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Eure Leben, lebt sie alle (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
384 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43907-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eure Leben, lebt sie alle -  Sybille Hein
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Frauen wie wir - kurzzeitig aus der Spur geraten Wer hat noch mal das Gerücht in die Welt gesetzt, dass man in der Mitte des Lebens auch in der Mitte von sich selbst angekommen ist? Ellen setzt den Abgründen ihrer Patienten immer bessere Rezepte entgegen, aber die eigenen werden zu Treibsand unter ihren Füßen. Freddy fragt sich, ob der enorme Umfang ihres Körpers die einzig sichtbare Größe in ihrem Leben darstellt. Luise verpfuscht ihre Bilderbuchfamilie, Johanna springt. Und Marianne? Der Grand Dame dieser Schicksalsgemeinschaft kriechen alte Geister durchs Schlüsselloch. Allen voran ihr früh verstorbener Sohn Jonas, der auch im Leben der anderen einmal eine große Rolle gespielt hat. Wie jede dieser fünf Frauen mit verrutschten Gewissheiten ringt, davon handelt dieser Roman.

Sybille Hein, in Niedersachsen geboren, studierte Philosophie und Illustration und tourte viele Jahre mit ihren Kabarettprogrammen über die Bühnen der Republik. Heute schreibt sie Bücher für Große und Kleine, Hörspiele, satirische Texte und subversive Lieder. Sie verträgt immer weniger Rotwein - verrückte Gedanken, Geschichten und menschliche Abgründe dafür umso besser.

Sybille Hein, in Niedersachsen geboren, studierte Philosophie und Illustration und tourte viele Jahre mit ihren Kabarettprogrammen über die Bühnen der Republik. Heute schreibt sie Bücher für Große und Kleine, Hörspiele, satirische Texte und subversive Lieder. Sie verträgt immer weniger Rotwein – verrückte Gedanken, Geschichten und menschliche Abgründe dafür umso besser.

MARIANNE


Hätte Ellen mich gefahren, wäre das nicht passiert.

Einen Tag nach meinem achtundzwanzigsten Geburtstag habe ich aufgehört zu rauchen. Kurz nach meinem achtzigsten fange ich wieder damit an. Böhm hat mich verführt. Seine gelben Fingerkuppen konnten mich nicht davon abhalten, zuzugreifen. Auch nicht seine erbarmungswürdigen selbst gedrehten Papierwürmer, aus denen an beiden Enden lange, dünne Tabaktentakeln herausragen. Rührend eigentlich, dass sie noch exakt so aussehen wie vor dreißig Jahren.

Böhm hielt mir die Blechdose mit den Zigaretten wortlos unter die Nase, als wir den Kiesweg zum Parkplatz zurückliefen. Sein Feuerzeug schnippte, da saß ich bereits im Wagen. Schnipp. Schnipp. Schnipp. Schnipp! Schnipp! Ich hatte vergessen, dass man auch an den verflixten Dingern saugen muss, damit die Sache Schwung aufnimmt.

Auf dem Hinweg zur Klinik hatte ich noch am Steuer gesessen, jetzt ließ Böhm mein Auto an und lenkte es gleich darauf vom Parkplatz.

Er bog in die Ausfahrt ein, und ich nahm den zweiten tiefen Zug. Beim dritten klappte ich den Sonnenschutz herunter und sah das mächtige Backsteingebäude im Spiegel immer kleiner werden.

»Frau Kiekhöfel, ich habe hier schon alles erlebt. Sie müssen sich nicht entschuldigen.«

»Ich entschuldige mich nicht.«

»Nehmen Sie sich noch etwas Zeit, wir laufen Ihnen nicht weg. Aber irgendwann sollten Sie sich Gewissheit verschaffen.«

»Natürlich.«

»Vielleicht brauchen Sie mehr Anlauf, es ist ein großer Schritt.«

Ich nickte. Ich betrachtete die hübsch geschwungenen Augenbrauen meines Gegenübers. Seine faltenlose Stirn. Was wusste so ein Jungspund von großen Schritten und Gewissheiten? Was hatte er in seinem kurzen Leben schon alles kennengelernt? Nicht viel, wenn er in diesem Alter bereits Chefarzt war – seine Patienten am allerwenigsten. Alle zehn Minuten eine andere alte Schachtel, die nicht einsehen will, dass ein achtzig Jahre alter Körper nach und nach den Geist aufgibt.

