Sie beobachtet dich (eBook)
352 Seiten
Piper ebooks (Verlag)
978-3-492-99961-8 (ISBN)
Camilla Way, geboren 1973 in London, studierte englische Literaturwissenschaft und arbeitete als Journalistin unter anderem für »Elle« und »The Guardian«. Sie lebt mit ihrem Partner und ihren Zwillingssöhnen im Südosten von London.
Camilla Way, geboren 1973 in London, studierte englische Literaturwissenschaft und arbeitete als Journalistin unter anderem für "Elle" und "The Guardian". Sie lebt mit ihrem Partner und ihren Zwillingssöhnen im Südosten von London.
Danach
Vor meinem Küchenfenster verblasst der lange Nachmittag. Ich schaue auf London, das sich unter mir ausbreitet, während ich die tropfenden Hände über das Spülbecken halte. Es klingelt an der Wohnungstür, ein langes, hohes Läuten; die kaputte Gegensprechanlage vibriert. Der Blick von hier oben ist unglaublich, fast so, als würde man fliegen. Deptford und Greenwich, New Cross und Erith, dann die Themse und jenseits davon die hoch aufragenden Fassaden des Gherkin und Shard. Aus meiner Wohnung auf dem Telegraph Hill im obersten Stockwerk des Hauses sieht man unendlich weit. Wie immer beruhigt und besänftigt mich dieser Anblick: Wie groß doch alles ist, wie klein ich dagegen selbst bin, wie weit entfernt von allem, was früher war.
Die Türklingel ertönt jetzt dringlicher – jemand drückt unablässig auf den Knopf. Es wird schon Abend.
Anfangs habe ich Heather überall gesehen. Connor natürlich auch. Ich sah sie oder ihn flüchtig aus den Augenwinkeln, und dann spürte ich diesen scharfen, eisigen Ruck. Auch nachdem ich begriffen hatte, dass es nur eine Illusion gewesen war, jemand mit ähnlichen Haaren, einem gleichartigen Gang, war ich noch lange zittrig, und mir war flau im Magen. Immer wenn das geschah, flüchtete ich an einen belebten Ort, um mich in der Menschenmenge zu verlieren. Ich ließ mich durch die Straßen Süd-Londons treiben, bis ich mir wieder sicher war, dass all das vor langer Zeit und in großer Ferne geschehen war. Unendlich weit weg in einer Kleinstadt in den West Midlands. Und die Türklingel läutet und läutet … Ich habe immer gewusst, dass es eines Tages geschehen wird.
Zusammen mit vielen anderen wohne ich in einem großen, hässlichen Haus aus dem 19. Jahrhundert mit winzigen, zugigen Wohnungen. Die meisten davon sind Genossenschaftswohnungen. Ich stelle einen Schuh in die Wohnungstür, damit sie nicht zuschlägt, und mache mich auf den Weg nach unten, zur Haustür. Auf der Treppe höre ich die Bewohner durch die weißen, mit Messingschildern versehenen Türen: das Schreien eines Babys, Lachen aus dem Fernseher, ein streitendes Paar – das Leben von Fremden.
Völlig unvorbereitet auf das, was mich hinter der breiten, schweren Eingangstür erwartet, ziehe ich sie auf. Plötzlich ist mir, als würde die Welt kippen, ich muss mich am Türrahmen festhalten, um nicht hinzufallen. Denn auf der Schwelle steht sie und sieht mich an. Nach all diesen Jahren ist sie da: Heather.
Ich habe mir diesen Moment so viele Hundert Male und so viele Jahre lang vorgestellt, habe von ihm geträumt und ihn gefürchtet, sodass er sich jetzt, in der Wirklichkeit, einerseits völlig surreal und zugleich sehr enttäuschend anfühlt. An diesem ganz normalen Nachmittag an einer ganz normalen Londoner Straße nehme ich wie aus weiter Ferne wahr, dass das Leben um mich herum weitergeht – Autos und Menschen kommen vorbei, ein Stück entfernt spielen Kinder, ein Hund bellt –, und während ich ihr ins Gesicht starre, schmecke ich das saure Aroma von Furcht auf der Zunge. Ich mache den Mund auf, bringe aber kein Wort heraus, und so stehen wir eine Weile schweigend da, zwei dreiunddreißigjährige Versionen der Mädchen, die wir einst waren.
Sie ergreift als Erste das Wort. »Hallo, Edie.«
Und dann tut sie etwas, was ich mir bisher nie vorstellen konnte: Sie tritt über die Schwelle. Mein Herz macht einen Satz, als sie mir so nahe kommt, sie breitet die Arme aus und umarmt mich. Steif und verschlossen stehe ich da, während die Erinnerungen auf mich einprasseln: das Gefühl ihrer drahtigen Haare auf meiner Wange, der merkwürdige Zwiebelgeruch, den ihre Kleider immer schon verströmten, ihre große, massige Gestalt. Mein Kopf ist leer, nur noch der Herzschlag in meiner Kehle ist zu spüren. Und jetzt geht sie hinter mir her durch den Flur – nein, nein, nein, das ist alles nur ein Traum – und die Treppe hinauf, vorbei an den Türen mit den Messingschildern und der abblätternden Farbe. Dann sind wir oben, und ich sehe, wie meine Hand die Tür zu meiner Wohnung aufschiebt, und wir betreten meine Küche – nein, nein, nein. Wir setzen uns an meinen Küchentisch, und ich blicke in das Gesicht, von dem ich hoffte, es niemals in meinem Leben wiedersehen zu müssen.
