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Der Weihnachtskarpfen (eBook)

Erzählungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30302-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Weihnachtskarpfen -  Vicki Baum
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Vicki Baums Erzählungsband »Der Weihnachtskarpfen« erstmals als E-Book. Zeitlose Geschichten, in denen in klaren Worten von Menschen berichtet wird, denen Hunger, Krieg und Tod begegnen - und die dennoch um Menschlichkeit und Würde ringen.  »Vermutlich das Anständigste, was ich geschrieben habe«, urteilte die Autorin selbst kokett über ihre Erzählungen. Gleich die erste des Bandes, »Der Weg«, brachte ihr den Hauptpreis eines Wettbewerbs ein und das besondere Lob eines Jury-Mitglieds: Thomas Mann. Baums berührende, fein beobachtete Geschichten wirken beeindruckend modern. Und bei aller Unterhaltsamkeit verhandeln sie wie nebenbei die ganz großen Themen der Existenz: Krieg, Liebe und Tod.

Vicki Baum, geboren 1888 als Tochter einer jüdisch-bürgerlichen Familie in Wien, gestorben 1960 in Hollywood. Sie war ausgebildete Musikerin und arbeitete ab 1926 als Redakteurin in Berlin. 1932 wanderte sie nach Hollywood aus, wo ihr Roman »Menschen im Hotel« verfilmt wurde. In Deutschland wurden ihre Bücher von den Nazis als »Asphaltliteratur« verfemt und verbrannt. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und teilweise dramatisiert und verfilmt worden.

Vicki Baum, geboren 1888 als Tochter einer jüdisch-bürgerlichen Familie in Wien, gestorben 1960 in Hollywood. Sie war ausgebildete Musikerin und arbeitete ab 1926 als Redakteurin in Berlin. 1932 wanderte sie nach Hollywood aus, wo ihr Roman »Menschen im Hotel« verfilmt wurde. In Deutschland wurden ihre Bücher von den Nazis als »Asphaltliteratur« verfemt und verbrannt. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und teilweise dramatisiert und verfilmt worden.

Inhaltsverzeichnis

Der Weg


1

Die Weckuhr hatte noch nicht geklingelt; dennoch erwachte Frau Zienkann mit einem harten und stoßenden Erschrecken. Ein Traum blieb hinter ihr zurück, bedrückend, ein unheimliches Gespinst, das vor ihren aufgeschlagenen Augen zerfloss und vergessen war. Sie schaute dumpf ins Zimmer hin, das noch dämmerdunkel war und angefüllt mit Fremden und missvergnügt scheinenden Dingen. Die Fenster lagen grau im Morgen, ihre nassen Scheiben hellten sich langsam. Ein fahler Reflex von draußen fing sich im Spiegel des Wäscheschrankes.

Der Schrank – dachte Frau Zienkann, und dabei erwachte sie vollends. Sie hatte beim Einschlafen an den Schrank gedacht, und wahrscheinlich war er es, der sie lange vor dem Klingeln der Weckuhr aus dem Schlaf gestoßen hatte. Der Motor in ihrem Hirn war angekurbelt und lief pflichttreu dort weiter, wo er gestern zum Stillstand gekommen war. Die Stirn schmerzte ein wenig …

Der Schrank also – kein Zweifel – war zu klein, war längst über alle Gebühr angefüllt und vollgestopft, und nun ging es nicht weiter. Er hatte eine Abteilung für Kleider und eine für Wäsche, es war ein praktisches Möbelstück, gewiss. Aber nun waren die Kinder groß, Otto und Marianne, es gab lange Konfirmandenhosen, Sporthemden, Schlipse, es gab Tanzkleider und gestrickte Jacken und mädchenhafte Untertaillen aus Batist. Es gab Dinge, die hängen mussten, unter allen Umständen, säuberlich, über Bügeln, die Frau Zienkann selbst zu umhäkeln pflegte; es gab andere Dinge, die gelegt sein wollten, die in Laden gehörten, und andere, heikle, die Platz in Fächern benötigten. Frau Zienkann konnte mit geschlossenen Augen (die ganz schwach schmerzten) die Ordnung sehen, welche den unterschiedlichen Kleidungsstücken ihrer Familie gebührte, und die Pflege, die zur Erhaltung dieser Gegenstände nötig gewesen wäre.