»Manche Teile kann man austauschen (Kniegelenk, Hüfte, Zahnersatz …), andere mit technischen Raffinessen unterstützen (Herzschrittmacher, Hörgerät, Insulinpumpe …). Aber das Gehirn … das Gehirn, Frau Kiekhöfel, eins der wenigen Organe, das sich weder austauschen noch aufpolieren lässt.«

»Schade.«

»Möglich, dass es sich um behebbare Leistungsstörungen handelt. Schilddrüse, Altersdiabetes … Sie sollten sich Gewissheit verschaffen. Im Hinblick auf Ihre Kinder ist das ein verantwortungsvoller und wichtiger Entschluss. Sie haben Kinder?«

»Mein Sohn ist tot.«

»Das tut mir leid. Ihrem nahen Umfeld gegenüber haben Sie allerdings auch eine Verantwortung, es ist vernünftig … «

Vernunft. Gewissheit. Verantwortung. Der junge Dr. Winterfeldt hantiert mit diesen Worten wie mit billigem Plastikbesteck.

Aber bin ich vernünftig? Will ich Gewissheit? Entscheide ich seit ein paar Wochen nicht sowieso alles nur noch aus dem Bauch heraus?

Oder sind meine Bauchentscheidungen schon ein unbewusstes Eingeständnis, dass ich meinem alten Kopf nichts mehr zutrauen kann?

Als Böhm meinen Wagen auf den Autobahnring lenkt, habe ich schon die dritte Zigarette aufgeraucht. Aschekrümel rieseln auf meinen Schoß, sie könnten auch aus meinem Kopf gerieselt kommen. Abgerauchte Gehirnwindungen.

Wir verfahren uns zwei Mal. Böhm hat das Navi falsch programmiert. Als es uns auffällt, stecken wir schon auf der Avus im Nachmittagsstau fest.

Böhm hat dieser Ausflug auch mitgenommen, ich spüre es deutlich.

Aber wie immer in gefühlsmäßig vertrackten Momenten bekommt er den Mund nicht auf. Nicht, als ich schon nach fünf Minuten aus Dr. Winterfeldts Sprechzimmer gelaufen komme, und nicht auf der gesamten Autofahrt, die immerhin fast vierzig Minuten dauert. Ich schaue immer wieder zu ihm hinüber, er hält den Blick brav auf die Straße gerichtet.

Zu Hause angekommen, bringt er mich hoch in meine Wohnung. Er hilft mir aus dem Mantel und läuft weiter zum Herd, um Tee aufzusetzen.

Ich gehe ihm nach und nehme ihm den Teekessel aus der Hand. In Situationen wie diesen kann ich sein mitfühlendendes Schweigen nicht unbegrenzt ertragen.

Ich schiebe Böhm mit sanfter Gewalt zurück in den Flur und bedanke mich für seine Begleitung. Ich verspreche, später noch mal bei ihm vorbeizuschauen. Böhm nimmt mir das nicht übel. Wahrscheinlich ist er sogar ein bisschen erleichtert. Manchmal findet selbst er es ganz gut, dass wir zwei Wohnungen haben.

Auf der Autofahrt habe ich seine vielen Seufzer weggeraucht. Sein entschiedenes Einatmen, dem dann doch kein Wort folgte. Böhms Schweigen ist schon immer ein sehr lautes Schweigen gewesen. Ein ringendes Schweigen, das ich in dieser Form nur von Männern kenne.

Die meisten von ihnen fangen viel zu spät an, sich im Unterhalten zu üben. Wenn die Themen emotional etwas komplizierter werden, fehlt es ihnen schlichtweg an Worten und Handwerkszeug. Früher dachte ich, das sei ein Phänomen meiner Generation. Sprachamputierte Söhne gliederamputierter Kriegsveteranen. Aber mittlerweile habe ich meine Beobachtungen auf zwei weitere Generationen ausdehnen können, und siehe da, immer wieder wachsen neue Schweiger und Herumdruckser heran.

»Frau Kiekhöfel, bemerken Sie bei sich so etwas wie Wortfindungsschwierigkeiten? Fällt es Ihnen schwerer als früher, eine flüssige Unterhaltung zu führen?«

In Dr. Winterfeldts Sprechzimmer hatte ich allerdings auch eine Kiefersperre. Der freundliche Doktor war sich unsicher, ob ich unserem Gespräch überhaupt folgen konnte.

»Keine Wortfindungsschwierigkeiten«, presste ich hervor, als sein Blick immer bohrender wurde. »Normalerweise bin ich eine ausgemachte Quasselstrippe.«

Das ist die Wahrheit. Und doch wäre es die passende Gelegenheit gewesen, ihm von anderen seltsamen Momenten zu erzählen. Von den Lücken, die sich nicht zwischen mich und die Worte, sondern zwischen mich und mein Lebensumfeld schieben. Die dampfende Kaffeetasse vor mir, von der ich für den Bruchteil einer Sekunde nicht mehr weiß, wozu man sie benutzt. Die Schnürsenkel in meiner Hand, aus denen sich beim besten Willen keine Schleife binden lässt. Vor ein paar Tagen habe ich Böhms Fahrradschloss im Kühlschrank gefunden und kann mich partout nicht erinnern, wie es dorthin gekommen ist. Ich laufe mit einem vollen Wäschekorb durch meinen Flur, bleibe abrupt stehen und bin mir nicht mehr sicher, wo sich mein Schlafzimmer befindet. Ob ich überhaupt ein Schlafzimmer besitze. Ich wohne seit vierunddreißig Jahren in meiner Wohnung.

