Miss Island (eBook)
240 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76879-1 (ISBN)
Das humorvolle, mit subtiler Ironie gezeichnete Porträt einer jungen Isländerin Anfang der 1960er Jahre, die sich viel vorgenommen hat - in einer Gesellschaft, in der Künstler männlich sind, die Frau aber nur reüssiert, wenn sie ihre Schönheit zu Markte trägt, um zur Miss Island gekrönt zu werden.
Die Welt ist in Aufruhr. Während in Amerika John F. Kennedy erschossen wird und Martin Luther Kings »I have a dream« zu hören ist, starten in England die Beatles ihre Weltkarriere. Nur in Island steht die Welt still. Das muss auch Hekla erfahren, als sie - 22-jährig mit ihrer Remington-Schreibmaschine, einem Romanmanuskript, dem Ulysses von James Joyce und einem englischen Lexikon - in einen verrauchten Überlandbus steigt, der sie vom elterlichen Hof nach Reykjavík bringt. Dort, in der Stadt der Poeten, will sie ihren Traum verwirklichen und mit Büchern berühmt werden.
Doch schnell stellt sie fest, dass in der konservativen, männerdominierten Gesellschaft das Interesse an einer Miss Island größer ist als das an einer Schriftstellerin ...
Audur Ava Ólafsdóttir, eine der besten Schriftstellerinnen Islands, lebt in Reykjavík. Sie schreibt Romane, Theaterstücke und Gedichte. Ihre Bücher, in 25 Sprachen übersetzt, wurden vielfach ausgezeichnet. Für ihren Roman <em>Miss Island</em> erhielt sie in Frankreich 2019 den Prix Médicis étranger für den besten ausländischen Roman des Jahres. Im Insel Verlag erschien zuletzt ihr Roman<em> Hotel Silence</em>.
Dichter sind Männer
Eine Staubwolke hängt in der Luft hinter dem Überlandbus nach Reykjavík, die Straße ist ein Waschbrett, das sich vorwärts windet, Kurve um Kurve, bald sieht man nichts mehr durch die verschmierten Fenster, gleich verschwindet der Schauplatz der Laxdæla Saga im Dreck.
Der Schalthebel knarzt beim Bergauf- und Bergabfahren, und ich habe den Verdacht, dass der Bus keine Bremsen hat. Der große Riss quer über die Windschutzscheibe scheint den Fahrer nicht zu stören. Es sind kaum Autos unterwegs, und wenn wir ausnahmsweise mal einem anderen Fahrzeug begegnen, drückt der Fahrer kräftig auf die Hupe. Um an einem Planierer vorbeizukommen, muss der Bus an den Rand der Schotterstraße ausweichen und wippt dort auf und ab. Die Straßenplanierung ist eine große Neuigkeit im Dalir-Bezirk und veranlasst die Fahrer dazu, ihre Scheiben herunterzukurbeln, sich aus den Fenstern zu lehnen und ausgiebig miteinander zu schwatzen.
»Man kann froh sein, wenn man keine Achse verliert«, höre ich den Busfahrer sagen.
Dabei befinde ich mich in diesem Augenblick gar nicht kurz hinter Búðardalur, sondern in Dublin, denn mein Finger liegt auf Seite dreiundzwanzig von Ulysses. Ich hatte von einem Roman gehört, der so dick sei wie die Njáls Saga und den man im Englischen Buchladen in der Hafnarstræti kaufen und sich in den Westen schicken lassen könne.
»Is it French you are talking, sir?« the old woman said to Haines.
Haines spoke to her again a longer speech, confidently.
»Irish,« Buck Mulligan said. »Is there Gaelic on you?«
»I thought it was Irish,« she said, »by the sound of it.«
Das Lesen ist mühsam, weil der Bus so stark wackelt, und auch, weil ich kaum Englisch kann. Ich habe das aufgeschlagene Wörterbuch auf dem freien Platz neben mir liegen, aber die Sprache ist schwieriger, als ich dachte.
Ich spähe aus dem Fenster. Lebte auf dem Hof da hinten nicht eine Dichterin? War es nicht genau dieser düstergraue, reißende Fluss, voll mit Sand und Schlamm, der in ihren Adern rauschte? Die Kühe mussten darunter leiden, erzählten sich die Leute, denn während sie dasaß und über die Liebschaften und tragischen Schicksale der Landbevölkerung schrieb, bestrebt, Schaffarben in einen Sonnenuntergang über dem Breiðafjörður zu verwandeln, vergaß sie, die Kühe zu melken. Es gab keine größere Sünde, als dass man vergaß, einen prallen Euter zu leeren. Immer wenn sie benachbarte Höfe besuchte, blieb sie zu lange sitzen, wollte entweder Gedichte rezitieren oder schwieg stundenlang und tunkte Zuckerwürfel in ihren Kaffee. Man erzählte, sie höre beim Schreiben Streichorchester, wecke nachts ihre Kinder und trage sie hinaus auf den Hofplatz, um ihnen das zuckende Nordlichtermeer zu zeigen, wie es in Kaskaden über den schwarzen Himmel wogt, und zuweilen schließe sie sich im ehelichen Schlafzimmer ein und ziehe sich die Bettdecke über den Kopf. Da war so viel Schwermut in ihr, dass sie sich eines strahlend hellen Frühlingsabends in die silbergrauen Fluten des Flusses stürzte. Die Vorfreude auf ein frisches Trottellummen-Ei genügte ihr nicht mehr, denn sie hatte aufgehört zu schlafen. Man fand sie in einem Forellennetz bei der Brücke, zog eine Dichterin mit gestutzten Flügeln an Land, im klatschnassen Rock, mit Laufmaschen in den Strümpfen, den Bauch voll Wasser.