Aber in dem viel zu kleinen, viel zu überfüllten Schrank herrschte einfach das Chaos. Und Frau Zienkann, die eine gute Hausfrau war, litt beinahe körperlich bei dem Gedanken an diesen Schrank, ja, sie fühlte im ganzen Körper einen schwachen, unbestimmten Schmerz, während sie so dalag und an den Schrank dachte –

Übrigens hatte sie gestern Abend, schon halb im Einschlafen, den Entschluss gefasst, einen neuen Schrank zu kaufen, baldmöglichst, heute, an ebendiesem Montag, dessen Morgen bei den regentrüben Scheiben ins Zimmer zu scheinen begann. Und bei der Erinnerung an diesen Entschluss wichen die Schmerzen und machten einem angenehmen Gefühl der Erregung und Verantwortung Platz; Frau Zienkann legte die Hände gesammelt vor sich hin auf ihren Leib und begann zu rechnen, wobei ihre Pupillen sich zusammenzogen und ihr Gesicht von einem beinahe törichten Ausdruck der Anspannung ergriffen wurde.

Jetzt erst klingelte die Weckuhr. Sofort begann Herr Zienkann im Nebenbett zu stöhnen, zu ächzen, seufzende Laute auszustoßen, die schließlich in einen trockenen Husten übergingen, denn Herr Zienkann litt ständig an den Bronchien. Er hustete zehn Minuten lang, wie jeden Morgen, während Frau Zienkann bekümmert den Kopf schüttelte. Dann schlug die Uhr im Nebenzimmer siebenmal. Herr Zienkann streckte seine Füße aus dem Bett und angelte mit geschlossenen Augen nach den Pantoffeln. Auch Frau Zienkann erhob sich, obwohl es ihr an diesem Montag wunderlich schwerfiel …

Dies aber ist Frau Zienkanns Tagewerk: Sie erhebt sich, zieht sich rasch an und ist lange vor ihrem hustenden Gatten fertig. Sie weckt die Kinder auf, Otto, den Gymnasiasten, und Marianne, die in die Handelsschule geht. Sie rüttelt das träge kleine Dienstmädchen aus dem Schlaf und setzt inzwischen schon in der Küche Wasser auf den Gasherd fürs Frühstück. Es ist kalt in allen Räumen, kleine Dampfwolken ziehen vor ihrem Mund hin. Sie streicht Brote und richtet Päckchen her, sie näht noch schnell einen abgerissenen Knopf an. Sie weckt nochmals das kleine verschlafene Dienstmädchen und deckt inzwischen den Frühstückstisch. Ihre Finger zittern morgens immer ein wenig vor Nervosität, bis sie den Mann und die Kinder pünktlich und wohlversorgt aus dem Haus gebracht hat. Nachher wird es ein wenig angenehmer. Sie rechnet das Haushaltsbuch durch und entwirft den Plan für den laufenden Tag. Sie putzt den Kanarienvogel; sie begießt die Blumen. Sie räumt das Schlafzimmer auf, wobei ihre Hände blau vor Kälte werden. Sie wischt im Wohnzimmer den Staub, sie schilt mit dem trägen kleinen Dienstmädchen, das alles nur halb macht. Sie steht am Kohlenaufzug und hilft die Eimer heraufziehen, sie überwacht das heikle und sparsam gehandhabte Geschäft des Einheizens. Sie tut ein altes Regenhütchen auf den Kopf, nimmt eine Markttasche zur Hand, die aus einem alten Rockfutter gemacht ist, und trabt zur Halle, wo es heute billigen Fisch gibt. Sie segelt mit der schweren und gefüllten Tasche heimwärts, sie zankt mit dem Dienstmädchen und bohnert nun selbst den Flur, der nicht sauber geworden ist. Sie kocht. Sie plättet eine Bluse für Marianne, die nachmittags eingeladen ist. Sie kocht wieder. Bei Zienkanns isst man in drei Abteilungen: Marianne kommt um ein Uhr und muss um drei wieder fort; Otto kommt um halb drei und muss um vier Uhr wieder fort. Herr Zienkann kommt nach vier und schläft hinterher. Das Dienstmädchen knurrt über solche Wirtschaft, bei der man nie fertig wird. Frau Zienkann trocknet selbst das Geschirr mit ab –

Sie stopft dem Mann die Wäsche, überhört die Aufgaben des Gymnasiasten, sie sitzt im Hinterzimmer an der Maschine und macht aus sechs alten Bettlaken drei neue, sie trennt ein Kleid auf und schneidet etwas für Marianne daraus zurecht, wobei ihre Finger zittern. Sie plättet steife Kragen, kunstvoll und mit Glanzstärke. Sie richtet das Abendbrot her. Sie schaut ein wenig in ihr Haushaltsbuch, wobei ihr Gesicht wieder jenen törichten Ausdruck der Anspannung annimmt. Nachher seufzt sie. Herr Zienkann liest ungerührt die Zeitung und gähnt manchmal. Auch Frau Zienkann ist müde; aber sie wartet noch, bis Otto, der bei einem Freund ist, heimkommt. Sie nimmt sogar noch eine Handarbeit vor; sie häkelt eine endlose, endlose Spitze für Mariannens Wäsche und denkt dabei an den Schrank, den sie kaufen muss.

