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Dissipatio H.G. oder Die Einsamkeit (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
188 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76943-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dissipatio H.G. oder Die Einsamkeit -  Guido Morselli
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Am 2. Juni um 2 Uhr morgens verschwindet die gesamte Menschheit, lautlos und ohne Spuren zu hinterlassen. Zurück bleiben die Sachen und die Tiere, die sich schon bald mit wachsender Furchtlosigkeit hervorwagen, um die Erde wieder in ihren Besitz zu nehmen. Übriggeblieben ist außerdem: ein einziger Mensch, ein Einzelgänger, der mit der Welt nicht zurechtkam und sich in ebendieser Nacht das Leben nehmen wollte. In einer paradoxen Umkehrung wird der verhinderte Selbstmörder nun zum einzigen Repräsentanten menschlichen Lebens, zur Menschheit schlechthin. Offen bleibt dabei die Frage, ob er, der einzig verschont Gebliebene, ein Auserwählter oder ein Verdammter ist.

Geschrieben kurz vor dem Freitod des Autors, ist Dissipatio ein visionäres Porträt unserer heutigen Zeit, ein philosophisches Vermächtnis und das Testament eines großen italienischen Solitärs.



Guido Morselli, geboren 1912 in Bologna, aufgewachsen in Mailand, war der Sohn eines wohlhabenden Unternehmers und promovierter Jurist. Er schrieb zahlreiche Romane und Essays, keiner davon wurde je von einem Verlag zur Publikation angenommen. 1973 nahm er sich, kurz nach der Niederschrift von <em>Dissipatio</em>, das Leben, ein Jahr sp&auml;ter begann der renommierte Verlag Adelphi Morsellis Gesamtwerk zu publizieren.

I


Akustisch-visuelle Relikte leisten mir Gesellschaft – und sie sind das, was mir am unmittelbarsten von »ihnen« bleibt. Zwei rein verbale (aus Rundfunknachrichten, nehme ich an): Mißlungene Flugzeugentführung und geglückte Vergewaltigung eines Mädchens in einer Maschine der Olympic Airways. Und die andere auf englisch, vielleicht von der wenig seriösen Voice of Europe: A favorite Polish joke goes, we feign to work, the State feigns to pay us. Und zwei Bilder: eine Flasche mit einer Königskrone und der Aufschrift in Rot: Seagram's Canadian Whisky. Das kleine weiße Viereck des Tennisplatzes hinter dem Hotel Bellevue im Ausschnitt meines Fernglases. Dem spontanen Gedächtnis bietet sich nichts anderes an, und diese Erinnerungen treiben darin, beharrlich und willkürlich.

Haltlose Relikte und nunmehr schon Reliquien. Seit jener Nacht ist bereits ein halber Monat vergangen, ich könnte genausogut sagen: ein halbes Jahrhundert. Eine lange Panik am Anfang. Und dann ungläubiges Staunen, das sich aber gleich wieder legte, und schließlich von neuem Angst. Jetzt die Anpassung. Resignation? Ich würde eher sagen: Akzeptierung. Mit Intervallen von anmaßender Heiterkeit und wilder Erleichterung.

Ich komme aus dem Gebäude der Zeitung. Als junger Mann habe ich hier gearbeitet, und ich bin hierher zurückgegangen, durch das ganze Haus gelaufen, um eine Bestätigung zu erhalten. Die Bestätigung fand sich: Ich habe immer noch die absurde Bewegung der Linotypes vor Augen, deren Skelettarme nicht aufhören, sich – wer weiß, wie – zu heben und zu senken. Als »sie« verschwanden (um zwei Uhr früh), war das der Arbeitsstand: in der Druckerei die Setzer an den Linotypes, die Rotationsmaschinen noch nicht in Betrieb; oben die Redaktion, die die letzten Nachrichten durchging. Die Agenturmeldungen sind unbeendet in den Fernschreibern geblieben (und ich habe mir nicht die Mühe gemacht, sie zu lesen, ich habe gesehen, daß sie abbrachen: Die Botschaften wurden am anderen Ende des Telex eingestellt; hier verlief alles ordnungsgemäß). In ihrer Vorzugsbox die IBM mit den noch brennenden roten Kontrollampen. Im übrigen sind die Räume des Zeitungsgebäudes erleuchtet; im Büro der Redaktionssekretärin – seit eh und je das Fräulein Manass – surrt immer noch ein kleiner Ventilator auf dem Tisch. Sie war dabei, etwas zu schreiben, der Füller liegt quer zum Blatt, als sei er ihr aus der Hand gefallen. Aber der Stuhl ist nicht umgestürzt. Ja, er ist nicht einmal vom Schreibtisch weggerückt. Wie hat das Fräulein Manass es angestellt zu verschwinden?

