden die ersten Häuser der neuen Stadt am Rand der alten, wie zur Probe. Die eigentliche Neustadt aber begann mit dem Bau von WK I – auf der anderen Seite des träge fließenden Flüsschens namens Schwarze Elster, das Hoyerswerda einst begrenzt hatte. Und das fortan Alt- und Neustadt nicht verbinden, sondern auf ewig trennen würde. Auf der einen Seite die Alteingesessenen, die seit Generationen in Hoyerswerda wohnten und oft kleine Handwerksbetriebe geführt hatten. Nie würden diese Alteingesessenen die Neustadt betreten. Auf der anderen Seite des Flüsschens: die Horden der Neuankömmlinge, die die Altstadt gern besuchen, aber nie als etwas Eigenes empfinden würden.

Die neue Stadt sollte schön werden, und so glich anfangs kein Gebäude in ihr dem anderen. Schmiedeeiserne Gitter zierten die Fensterbrüstungen der ersten Häuser, Sgraffitos oder Mosaike die Portale und Fassaden. Sie zeigten Blätter, Blumen und Ornamente, Vögel und Fische in filigranen Posen. Aber so schön die Häuser auch waren, dienten sie zu Beginn doch schnöde als Wohnheime. Denn das Kombinat wuchs schneller als die Stadt, und es brauchte Arbeitskräfte. Die teilten sich die ersten Wohnungen und warteten auf eigene. Zwischenbelegung hießen deshalb die ersten Häuser – ein Wort, das sich unauslöschlich und über Generationen ins Gedächtnis der Stadt einschreiben würde. Es bezeichnete nicht nur ein Ausweichquartier und eine Übergangslösung, sondern würde auf ewig mit dem Odem des Abenteuers verbunden sein. Der Sound der Zwischenbelegung – wie wir Nachgeborenen ihn uns vorstellten – war das Grölen der Besoffenen, wenn sie die Treppe vom Eingang des Bahnhofseck herabstolperten. Sieben Stufen würde die Kneipe noch Jahrzehnte später bei uns heißen. Und bis in unsere Kindheit würden die Erzählungen und Legenden aus der Zeit der Zwischenbelegung schwappen.

WK um WK war die neue Stadt gewachsen, von WK I bis WK X. Die ersten Erbauer, die wilden Habenichtse und Halsabschneider, waren irgendwann weitergezogen. Die, die gekommen waren, um in Pumpe zu arbeiten, waren geblieben: unsere Eltern. Sie wollten ihren Kindern alles geben. Die Wärme, die sie im Kraftwerk erzeugten. Die afrikanische Savanne, die sie in engen Tierparkgehegen in die Stadt holten. Und das Universum. Ihre Kinder sollten die Sterne sehen. Sie sollten nicht eines Tages erste, zweete, dritte Welle nach Pumpe fahren, sondern vom sowjetischen Sternenstädtchen Baikonur aus geradewegs zum Mond. Alles schien möglich zu sein: Strom aus Kohle machen, eine...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte abwesende Mütter • aktuelles Buch • Aufwachsen in der DDR • Autonome Republik Ladanien • Bestseller bücher • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • DDR • Dokumentarischer Roman • Eltern • Erziehung • Gerhard Gundermann • Grimmepreis • Gundermann • Gundermann Revier • Hoyerswerda • Hoywoy • Kindheit • Kindheit DDR • Nazis • Neonazis • Neuerscheinungen • neues Buch • Oral History • Ostdeutschland • Platte • Plattenbau • Proletarische Bohème • Skinheads • „Sozialistische Wohnstadt“ Hoyerswerda • Spiegel-Bestseller-Liste • ST 5329 • ST5329 • suhrkamp taschenbuch 5329 • Tagebau • Wie tickt der Osten?
ISBN-10 3-518-76988-X / 351876988X
ISBN-13 978-3-518-76988-1 / 9783518769881
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