Nein, es ist nichts Besonderes um diese Frau Elisabeth Zienkann; sie ist nur eine von hunderttausend Frauen, die das gleiche Tagewerk betreiben. Sie ist nicht groß und nicht klein, eher zart gebaut; nicht hässlich, aber auch nicht hübsch. Nicht mehr jung, aber auch nicht alt. Nicht unglücklich, aber auch nicht glücklich. Sie erzählt manchmal, dass sie früher schönes Haar gehabt hätte. Sie steht zuweilen still in der guten Stube und schaut die Fotografie des jungen Herrn Zienkann an; es kommt vor, dass sie ihre zerarbeiteten Hände besieht und wunderlich lächelt. Man muss eine Creme kaufen – denkt sie dann und vergisst es wieder. Ganz selten geschieht es sogar, dass sie abends an das kleine Bücherbord geht und ein Buch herunterholt; aber dann schläft sie gewöhnlich bei der dritten Seite ein. Oder sie setzt sich vor das Pianino und nimmt nach einer Weile die Hände aus dem Schoß und schlägt einen Akkord an, und dann horcht sie lange hinterher, bis alle Klangwellen verzittert sind. Die Kinder lachen heimlich dazu. »Das Leben ist schwer –«, sagt Frau Zienkann zuweilen. Aber das ist im Grunde nur eine Redensart …

Es gibt Tage, an denen das Leben leicht ist, an denen alles pünktlich geschieht und glatt abläuft. Aber der Montag, an dem Frau Zienkann auszog, um den neuen Schrank zu kaufen, war nicht von dieser angenehmen Art. Zunächst war Frau Zienkann zu früh und plötzlich aufgewacht und hatte davon ein sonderbares, dumpfes Gefühl im Kopf behalten; dann regnete es, in einer gleichmäßigen und verzweifelten Art, und dazu wehte ein Wind, unter dessen Anstoß ihr ein Schauer nach dem anderen über den Rücken lief. Trotzdem spannte Frau Zienkann ihren Schirm auf und begab sich gesammelt auf den Weg. Sie besaß neunzig Mark, alles in allem, und wusste genau, was sie wollte. Sie brauchte einen dreiteiligen Schrank, der zwei Abteilungen zum Legen und eine zum Hängen hatte, der ferner Laden und, wenn möglich, einen Spiegel besaß. Er sollte, falls das Geld reichte, aus Nussholz sein, zum Schlafzimmer passend, dann konnte der alte Schrank in den Flur gestellt werden; er konnte auch weiß gestrichen sein und in Mariannens Zimmer kommen. Schlimmstenfalls – dachte Frau Zienkann – kaufe ich irgendeinen großen Schrank, mag er aussehen wie immer, und stelle ihn in den dunklen Flurwinkel. Aber bei dieser Idee fühlte sie wieder den unbestimmten körperlichen Schmerz und Kummer vom Morgen und ein wunderliches Ekelgefühl.

Frau Zienkann also begab sich auf den Weg und besah Schränke. Sie wanderte zunächst in ein bewährtes Möbelgeschäft in der Hauptstraße, wo man keinen einzelnen Schrank, nur ganze Zimmer abgeben wollte. In ein zweites, wo die Auswahl klein und die Preise groß schienen. In ein drittes, weit abgelegenes, wo die Ausführung mangelhaft war und der billigste Schrank dreihundert Mark kostete. Sie trabte zurück in die Altstadt, in die kleinen, schlecht berufenen Läden, fand einen Schrank um neunzig Mark, der viel zu klein war und ihr so sehr missfiel, dass sie sich nicht zum Kauf entschließen konnte. Wieder in die Vorstadt, über Hinterhöfe in eine Möbeltischlerei, wo es nach Leim roch, wo sie einem schielenden Menschen mit braun gebeizten und tätowierten Armen ihre Wünsche vorlegte und die Preise für einen neu anzufertigenden Schrank erfragen wollte. Sie war nun schon sehr müde. Aus ihrem Schirm rann...

Erscheint lt. Verlag 4.11.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte der Weg • Frühe Erzählungen • Hunger • Klassiker • Krieg • Liebe • Menschen im Hotel • Novellen • Tod • Vicky Baum-Erzählungen
ISBN-10 3-462-30302-3 / 3462303023
ISBN-13 978-3-462-30302-5 / 9783462303025
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