Meine, gebührend weltliche, Zeitung hat ihren Sitz (hatte ihn) gegenüber dem des lutherischen Bischofs. Zu meiner Zeit war Bischof der Doktor Burg, ein kleines Männchen, das ich nur vom Sehen kannte, das sich aber, wenn wir einander begegneten, stets die Mühe machte, mich als erster zu grüßen. Der Bischofssitz, ein Gebäude im österreichischen Spätbarock, ist heute wie ausgestorben. In einer Nische an der Ecke des Gebäudes sehe ich einen Klingelzug, unter dem in höflichen gotischen Lettern steht: »In Notfällen jederzeit läuten«. Ich ziehe am Griff, eine unsichtbare Klingel durchschneidet mit ihrem sonntäglichen Ton die schwüle Luft. Ich läute noch einmal. Der Bischof wird auf Pastoralvisite sein oder in Ferien; oder auch er ist verschwunden, samt seinen Akoluthen und seinen Gläubigen – wie die anderen, wie alle. Wie die Hüter der bestehenden Ordnung. Weiter vorn erkenne ich die Polizeistation an der Theaterstraße. Ich gehe hinein: Ich streife durch die Räume in den zwei Stockwerken, von der Wachstube bis zur Telefonzentrale. Kein Mensch. An der Ecke des Neuen Zolls ein aufgespannter Damenschirm umgekippt auf dem Boden und eine Handtasche. Ein Taxi steht am Gehsteig vor einer kleinen Villa. Ich hebe die Handtasche auf, ein Scheckheft ist darin, eine echte Remontoir-Uhr, aus der Zeit, sie steht auf zwei und trägt die eingravierte Widmung: »To Meggy Weiss Lo Surdo. Happy hours.« Die reizende Meggy kommt spät nach Haus, von einem Abend bei Freunden (oder dem Freund): Sie will gerade durchs Gartentor, als etwas passiert, was sie dazu zwingt, mit einemmal wieder wegzugehen, unter Zurücklassung der irdischen Güter, die sie in ihrer Handtasche mit sich führt.

Denselben dringenden, unaufschiebbaren, herrischen, aber unparteiischen Appell hat der einfache Taxifahrer vernommen. Auch er gehorcht, unter Zurücklassung dessen, was für ihn das Wertvollste ist: seines Autos.

Ich liebe Chrysopolis nicht, ja ich kann es nicht ausstehen. In dieser Stadt habe ich meinen Antityp entdeckt, die triumphale Durchsetzung all dessen, was ich ablehne; ich habe sie zum Mittelpunkt meiner Verabscheuung der Welt erwählt: ein caput mundi im negativen Sinn. Meine fuga saeculi war, schon damals, Flucht aus dieser präzisen Lokalisierung des »Jahrhunderts«. Und doch wirkt die Situation, mit der ich mich konfrontiert sehe, unglaubhaft und düster.

Chrysopolis ist leer. Ordentlich, ruhig, auf den Straßen, auf den Plätzen, auf den Quais wie im Zentrum, so wie es in jener Nacht um zwei Uhr gewesen sein muß – aber leer. Wie viele waren es? Vierhunderttausend, vierhundertzwanzigtausend. Wie auch immer, sie waren.

Ich bin auf der Suche nach ein paar tausend Verschwundenen hergekommen. Den Bewohnern meines Tals. Und hier finde ich den Mega-Exodus, die Desertation en masse. Ein (unvorstellbares) Ereignis hat auch hier die Leute im Schlaf überrascht: Die nächtliche Unterbrechung des kollektiven Lebens hat sich einfach verlängert, auf unbestimmte Zeit verlängert. Denn wenn ich sie mir auch weiterhin als geflohen vorstelle, in Wirklichkeit sind sie nicht geflohen wie die Menschen von Pompeji. Und sie wurden auch nicht zu Asche reduziert wie die von Hiroshima. Sie sind auf irgendeine andere Weise gegangen. Geraubt. Extrahiert, hinausgetrieben aus ihren Häusern und sonstigen Sitzen. Aus ihren Körpern – vielleicht.

