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Pippins Tochters Taschentuch (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
275 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76763-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Pippins Tochters Taschentuch - Rosmarie Waldrop
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Hätten Josef und Frederika Seifert mal besser nicht geheiratet!? Der Ort ist Kitzingen am Main, es sind die späten Zwanziger. Josef ist Kriegsveteran und Lehrer, sehr ins Metaphysische entrückt, Frederika rasend frustrierte Sängerin, rasend frustrierte femme fatale, die, unfähig zu den spirituellen Sublimationen ihres Mannes, bereits wenige Wochen nach der Trauung eine Affäre mit seinem besten Freund beginnt. Ist dieser Seitensprung an allem schuld, was folgen wird?

Das fragt - ein halbes Jahrhundert später - Lucy, die älteste Tochter, in Briefen an ihre Schwester (oder ist es ihre Halbschwester?). Hätte ihre Mutter nur ein Machtwort sprechen müssen, was die Musik Richard Wagners angeht, damit sich alles ganz anders entwickelt? Und hat der Umstand, dass Frederikas Liebhaber Jude war, Josefs Faszination für den Nationalsozialismus weiter entfacht?

Rosmarie Waldrop hat einen agilen, feinsinnigen und derben Roman geschrieben. Über eine marode Familie im anschwellenden Nationalsozialismus. Über Sehnsüchte, Enttäuschungen und Verrat. Über kleine Ursachen und große Wirkungen. Und über die beharrliche Ambivalenz einer nicht wirklich zu bewältigenden Vergangenheit.



<p>Rosmarie Waldrop, 1935 in Kitzingen am Main als Rosmarie Sebald geboren, studierte Literatur- und Musikwissenschaften in W&uuml;rzburg und Freiburg, bevor sie in den sp&auml;ten F&uuml;nfzigerjahren in die USA emigrierte. In den Sechzigern gr&uuml;ndete sie mit ihrem Ehemann Keith die Burning Deck Press, einen der ma&szlig;geblichen Verlage f&uuml;r Lyrik. Seit 1968 lebt Rosmarie Waldrop in Providence, Rhode Island, und hat an verschiedenen Universit&auml;ten gelehrt. Ihr vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst unter anderem 20 B&auml;nde Lyrik, 4 Essaysammlungen sowie zahlreiche &Uuml;bersetzungen, etwa von Werken Friedericke Mayr&ouml;ckers, Elke Erbs, Paul Celans oder Edmond Jab&egrave;s?.</p>

Der Bestseller der letzten Saison war Gier.


Ein nützliches Wort, wirst du herausfinden. Hätte Mutter mit Franz Huber geschlafen (so hieß der »mysteriöse Liebhaber«, falls du das wissen willst, und ich glaube, das willst du: Er könnte dein Vater sein); hätte sie aus Gier mit Franz Huber geschlafen, wäre der Weg frei. Wenn es, wie du überzeugt bist, aus Eitelkeit geschah, wäre es immer noch einfach: Das gehört zur Existenz einer verheirateten Frau dazu. Ziehe jeden beliebigen Roman zu Rat: Sie musste ihre Erfahrungen machen. Aber beim Sex wie in der Meteorologie ist die Zahl der Partikel, die im Spiel sind, so hoch, dass eine genaue Verzeichnung ihrer Positionen und Geschwindigkeiten unmöglich ist.

Wie an ihre Geschichte herankommen? Weiß ich überhaupt, wie sie miteinander redeten? Heutzutage ist eine Sarabande ein langsamer Satz, aber sie war einmal ein sehr schneller Tanz. Es ist keine hübsche Geschichte. Macht der Familie keine Ehre. Und dass sie in Deutschland stattfand, ist keine Ausrede.

Sie heirateten im Juli 1926,


unser Vater (vielleicht) und unsere Mutter (immer unzweifelhaft). Josef Seifert und Frederika Wolgamot. Jetzt schon beschwerst du dich: Geh weiter zurück.

Aber ihre Annäherung ist deine Obsession, nicht meine. Ich weiß nichts darüber. Wo ich keine Ahnung habe, muss ich doch wohl den Mund halten?