Es sind kurze Aussetzer. Ich hole Luft, ich fahre mir mit der Hand durchs Haar oder schüttele meine Armreifen, dann kommt die Erinnerung zurück. Dann schließt sich der feine Riss zwischen mir und dem Rest der Welt.

Natürlich könnten es auch die Nebenwirkungen meiner neuen Bluthochdrucktabletten sein. Frühlingsverwirrung. In früheren Jahren hätte ich es sofort auf die Hormone geschoben. Aber irgendwas daran kommt mir fundamentaler vor.

Böhm ist der Einzige, der von meinen Störmomenten weiß, und ich habe mehrere Anläufe gebraucht, ihm davon zu erzählen. Ohne den Termin in der Neurologie hätte ich mich niemals dazu durchringen können.

Nun habe ich dort nicht mal irgendwas in Erfahrung gebracht. Ich habe nichts in Erfahrung bringen wollen. Böhm ist umsonst Mitwisser geworden.

Ich würde mein Geständnis gerne wieder von ihm zurückfordern, aber Worte sickern ein wie eine Flüssigkeit. Einen Weinfleck kann man auch nicht zurücknehmen. Auch nicht den großen Schweißfleck in meiner Bluse, der auf der langen Autofahrt getrocknet ist. Bei Licht besehen, werde ich Rückstände finden. Riechen, fühlen, schmecken.

Aus Angst vor einsickernden Worten bin ich aus Dr. Winterfeldts Sprechzimmer geflüchtet. Schon jetzt hinterlassen seine Sätze bleibende Flecken. »Das Gehirn, Frau Kiekhöfel, ist eins der wenigen Organe, das sich nicht austauschen lässt.« Das Wissen um eine Krankheit kann schlimmer sein als die Krankheit an sich.

Und dann gibt es zusätzlich zu den Löchern in meinem alten Kopf auch noch einen schwarzen Fleck in meiner Brust. Kein Fleckenmittel der Welt kann ihn beseitigen. Selbst Luise mit ihrem Putzfimmel könnte diesem Fleck nicht beikommen. Sie müsste ihn schon rausschneiden.

Nach Böhms ausgedehntem Schweigemarathon würde ich mich gerne mit Frederike oder Ellen beratschlagen. Die beiden können gut mit verzweifelten Gestalten. Doch Frederike hat mit ihrem alten Vater schon genug Endzeitstimmung im Haus, und was Ellen angeht, will ich auf den letzten Metern nicht noch zu einer ihrer Patientinnen werden. Ich weiß ja, wie viele verrückte Alte sich immer wieder in ihre Praxis verirren.

Ich will die lebendige, robuste Marianne bleiben, so lange wie möglich. Die Marianne, die den Mädchen mit ihrem Dickschädel gehörig auf die Nerven geht. Die Marianne, die Luises Tochter heimlich Süßigkeiten zusteckt, mit Ellens verrückten Gören Geheimsprachen erfindet und Freddys verlauste Blumentöpfe rettet. Verlauste Kinderköpfe sowieso. Die Marianne, die immer und zu jeder Zeit vor Ort sein kann, wenn Not am Mann ist. Auch für Johanna, denke ich. Hoffentlich auch wieder für Johanna. In zwei Tagen fahren wir zu ihr in die Klinik. Und obwohl die Sache diesmal besonders böse aussieht, verspüre ich erstmalig Widerwillen. Johanna, die ihr kostbares Leben, schon wieder freiwillig, aus dem Fenster geschmissen hat.

In der Wohnung unter mir hat Böhm schon...

Erscheint lt. Verlag 12.1.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abschied • Berlin • Frauen • Frauenliteratur • Frauenroman • Frauenunterhaltung • Freundinnen • Gegenwartsroman • Geheimnisse • Geschenk beste Freundin • Geschenk Freundin • Humor • Lebenskrise • Liebe • Liebesgeschichte • Liebesromane deutsch • Midlifecrisis • Musik • Musiker • Mut • Neuanfänge • Role Models • roman berlin • Romane für Frauen • Urlaubsromane • Urlaubsromane für Frauen • Verlust • Vorbilder
ISBN-10 3-423-43907-6 / 3423439076
ISBN-13 978-3-423-43907-7 / 9783423439077
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