»Sie hat mir das Netz ruiniert«, klagte der Bauer, dem das Stellnetz gehörte. »Ich hab’s für Forellen ausgelegt, aber die Maschen waren doch nicht für eine Dichterin gemacht!«
Ihr Schicksal galt als abschreckendes Beispiel, aber sie war auch mein einziges Vorbild für eine weibliche Schriftstellerin.
Ansonsten waren Dichter Männer.
Ich lernte daraus, niemanden in meine Pläne einzuweihen.
Radio Reykjavík
Vor mir im Bus sitzt eine Frau mit einem kleinen Mädchen, das sich schon wieder übergeben muss. Der Bus schlingert über den losen Schotter und kommt zum Halten. Der Fahrer drückt auf einen Knopf, die Tür öffnet sich der Herbstluft, zischend wie ein Dampfbügeleisen, und die müde aussehende Frau im Wollmantel führt das Mädchen die Stufen hinunter. Bereits zum dritten Mal muss das reisekranke Kind hinausgelassen werden. Die Straßen sind mit Gräben gesäumt, denn die Bauern dränieren das Land und trocknen den Lebensraum der Watvögel aus. Spitzer Stacheldraht ragt hier und dort aus dem Boden, wobei schwer zu erkennen ist, welches Flurstück er abgrenzen soll.
Bald bin ich so weit von zu Hause entfernt, dass ich die Namen der Höfe nicht mehr kenne.
Auf dem Trittbrett setzt die Frau dem Kind eine Wollmütze auf und zieht sie ihm über die Ohren. Ich beobachte, wie sie ihm die Stirn hält, während es einen dünnen Strahl rauswürgt. Dann tastet sie in ihrer Manteltasche nach einem Stofftaschentuch und wischt dem Kind den Mund ab, bevor sie es wieder in den verqualmten Bus hebt.
Ich krame mein Notizbuch heraus, schraube den Füllfederhalter auf und schreibe zwei Sätze. Dann schraube ich den Stift wieder zu und schlage Ulysses auf.
Der Fahrer klopft seine Pfeife auf dem Trittbrett aus, schaltet das Radio ein, und die Männer sammeln sich vorne im Bus, breite Schultern und Hüte drängen sich zusammen, die Ohren gespitzt, gleich beginnt der Wetterbericht, und die Bekanntmachungen. Der Fahrer dreht die Lautstärke hoch, um das Lärmen des Motors zu übertönen. Guten Tag, hier ist Radio Reykjavík, hört man, dann rauscht es, und er fummelt an dem Knopf herum, um die richtige Frequenz zu finden. Der Empfang ist miserabel, aber ich höre, dass auf einem Boot ein Matrose gesucht wird, der sofort losfahren kann. Dann knackt es, und die Stimme des Ansagers bricht ab. Die Männer verteilen sich wieder im Bus und zünden sich Zigaretten an.
Ich blättere die Seite um. Die Hauptperson, Stephen Dedalus, trinkt Tee, als der Busfahrer einen Ferguson-Traktor überholt, der an uns vorbeigefahren ist, während das Kind sich erbrochen hat.
Stephen filled a third cup, a spoonful of tea colouring faintly the thick rich milk.
Wie viele Seiten würde es wohl dauern, einen Traktor zu überholen, wenn James Joyce Fahrgast im Überlandbus nach Reykjavík wäre?
Mutterwale
Der letzte Halt ist an der Raststätte im Hvalfjörður, wo gerade ein Boot mit zwei Pottwalen einläuft. Sie sind seitlich an der Reling festgebunden, jeder Wal ungefähr eine Bootslänge lang, Gischt schäumt über die schwarzen Körper. Das Boot schaukelt in der Brandung, im Vergleich zu den riesigen Säugetieren sieht es aus wie ein Kinderspielzeug, das in einer Badewanne schwimmt.
Der Fahrer steigt als Erster aus dem Bus, gefolgt von den Reisenden. Ein penetranter Geruch weht von den Trankesseln herüber, und die Fahrgäste eilen in die Raststätte. Es gibt Spargelsuppe und paniertes Kotelett mit Kartoffeln und Rhabarbermarmelade, aber ich habe noch keine Arbeit und muss mir mein Geld gut einteilen, deshalb nehme ich nur eine Tasse Kaffee und ein Stück Sandkuchen. Auf dem Weg zurück zum Bus pflücke ich zwei Handvoll Blaubeeren.
An der Walfangstation stößt ein älterer Mann im Mantel zu den Fahrgästen. Er steigt als Letzter ein, lässt den Blick durch den Bus schweifen, erspäht mich und fragt, ob der Platz neben mir frei sei. Ich nehme das Wörterbuch vom Sitz, und als er sich setzt, lupft er seinen Hut. Sobald der Bus vom...
| Erscheint lt. Verlag | 22.6.2021 |
|---|---|
| Übersetzer | Tina Flecken |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | OT: Ungrfú Ísland |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Schlagworte | 1960er • 60er • Bestseller • Geschenkbuch für Frauen • Gesellschaft • insel taschenbuch 4924 • Island • IT 4924 • IT4924 • mutige Frauen • neues Buch • Nordeuropa Skandinavien • Prix Médicis étranger 2019 • Rollenbilder • Rollenzuschreibungen • Schriftstellerin • Starke Frauen • Theater • Ungrfú Ísland deutsch |
| ISBN-10 | 3-458-76879-3 / 3458768793 |
| ISBN-13 | 978-3-458-76879-1 / 9783458768791 |
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