»Im Gegenteil«, sagt Bob, »du kannst es ungetrübt von Fakten erzählen.«

Bob. Wenn er sich dazu herablässt, aus seiner Abstraktion herauszutreten, ist er sogar neugierig. Vor ein paar Tagen begann ich, die Kinderszenen wieder aufzuarbeiten. Bob rannte hinaus und kaufte Schumanns Gesamtwerk für Klavier. Wären es die Lieder gewesen, hätte es mich nicht überrascht. Wenn es einen Text gibt, findet Bob einen Eingang in die Musik. Versuchte er, an meiner Arbeit Interesse zu zeigen? Jetzt? Nach all diesen Jahren? Oder war es ein Kommentar auf meine Art zu spielen? Ich komme immer noch nicht mit der Romantik zurecht, jener Musik, die dir die Eingeweide zu einem Knäuel von undeutlichen, aber unendlichen Wünschen verknotet. Besser geht es mir dort, wo die Strenge der Begleithand den Flug der sprunghaften Liedmelodie regiert und stützt. Klare Linien. Transparente Struktur. Mein Weg in Vaters geistige Hierarchiegebäude? Meine Art, im Kloster zu sein, wie damals du, Andrea?

My Home is my castle,


zitierte unser Vater vor sich hin. Auf Englisch. Aber auch Schlösser haben ihre Hintertreppen, die immer direkt in den Zoo führen. Umso mehr das gewöhnliche Wohnhaus. Das war seine heimliche Angst: Während die Natur Sprünge macht, springt der Mensch nicht mit. So muss seine Existenz gerade das (höhere) Prinzip, durch das er lebt, verleugnen. So muss er sich auf alle viere begeben und aus seinem eigenen Körper immer noch mehr Verbindungen zur großen Kette alles Seienden ziehen, zitternd vor Lust auf das ätherische, subtile und unnahbare Mysterium.

Er stand am Fenster. Die große Sommersonne verblasste rasch. Das Auge des Osiris. Es erschienen violette Schatten, zusammen mit einem Lüftchen. Mit all diesem Gewicht, diesem Affentanz der Materie war es kein Wunder, dass die Sonne unterging. Aber dass sie wieder aufging und die Zeit ins Mysterium der Wiederkehr und des einzigen Augenblicks einschloss! Das Enorme des Lebens. War er stark genug, sich aus den Schlingen der Urschlange zu befreien, seinen Fuß auf ihren Kopf zu setzen und ihre Macht, ihre blinde Kraft zu beherrschen? Etwas in ihm misstraute seinem eigenen Willen. Seine junge Ehefrau stimmte ihm zu: Ein Ehemann sollte keinen Willen haben. Gerade als die Sonne den fernen Rand des Waldes berührte, wie von einer Klinge geschnitten, rief ihn Frederika.

»Richtig. Abendessen.«

Er trödelte. Ging zum Barometer und klopfte mit dem Finger gegen das Glas. Zu den Mahlzeiten war er unruhig. Das Regime der Zähne, das zu feste Fleisch. Er träumte davon, dem Fleisch zu entsagen, träumte von einer vegetarischen Reinheit, wo ihn der Vorgang des Verdauens selbst ins Licht hinaufziehen würde, in eine hellere Aura. Und Schluss mit der Furzerei! Aber er liebte seine Schweinekoteletts, seine Leberwurst, seine Bratwurst, seine Currywurst. Widerwillig ließ Josef sein Streben nach Reinheit fahren. Wie Frederika ihr Essen schlang. Ihr ganzes Wesen kam in ihrem Mund zusammen. Zähne und Lippen übten ihre tödliche Liebkosung. Der Schlund erstickte die schreienden Stücke. Er konnte fast sehen, wie sie sich gleich ihm zuwenden würde, eine unbefriedigte Raubkatze. Am Ende der Mahlzeit zitterten seine Knie, aber er stand kurz davor, sich auf sie zu werfen. Die Angst ließ sein Bindegewebe anschwellen.

Frederika klapperte mit dem Geschirr, wischte den Tisch ab. Eine Schlacht, und das nasse Tuch kannte keine Gnade. Als Josef von hinten seine Arme um sie schlang, stützte sie sich mit den Armen gegen den Tisch ab:

»Alles zu seiner Zeit.«

Federte ihn mit ihrem energischen Hintern ab.