Nein. Aus ihren Körpern, scheint es, nicht. Von Körpern findet sich unter dem leichten Juniregen keine Spur in Chrysopolis. Es bleibt, was zwar auch körperlich ist, aber nicht organisch. Der Alltagsabfall auf den Straßen, die alten Kinokarten, die leeren Zigarettenschachteln; es bleiben die Neonreklamen (und sie sind eingeschaltet), die Wasserstrahlen der Brunnen, die Autos, aufgereiht vor den Gebäuden, auf den Flächen des Parkplatzes. Die Goldstadt ist intakt. Die Entwichenen (oder die Kräfte, die sie zum Entweichen zwangen) haben nichts mitgenommen. Weder die Tischchen vor dem Café Odéon noch seine Jugendstilfassade weisen irgendwelche Spuren von Gewaltanwendung auf. Auch nicht die Fensterscheiben, hinter denen vor tausend Jahren Trotzki mit seiner Frau und Lenin saßen.

Es bleibt auch, was organisch und lebendig ist, aber nicht menschlich. Die Geometrie der Tulpen vor dem Hotel Esplanade und die Akazien, die sich unter der Last ihrer Blüten biegen. Der berühmte Jasmin, oder Gymnospermus, der sich von der mitten im Zentrum gelegenen Villa des Barons Aaron ergießt. Die Raben auf dem Giebel des Nationaltheaters, die Katzen, in Rudeln, auf den Stufen des Crédit Financier und der Diskontbank.

Die Katzen jagen sich zu Füßen der Finanzmonumente Mitteleuropas beziehungsweise des Kontinents. Sie paaren sich mit widerwärtigem Geschrei. Aber es gibt nicht nur die Katzen. Vor den Gittern der großartigen Bankunion – zu meiner Zeit behauptete jemand, sie seien aus Edelmetall – habe ich Vogelkot bemerkt und gedacht, es handle sich um Tauben. Es war ein Huhn. Es scharrte in einem Haufen nassen Laubs, und ich muß gestehen, daß sein Anblick einen Schock bei mir ausgelöst hat. Ein Huhn. Wenn die Pferde der Apokalypse über dieses Pflaster getrabt wären – es hätte mich nicht so getroffen.

Und jetzt der Rückweg. Ich trat mit erschrockener Wut aufs Gaspedal, ich, der kaum fahren kann. Auf vierzig Kilometern Ebene nicht mehr als ein Dutzend Autos, alle von der Straße abgekommen. Ich halte an der Stelle, wo ich auf dem Herweg einen Reisebus gesehen habe, der gegen eine Betonabstützung geprallt ist. Der Wagen ist völlig demoliert, Fenster und Sitze in Trümmern, aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß seine Insassen Schaden erlitten hätten. Und mir kommt die absurde Idee: Es gab da drin überhaupt keinen Insassen mehr, nicht einmal den Fahrer, als der Wagen zerschellte. »Vorher« waren es die Autounfälle, die das Leben nahmen: In jenem Augenblick war es die Wegnahme des...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2021
Nachwort Michael Krüger
Übersetzer Ragni Maria Gschwend
Sprache deutsch
Original-Titel Dissipatio H.G.
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alpen • Anthropozän • Apokalypse • Bibliothek Suhrkamp 1529 • BS 1529 • BS1529 • Corona • Coronakrise • Coronavirus • Der letzte Mensch • Die Wand Malene Haushofer • Einsamkeit • Ende der Menschheit • Ende der Welt • Houellebecq • Huysmans • Italien • Klassiker • Leere • Leere Städte • letzter Mensch • lockdown • Pandemie • Philosophie • Schweiz • Selbstmord • Zürich
ISBN-10 3-518-76943-X / 351876943X
ISBN-13 978-3-518-76943-0 / 9783518769430
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