Zunächst sagt keine von uns etwas, und ich sehne mich zutiefst nach dem ruhigen Leben, das ich noch vor wenigen Augenblicken in diesen drei engen Räumen geführt habe. Der Wasserhahn tropft, die Sekunden vergehen, die bräunlichen Triebe meiner Grünlilie zittern auf dem Fensterbrett. Ich stehe auf, damit ich Heather nicht mehr ansehen muss, und halte mich an der Arbeitsplatte fest. So, mit dem Rücken zu ihr, bringe ich endlich etwas heraus. »Wie hast du mich gefunden?«, frage ich, und als sie nicht antwortet, drehe ich mich um. Sie mustert das Zimmer, blickt hinaus in den Flur und in das schmale Wohnzimmer mit dem ausgezogenen Klappbett.
»Hm?«, macht sie. »Ach …« Sie sieht mich an. »Deine Mutter. Sie wohnt noch in eurem alten Haus.«
Und ich nicke, obwohl ich das nicht mit Sicherheit wusste, weil meine Mutter und ich schon seit vielen Jahren nicht mehr miteinander reden. Im nächsten Moment bin ich dort, in dem Haus in Fremton. Wir sitzen in der Küche, das Neonlicht flackert, die Fenster sind wie Spiegel vor der schwarzen Dunkelheit draußen. Mir laufen die Tränen übers Gesicht, und ich erzähle Mum alles, was in dieser Nacht geschehen ist, bis ins kleinste Detail, so als würden, wenn ich ihr davon berichte, die Schreie in meinem Kopf aufhören, als könnte die Schilderung die Erinnerungsbilder in mir zum Verschwinden bringen. Ich erzähle von Heather und Connor und davon, was sie getan haben, aber es ist, als würde ich einen Horrorfilm nacherzählen. Ich lausche meinen eigenen Worten und kann kaum glauben, dass alles, was ich erzähle, tatsächlich wahr ist. Ich höre nicht auf zu reden, bis ich ihr auch noch die kleinste Kleinigkeit beschrieben habe, und als ich geendet habe, strecke ich die Arme nach ihr aus. Aber der Körper meiner Mutter ist stocksteif, ihr Gesicht grau vor Entsetzen. Sie weicht vor mir zurück, und ich hoffe, dass mich niemals mehr in meinem Leben jemand so ansieht wie sie in diesem Moment.
Als sie endlich etwas sagt, spuckt sie die Worte aus wie Steine. »Geh ins Bett, Edith«, sagt sie, »und sprich mit mir nie wieder darüber. Hörst du? Ich will davon nie mehr etwas hören.« Dann dreht sie sich um, starrt aus dem Fenster, und ich sehe ihr verkrampftes, schreckliches Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelt. Am nächsten Morgen stehe ich vor Sonnenaufgang auf, nehme etwas Geld aus ihrem Portemonnaie und steige in den Zug zu meinem Onkel Geoff in Erith. Ich kehre nie mehr zurück.
Dass Heather meine Adresse von meiner Mutter hat, verblüfft mich. Mein Onkel hat nie erfahren, was der Auslöser für den Bruch zwischen uns war. Er hoffte immer, wir würden uns eines Tages wieder versöhnen. Daher überrascht es mich nicht, dass er meiner Mutter verraten hat, wo ich wohne. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie die Adresse tatsächlich notiert und aufbewahrt hat.
Plötzlich überfällt mich eine tiefe Erschöpfung. Dennoch zwinge ich mich zu fragen: »Was willst du, Heather? Warum bist du hier?« In meinem tiefsten Inneren wusste ich immer, dass dieser Moment kommen würde. Hatte ich nicht Nacht für Nacht davon geträumt und war in den frühen Morgenstunden voller ängstlicher Erwartung aufgewacht?
Zunächst antwortet sie nicht. Auf dem Tisch vor ihr liegt ihre Handtasche, ein aus schwarzer Wolle gestricktes Ding mit einem abgestoßenen Plastikknopf. Fussel, Krümel und eine Menge beigefarbene Härchen hängen daran – vielleicht Katzenhaare. Ihre kleinen, dunkelbraunen Augen sehen mich durch die lichten, hellen Wimpern an; sie trägt kein Make-up, abgesehen von einem verschmierten hellrosa Lippenstift, der überhaupt nicht zu ihr passt. In die Stille hinein tönt eine Frauenstimme von der Straße herauf: »Terry … Terry … Teeerrryyy …« Wir lauschen, wie sie leiser wird und verhallt, und genau jetzt senkt sich die Dunkelheit auf London herab, dieser melancholische Moment, kurz bevor die Lichter der Stadt plötzlich hell erstrahlen. Ich vernehme ein leises Beben in Heathers Stimme, als sie sagt: »Nichts. Ich will nichts. Ich wollte dich nur wiedersehen.«
Mit Mühe versuche ich das zu verstehen, verwirrt tastet mein Geist nach verschiedenen Erklärungen. Aber da ergreift sie erneut das Wort und sagt mit so viel Einsamkeit ...
| Erscheint lt. Verlag | 28.10.2021 |
|---|---|
| Übersetzer | Uta Rupprecht |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Watching Edie |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Angst • Buch Männer • Das Böse in ihr Teil 2 • Gänsehaut • Horror • Krimi • Kriminalroman • London • Lügen • Nervenkitzel • Paranoia • Psycho Bücher • psychologische Spannung • Psychothriller • Soziopath • spannend • Stalking • Taschenbuch • Top 10 Thriller • überraschende Wendungen |
| ISBN-10 | 3-492-99961-1 / 3492999611 |
| ISBN-13 | 978-3-492-99961-8 / 9783492999618 |
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