Was konnte er da tun


als seine Genitalien kratzen und zu seinen Karten zurücktrotten, wo die Materie sich in Gittern aus Kurven und Kreisen, Helices und Spiralen verflüchtigte, durch ihre drei Phasen getrieben, fest, flüssig und gasförmig, in Annäherung an die vier ätherischen Zustände. Wo der Lebensautomatismus des Körpers die Grundlage für Wille und Bewusstsein bildete, welche wiederum die Grundlage des Denkens waren. Wo die Kausalität das Geistige subsumierte, welches das Astrale subsumierte, welches das Elektrische subsumierte, welches das Chemische, wiederum, subsumierte.

Wo der dichte Körper umschlossen war: vom ätherischen Doppelgänger,

der ätherische Doppelgänger umschlossen war: vom Egoleib,

der Egoleib umschlossen war: vom Astralleib,

der Astralleib umschlossen war: vom Geistleib,

der Geistleib umschlossen war: vom Kausalleib,

der Kausalleib umschlossen war: vom

Leib der Seligkeit.

Leib der Seligkeit.

Dennoch muss es ein Sommer gewesen sein, in dem Haut auf feuchter Haut lag. Steigende Hitze. Licht, gegen brennende Wangen geworfen, zurückgerollte Augen, Hüllen, die zu platzen drohten, die Wucht einer Brandung, die die Tiefe in Aufruhr brachte. Sich spaltende Amöben, die Widersprüche der Natur nachäffend.

Josefs Schwanz segelte in einen blassrosa Sonnenuntergang, aber er fragte sich, warum Frederikas Speichel saurer schien, ihre Achseln salziger als seine eigenen. Wiederholung schaffte die Zeit nicht ab, auch nicht das Selbst. Während er sie anfiel, fühlte er seine Seele wie ein Seitenstechen. Ein ozeanisches Gewicht drückte auf sein Rückgrat. Er arbeitete sich ab, bis hinter seinen Augen eine bleierne Dunkelheit anschwoll und alles astrale Geflacker ausschaltete. Es waren Momente, die den Körper aushöhlten, der sich danach sehnte, sich in einer tieferen Lust zu verlieren, die die Seele bis ins Innerste durchdringen würde. Es ließ ihn geschlaucht zurück, unerfrischt, mit Sperma bedeckt wie mit Schuppen, wo er gerne Flügel entwickelt hätte.

Er konnte nicht gut darüber sprechen. Noch immer verängstigt, trotz des Segens von Kirche und Staat? Vor Gedanken, die zu deutlich werden könnten, wenn man sie in Worte fasste? Witterte er das Allerschlimmste: eine Spur Ungeduld? Eine Stille jenseits dessen, was die Anleitungen in Bezug auf weibliche Passivität erklärten? Ein Versteifen? Kleine Gegenwellen? Fluten der Ablehnung? Er nagelte sie fest, aber danach schlich sein Glied von ihrem Schenkel und verkroch sich in ihrer Verachtung. Bedenken oder der Anfang blinden Weitergehens? Wenn warme, gesättigte Luft über eine kalte Fläche geht, wie eine kalte Strömung im Meer oder ein Eisfeld, kann die Abkühlung einen dichten Nebel erzeugen....

Erscheint lt. Verlag 18.4.2021
Vorwort Ben Lerner
Sprache deutsch
Original-Titel The hanky of Pippin's daughter
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ann Cotten • Avantgarde • Ben Lerner • Bibliothek Suhrkamp 1518 • Briefroman • BS 1518 • BS1518 • Dichtung • Dreiecksbeziehung • Familiendrama • Gert-Jonke-Preis 2021 • Hugo-Ball-Preis 2017 • Klopstock-Preis 2015 • Lyrik • Modernismus • Nationalsozialismus • Nazideutschland • Nordamerika (USA und Kanada) • The Hanky of Pippin's Daughter deutsch • Vereinigte Staaten von Amerika USA
ISBN-10 3-518-76763-1 / 3518767631
ISBN-13 978-3-518-76763-4 / 9783518767634
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